Die Erzählung „Testamente“ von Joachim Zelter ist eine Parabel: Wer reich oder berühmt werden will, muss oft einen hohen Preis dafür zahlen, manchmal einen viel zu hohen. Armin Will erhält von seinem Onkel eine üppige Erbschaft, allerdings unter der Bedingung, sich eine Hand und später einen Fuß amputieren zu lassen. Die Erzählung schildert, wie Armin die Auflagen erfüllt, um seine finanziellen Probleme zu lösen. Dabei verliert er seine körperliche Unversehrtheit, und er wird unglücklich: Er vereinsamt und erkennt, dass ihn die Erbschaft psychisch und gesundheitlich ruiniert hat ‒ er verliert vor allem seine Seele.
Per Einschreiben erfuhr Armin Will von dem Tod seines Onkels. Die Kanzlei Manstein & Co. lud zur Testamentseröffnung. Es war weniger ein Erschrecken, das ihn bei dieser Nachricht befiel, als vielmehr ein Erstaunen: der Onkel tot. Zeitlebens war der Onkel unantastbar gewesen. Er hatte in jeder Hinsicht unsterblich gewirkt. Als könnte ein solcher Mensch gar nicht sterben, oder erst dann sterben, wenn alle anderen vor ihm gestorben sind und er ihnen dann nachfolgt. Nun war er also tot. Die Beerdigung lag schon einige Wochen zurück, und Armin war zu dieser Beerdigung nicht einmal eingeladen worden, und dies völlig zu Recht. Seit Jahren hatte er mit dem Onkel nichts mehr zu tun gehabt. Die beiden waren sich von Anfang an fremd gewesen, lebten in der allergrößten Abneigung voreinander. Der Onkel war immer ein Schreckbild für den Neffen gewesen, und der Neffe ein ständiges Ärgernis für den Onkel. Trotzdem wurde er in dem Testament nun berücksichtigt. Das beschämte ihn. Für Momente versuchte er sich an Bildern nahezu erloschener Erinnerungen: Wie er als Kind zusammen mit dem Onkel in einem Tretboot gesessen war und dieser ihm erklärt hatte, wie man einen bestimmten Punkt am Seeufer ansteuert. Der Onkel war über die Steuerkünste des Neffen regelrecht erbost gewesen. Keinerlei Orientierungssinn. Wo das alles nur hinführen solle, mit diesem Neffen.
Er ahnte bereits die Bemerkungen der Onkel-Familie, die nun mit Recht sagen könnte: Der Herr Neffe war nicht auf der Beerdigung und bekommt etwas vererbt. Wie das? Oder: Man will ihm etwas vererben, und er erscheint dann nicht einmal bei der Beerdigung. Weitere Bestätigungen dessen, wofür man Armin Will die ganze Zeit gehalten hatte und wohl immer noch hielt.
Er fand sich in der besagten Kanzlei ein. Herr Manstein persönlich führte ihn in einen Raum und überprüfte die Personalien. Er ließ Kaffee und Gebäck hereinbringen und eröffnete dann das Testament. Es war ein umfangreiches Testament, das er mit monotoner Stimme verlas: Eine Eigentumswohnung, die dem Neffen hinterlassen werden sollte, dazu ein Waldstück, ein Girokonto, Goldbarren, ein Aktienvermögen, eine Schreibmaschine und, und, und …
Das sei ein recht ansehnliches Erbe, so Herr Manstein, und er fügte hinzu, dass in der Verfügung des Onkels noch ein Zusatzparagraph enthalten sei. Er wisse nicht, ob er diesen Paragraphen gleich jetzt schon verlesen solle oder ob Armin das Testament erst daheim in aller Ruhe studieren wolle. Schließlich entschied er sich dafür, den Paragraphen schon jetzt zu verlesen, wonach dem Begünstigten beziehungsweise dem Vermächtnisnehmer, Armin Will, die genannten Vermögenswerte übertragen würden, vorbehaltlich der Voraussetzung, und er zitierte jetzt den Onkel, dass der Vermächtnisnehmer sich exakt zwischen der Handwurzel (Carpus) und Elle und Speiche (Ulna und Radius) die Hand abnehmen lasse. Der Eingriff sei durch persönliches Erscheinen in der Kanzlei Manstein & Co. oder bei einem vereidigten Arzt zu belegen. Es stehe dem Vermächtnisnehmer frei, sich die Hand operativ und unter Vollnarkose entfernen zu lassen – oder in einer anderen Form. Man gewährte dem Begünstigten für die Erbringung der genannten Voraussetzungen eine Frist von 21 Tagen. Sollte die Frist verstreichen, dann würde die Erbschaft verfallen. Soweit in groben Zügen das Testament.
