Vom (un)barmherzigen Auge –
Wer das Licht einfängt, indem er die Schönheit des Schattens malt: Muhammad Zafzāfs (ein)prägende Art zu erzählen, wird, wer ihn gelesen, nie vergessen. Und es sind die Vergessenen, denen sich der Autor widmet, die „schweigende Mehrheit“ der Randfiguren auf den Straßen und Plätzen (nicht nur) Marokkos. Gammler, Schmuggler, Prostituierte, Bettler, … sogenannte einfache Menschen, die von Königreichen träumen, von Liebe … die gnadenlos sind, wie es nur Menschen sein können. Hartmut Fähndrich hat eine Auswahl dieser so eindringlichen Erzählungen ins Deutsche übertragen und ein Nachwort dazu geschrieben:
Im August 2002 wurde anlässlich des Kulturfestivals in Assîla in Nordmarokko von den marokkanischen Gastgebern die Einrichtung eines „Muhammad-Zafzāf -Romanpreises“ angekündigt, der alle zwei Jahre vergeben werden solle. Inzwischen als eine Preiskategorie in den marokkanischen Literaturpreis integriert, wurde dieser Preis mehreren bekannten Autoren und Autorinnen verliehen: dem Marokkaner Achmad al-Madîni (2018), dem Sudanesen Tajjib Sâlich (2002), dem Syrer Hanna Mîna (2010), dem Libyer Ibrahim al-Koni (2005), dem Marokkaner Mubârak Rabî (2008), der Palästinenserin Sahar Khalifa (2013), dem Tunesier Hassûna al-Mosbahi (2016). Erinnert werden soll damit an einen Autor, der im Jahre zuvor gestorben und zu Lebzeiten nicht bei allen angesehen war.
Muhammad Zafzāf gehört zu einer Gruppe von marokkanischen Autoren, die durch zwei wichtige Kriterien gekennzeichnet sind:
Erstens haben sie ihre soziale und politische ebenso wie ihre literarische Prägung nach 1956 erhalten, als Marokko nach knapp 45 Jahren direkter und noch viel längerer indirekter französischer Kolonialherrschaft seine Unabhängigkeit (zurück)erhielt. An diesem Punkt änderte marokkanisches Schreiben sein thematisches Interesse: Nicht mehr die Konfrontation mit der Kolonialmacht war von primärer Bedeutung, sondern die Entwicklung des unabhängigen Landes und die Diskrepanz zwischen den Erwartungen und Versprechungen einerseits und der oft tristen Realität andrerseits – die Regierungszeit von König Hassan II (1961–1999), oft als „bleierne Jahre“ bezeichnet.
Zweitens haben sich diese marokkanischen Autoren und Autorinnen für ihre literarischen Werke der arabischen Sprache bedient, die in den Jahren zuvor kaum je als literarisches Ausdrucksmittel verwendet worden war. Es war in erster Linie die Sprache traditioneller (religiöser) Gelehrsamkeit. Deshalb und wegen der leichteren Zugänglichkeit des Französischen auf dem internationalen Buchmarkt sind französisch schreibende Autoren und Autorinnen (z. B. Driss Chraïbi, Tahar Ben Jelloun, Fatima Mernissi) allgemein bekannter als ihre arabisch schreibenden Kollegen. Auch die Werke Muhammad Zafzāf sind international kaum noch greifbar, obwohl er im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kontinuierlich Kurzgeschichten und kleine Romane veröffentlicht hat.
Muhammad Zafzāf [Safsâf] (auch Mohamed Zefzaf oder Muhammad Safsâf) ist 1945 in Sûk Arbaâ al-Gharb (Souk El Arbaa/Souk Larbaâ) geboren, hat Philosophie studiert, war einige Zeit als Oberschullehrer in Kénitra tätig, danach lebte er als Schriftsteller und Übersetzer aus dem Französischen ins Arabische in Casablanca, wo er im Alter von 56 Jahren am 13. Juli 2001 seinem Krebsleiden erlag, nachdem er schon Jahre von Frustration und Desillusion und dem daraus resultierenden Alkoholkonsum gezeichnet gewesen war.
Muhammad Zafzāf hat Prosatexte veröffentlicht, (kurze) Romane (etwa ein Dutzend) und Erzählungen (neun Sammelbände).