Herr Manstein räumte ein, dass er dieses Testament gerne auch ohne derartige Fallstricke vorgetragen hätte. Das Verlesen von Testamenten gehöre eigentlich zu den schönsten Seiten seines Berufslebens. Nichts lieber als ahnungslosen Menschen dank großzügiger Verfügungen eine Freude zu bereiten. Er könne ad hoc nicht entscheiden, ob das vorliegende Testament des Onkels in jeder Hinsicht rechtens sei, ob hier nicht vielleicht sogar eine rechts- oder sittenwidrige Verwerflichkeit im Sinne von §§ 240 vorliege, die dem normalen Rechtsempfinden entgegenstehe. All das bedürfe der Befragung von Kollegen, der Konsultation von Gesetzen und Gesetzeskommentaren. Rechtsgutachten, die man einholen könne. Man könne ein derartiges Testament natürlich anfechten, zumindest Teile davon, doch wären damit das Testament und die damit verbundenen Vermögenswerte erst einmal unwirksam. Rechtswege seien langwierige Wege. Oft auch Irrwege. Er rate dazu, erst einmal in sich zu gehen und das Für und Wider des Testaments in Ruhe zu überdenken.
Zu Hause wartete Armins Frau, Johanna. Sie wartete – anders als sonst – einige Meter vor der Wohnung: Und? Wie war es? Welche Nachrichten bringe er mit. Was habe es mit diesem ominösen Testament auf sich.
Er wusste nicht, welche Seite des Testaments er zuerst darlegen sollte: zuerst die Vermögenswerte und dann die damit verbundenen Auflagen? Vielleicht auch gar nicht, wenn man schon von diesen Auflagen spricht, in allen Details davon sprechen, sondern erst einmal nur in vagen Andeutungen. Oder umgekehrt: Zuerst in aller Offenheit und Schonungslosigkeit die Erbschaftsauflagen darlegen, um dann in einem zweiten Teil die Vermögenswerte zu präsentieren? Je mehr er von diesen Werten auflistete (sogar noch ein Ferienhaus im Schwarzwald), desto überraschter wirkte sie. Ein derartiges Vermögen. Damit hatte sie nicht gerechnet.
Gleichzeitig wuchs ihre Empörung über diesen Zusatzparagraphen. Erst nach mehreren Anläufen hatte er es vermocht, ihr diesen Paragraphen wenigstens in groben Zügen vorzutragen. Ob der Onkel wahnsinnig sei. So Johanna. Dass ein solches Testament geschmacklos und gegen alle guten Sitten sei. Oder einfach nur ein schlechter Scherz. Würde er, Armin, auch nur einen Moment daran denken, eine solche Erbschaft anzunehmen, dann wäre er genau der, für den sein Onkel ihn offenbar halte: zu allem bereit, selbst noch dazu, eine derartige Verfügung überhaupt in Betracht zu ziehen. Armin pflichtete ihr bei, im Großen und Ganzen. Doch würde er die Erbschaft nicht annehmen, so seine Überlegung, dann wäre er womöglich ebenfalls genau der, für den der Onkel ihn all die Jahre gehalten hatte: ein Drückeberger, ein Feigling … – in finanziellen Fragen völlig unbewandert, wenn nicht sogar grob fahrlässig. Es wäre also letztendlich einerlei, was immer er auch mache. Oder nicht mache. Er könne die Erbschaft also genauso gut auch annehmen, wobei er keinen Moment an diese Möglichkeit dachte.
Sie saßen am Esszimmertisch und tranken eine Flasche Wein. Auf der Kommode stand eine Schreibmaschine, ausgerechnet eine Schreibmaschine, und er erinnerte sich nun daran, wie sehr der Onkel sich vor über 30 Jahren genau an diesem Punkt erregt hatte: Schreibmaschinen. Als Armin Will nach seinem Studium, es war ein sinnloses und brotloses Studium, doch immerhin es war ein Studium, als er nach seinem Studium auf die Idee gekommen war, mit einem Freund zusammen eine Werkstatt und ein Geschäft für Schreibmaschinen zu eröffnen. Er hatte eine Schwäche für Schreibmaschinen. Er mochte sie. Er hatte seine Hausarbeiten und Tagebücher auf ihnen geschrieben. Sogar einige Liebesbriefe. Schreibmaschinen schienen ihm damals wie eine Brücke zwischen Geist und Technik, zwischen Sprache und Maschine, zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
Sie versprachen ein Geschäftsleben. Selbst der Onkel, der Ingenieur gewesen war, hätte, so jedenfalls dachte Armin, einem solchen Vorhaben gegenüber nicht völlig abgeneigt sein dürfen. Jeder Student schrieb damals seine Hausarbeiten, seine Diplom- und Doktorarbeiten auf einer Schreibmaschine. Jeder Dozent, jeder Professor verfügte in dieser Zeit über eine oder gar mehrere Schreibmaschinen. Ob nun daheim oder in ihren Büros. Schreibmaschinen. Und in den Vorzimmern standen ebenfalls Schreibmaschinen. Die großen Bücher des 20. Jahrhunderts – sie waren geschrieben mit Schreibmaschinen. Gemäß dem Satz Leo Trotzkis, der einmal erklärt hatte: Sozialismus, das sei Elektrifizierung und Schreibmaschinen. Nichts sonst.
Wenn man an den Häusern der berühmten Professoren vorbeikam, dann hörte man das Klappern von Schreibmaschinen: das Auftreffen der Typen auf die Walzen, die helle Klingel, die wie ein Aufatmen erklang, wenn nicht gar wie ein Jubelton, sobald eine Zeile zu Ende geschrieben war. Bing. Es waren mechanische Schreibmaschinen und später dann elektrische Maschinen, die mit den Jahren immer eleganter und filigraner wurden.
Mit diesen Überlegungen hatte er sein Geschäft eröffnet. Er verkaufte die großen altehrwürdigen Marken, ob nun Adler, Triumph oder Olivetti – die Olivetti-Maschinen waren Inbilder von Eleganz. Sie waren wegweisend. Dazu verkaufte er Farbbänder, Korrekturbänder, Kohlepapier für Durchschläge, während sein Partner die Maschinen reparierte.
Wie sehr der Onkel sich über all das erregt hatte. So wie er sich davor schon über den Studiengang seines Neffen erregt hatte: Wie man ein solches Fach nur studieren könne. Wo das alles hinführen solle. Nun also auch noch Schreibmaschinen. Wer allen Ernstes noch daran denke, so etwas zu kaufen, geschweige denn reparieren zu lassen. Schreibmaschinen. Er hämmerte dieses Wort, als wäre er selbst eine Schreibmaschine, stanzte die Buchstaben mit lauter Stimme in die Luft. Für ihn war das ein Wahnsinn, im Jahr 1984 (dem Jahr von Orwells Schreckutopie) überhaupt auf eine solche Idee zu kommen. Man könne das Geld ebenso gut auf den Kompost werfen oder es im Wald vergraben. Schreibmaschinen. Ob der Neffe den Irrsinn nicht sehe.
Er sah es nicht. Im Gegenteil. Er fand immer neue Gründe, und sogar gute Gründe. Mit welcher Selbstverständlichkeit zum Beispiel ein Weltautor wie Paul Auster in seinen Romanen von Schreibmaschinen sprach, wie zum Beispiel in seiner berühmten New-York-Trilogie die Rede davon war, dass der Romanheld Daniel Quinn seine Romane auf Schreibmaschine schreibe – und dies in einem Roman aus dem Jahr 1987, ein Roman, der als Meilenstein der Postmoderne galt.
Mit eiligen Schritten durchlief Armin Will sein Geschäft, stellte die neuesten Modelle auf hell erleuchtete Podeste, hielt Vorträge über Walzen und revolutionäre Kugelköpfe, führte die Kunden von Maschine zu Maschine, demonstrierte bahnbrechende Neuerungen, zum Beispiel eine neuartige Korrekturtaste, mittels derer man mit einem einzigen Tastendruck Fehler korrigieren konnte. Einfach so. Wo sonst war das möglich.