Auf wann genau in Marokko der Beginn der Kurzgeschichte anzusetzen sei – zur Zeit des Ersten Weltkriegs, also unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Franzosen im Jahre 1912, oder erst nach dem Zweiten Weltkrieg –, ist noch immer Gegenstand von Debatten. Muhammad Zafzāf begann nach dem „zweiten Anfang“ zu schreiben, wie die zehn Jahre vom Ende der 1950er bis zum Ende der 1960er Jahre mitunter genannt werden. Während der folgenden über 35 Jahre hat die marokkanische Literatur eine Entwicklung von einem ausgeprägten „Realismus“ zu einem Stil voller Fantastereien mit häufig ausgeprägter ironischer oder parodistischer Tendenz durchlaufen. Muhammad Zafzāf war an dieser Entwicklung beteiligt. Unterschieden hat er sich von vielen seiner Zeitgenossen durch sein fast manisches Interesse an Randfiguren, die er selbst in Interviews als „schweigende Mehrheit“ bezeichnete. Seine Erzählungen sind voller materiell und gesellschaftlich marginalisierter Figuren: Hippies, Prostituierte, Gammler, Schmuggler, arme Poeten, notleidende Bauern, Bewohner der bescheidenen Grossstadtviertel, Bettler, Krüppel und so weiter, eine Auswahl also, nicht gerade geeignet, einen freudvollen Blick der Obrigkeit auf den Autor zu lenken. Man hat ihn auch einen „verfemten Autor“ genannt, eine Bezeichnung, die er mit dem zehn Jahre älteren Muhammad Schukri (auch Mohamed Choukry) teilt. Beiden gelingt durch die Betrachtung der Welt vom Blickpunkt sehr einfacher Menschen aus, die sich schlecht und recht durchbringen, eine Umwertung oder Ironisierung vieler festverankerter Werte – marokkanischer, islamischer, menschlicher. Die Art, diese Menschen Tatsachen einfach feststellen, nicht umständlich reflektieren zu lassen, hat mitunter einen Pikaro-Effekt zur Folge, wo ernst Gesagtes komisch oder absurd wirkt, wo Scharfes seine Schärfe verliert.
Muhammad Zafzāf blickt in allen seinen Erzählungen und Romanen mit einem barmherzigen und einem unbarmherzigen Auge auf „sein“ Land, Marokko. Unbarmherzig ist das Auge, wo der Autor Verhältnisse anprangert, in denen die Menschen ihr Dasein fristen, Verhältnisse, die Gründe haben, hinter denen oft Personen und Institutionen stehen. Barmherzig ist das Auge, wo sein Blick auf die Menschen fällt, die Opfer dieser Verhältnisse sind, die versuchen, mit ihnen fertig zu werden und die nie ihren Traum von einem besseren Morgen aufgeben.
Doch das Interesse an „Randständigen“ hat dem Autor manchmal auch den Vorwurf eines gewissen larmoyanten Narzissmus eingetragen. Er schreibe über etwas, das in der marokkanischen Wirklichkeit marginal sei – eine Aussage, die im Lichte von Studien internationaler Organisationen und selbst im Lichte offizieller marokkanischer Berichte fast zynisch erscheint: Darin wird Marokko als eines der Länder mit der ausgeprägtesten materiellen und sozialen Ungleichheit geführt. Die Marginalisierung ist also kein marginales Phänomen.
Insgesamt gelten Muhammad Zafzāf Texte jedoch in thematischer, sprachlicher und stilistischer Hinsicht als bahnbrechend und wegweisend für die arabophone marokkanische Literatur. Es sind Geschichten voller Wärme und Bitterkeit, voller Ironie und Mitgefühl für die armen Hoffenden.
Muhammad Zafzāf war kein „Modernist“. Diesen Ausdruck verstehe er nicht, sagte er in einem Interview im Jahre 1995, und was beispielsweise der berühmte Dichter Adonis über die Moderne von sich gebe, sei nur Gebrabbel. Literarisches Schreiben sei für ihn zunächst ein vergnüglicher kreativer Akt mit dem primären Ziel, etwas mitzuteilen. Als zweites Ziel komme hinzu, Fehler oder Mängel aufzuzeigen, natürlich in der Hoffnung, zu deren Beseitigung beizutragen. Diese Funktion der Literatur finde sich schon bei Kalîla und Dimna, der alten Fabelsammlung, die, aus dem Indischen stammend, in der arabischen Welt (und später auch anderswo) einen bemerkenswerten Eindruck hinterlassen hat.
Letzte Änderung: 02.12.2024 | Erstellt am: 02.12.2024
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