Die ersten Geschäftsjahre waren noch ein Aufbäumen gewesen, dann ein Innehalten und Improvisieren, trotz des Geschäftsmottos: Sozialismus ist Elektrifizierung und Schreibmaschinen. Trotz Paul Auster. Trotz zahlreicher anderer Romanautoren und Romane, die ohne Schreibmaschinen womöglich gar nicht geschrieben worden wären. Keine noch so moderne elektrische Schreibmaschine kam gegen den Lauf der Zeit an. Man musste Kunden fast bedrängen, sich die neuesten Modelle wenigstens einmal anzuschauen. Sie schauten nicht. Oder sie schauten nur vorbei oder durch all die Maschinen hindurch. Man hätte sie aus der Ferne für Museumsbesucher halten können.
In der Zwischenzeit hatte er eine Buchhandlung angemietet. Damit versuchte er seine Familie ein wenig zu beruhigen: Die Buchhandlung sei keine Erweiterung oder Fortsetzung des Schreibmaschinengeschäfts, sondern etwas völlig anderes. Bücher seien keine Schreibmaschinen. Selbst wenn sie auf Schreibmaschinen geschrieben worden waren. Es gab nicht den geringsten Zweifel an deren Zukunft. Und an ihrer Vergangenheit. Ohne Bücher gäbe es überhaupt keine Vergangenheit. Ohne Bücher gäbe es am Ende überhaupt nichts, nicht einmal eine Vorstellung von irgendetwas. Und selbst wenn Bücher die Welt nicht verbessern, so helfen sie wenigstens, es darin besser auszuhalten. Was wäre die Welt ohne Bücher. Jeder braucht sie, und selbst wenn man sie nicht braucht, dann kauft man sie, und sei es nur, um sie zu verschenken.
Schon von klein auf hatte er Freude an Büchern gehabt. Ihre bloße Präsenz beruhigte ihn. Ein gefülltes Bücherregal war ihm wie eine zweite Hauswand, ein wärmender Schutzwall. Und es waren derartige Schutzwälle, die er nun in seiner neu eröffneten Buchhandlung aufbaute. Keine Seligkeit ohne Bücher. Er holte einen Kompagnon ins Geschäft, der Kapital für neue Regale einbrachte. Über der Eingangstür ließ Armin den Satz schreiben: Liber manet, manebit legeturque semper. Aber das Buch bleibt, wird bleiben und gelesen für immer. Wer könnte daran zweifeln. Niemand. Nicht einmal der Onkel könnte es.
Die Zusammenarbeit mit dem Kompagnon gestaltete sich schwierig. Er hatte keine Ahnung von Büchern. Womöglich hatte er noch nie in seinem Leben mit Aufmerksamkeit ein Buch vom Anfang bis zum Ende gelesen. Er überspielte das mit hochtrabenden Phrasen und Schlagworten. Mit dröhnender Stimme sprach er auf die Kunden ein, gab vor, jedes einzelne Buch in der Buchhandlung allen Ernstes gelesen zu haben, von Dantes Göttlicher Komödie bis hin zu Patrick Süskinds Das Parfum. Er orientierte sich dabei an den Schlagworten von Verlagsmitteilungen. Dieser Roman war welthaltig, jener ein Paukenschlag, Thomas Manns Zauberberg ein Bergroman, Orwells Farm der Tiere ein Tierkrimi. Hatte er von einem Roman überhaupt keine Vorstellung, dann war es ein starker, ein eindringlicher, ein packender Roman. Oder einfach nur ein Roman.
Als die Kunden ausblieben oder nicht mehr wiederkehrten, verlegte sich der Kompagnon auf die Gestaltung von Schaufenstern. Damit versuchte er, Passanten zu locken. Er häufte Sanddünen in ihnen auf oder breitete Grasflächen aus, nagelte Vogelhäuschen an die Wand, setzte zur Veranschaulichung bestimmter Bücher Hamster und Schildkröten aus. Bald wirkte das wie eine Tierhandlung. Alle Versuche, den Kompagnon zur Raison zu bringen, scheiterten. Auch Armins Ansinnen, den Kompagnon auszubezahlen. Seine Vorschläge diesbezüglich endeten in immer neuen Zerwürfnissen – oder in sinnlosen Versöhnungen oder heiligen Gelöbnissen, dass nun alles anders werde: besser, farbenfroher, lebendiger und größer. Keine Vogelhäuschen mehr. Dafür andere Häuschen. Armin Will konnte dagegen kaum ansprechen. Jede neue Idee des Kompagnons war ein weiterer Schaden, und alle Kraft, die er täglich aufbrachte, war eigentlich nur eine fortdauernde, täglich neu zu erbringende Schadensbegrenzung. Er steigerte seine finanziellen Angebote ins Unermessliche, bis der Kompagnon das immer wieder nachgebesserte Angebot irgendwann doch akzeptierte. Schweren Herzens. Er akzeptierte. Und Armin Will setzte sich erleichtert auf eine Bank.
Er wusste kaum, wie er dieses Geld jemals wieder abbezahlen sollte. Doch die Buchhandlung war nun seine. Nur das war wichtig. Er gestaltete die Schaufenster neu, renovierte und dekorierte, bestellte neue Bücher, und da das alles nichts nützte, die Kunden nach wie vor einen Bogen um den Laden machten, trotz aller Veränderungen, trotz aller Beteuerungen, dass der Kompagnon nun endgültig aus dem Haus war, trotz all dem zog er irgendwann mit der gesamten Buchhandlung in ein neues Gebäude, weit weg von dem Schreibmaschinenladen und von Hamstern geplagten Schaufenstern – diesmal mit einem neuen, fähigeren Kompagnon, der Geld bereitstellte, um die Ladenmiete zu bezahlen, die nun deutlich teurer war als alles Frühere. Alles wurde nun besser, aber auch teurer, die Miete, der Strom, die Heizung, die Versicherungen, das Benzin, die Busfahrkarten, das ganze Leben, teurer und immer teurer – nur nicht die Bücher. Sie wurden billiger. Und obgleich sie billig waren, blieben die Kunden weiterhin – zumindest zögerlich. Und je zögerlicher sie waren, desto öfter war von einem Umbau die Rede. Der neue Teilhaber, Rüdiger, erklärte: Das sei unvermeidlich. Ansonsten sei der Umzug nur halbherzig, weit entfernt von einer wirklichen Vollendung.
Ein Buchhandelsexperte sprach von weiträumigen Flächen, von Sofas und Sitzecken, von Bildern und Musik, von Saftpressen und Kaffeemaschinen. All das war bereits in Planung: die Umwandlung von Verkaufsflächen in ein Bistro, dazu ein Kuchenangebot und Lichtspiele. Während Johanna, seine Frau – neben all den Geschäftsproblemen – unter der Stille und Dunkelheit der Wohnung litt. Sie wünschte sich ein Leben, nicht irgendein Leben, sondern ein Leben zusammen mit Armin, nicht irgendwann, sondern jetzt, und wenn schon kein Leben mit ihm jetzt, dann wenigstens einige bunte Kissen, die man in der Wohnung verteilen könnte, wie Farbtupfer, dazu neue Tapeten mittels derer man die Zimmer aufhellen könnte. Sie wünschte und wünschte. Manchmal weinte sie und sagte, dass man sich bei all den Sorgen um das Geschäft irgendwann auch einmal belohnen müsse. Das Leben könne doch nicht nur aus Opfern und Entbehrungen bestehen – irgendwann müsse man sich für all das belohnen. Und sei es nur, ein einziges Mal zusammen nach Amerika zu fliegen: New York, die Niagara Wasserfälle, Florida. So wie sie sich das jahrelang erträumt hatten.
Also flogen sie. Hand in Hand gingen sie von ihrem Hotel zum Baden ans Meer oder fuhren in einem geliehenen Wagen durch endlose Landschaften, wie ein vorweggenommenes Aufatmen, ein Vordringen in ungeahnte Welten, und sie waren beide der Ansicht, dass ihre Aussichten eigentlich besser waren, als sie das all die Jahre gedacht hatten, trotz der Hotelpreise, trotz der schwierigen Lage der Buchhandlung, trotz all dem.
Sie bestiegen Sanddünen oder liefen Sonnenuntergängen entgegen, während ihn zu Hause bereits die neuesten Zahlen erwarteten, Zahlen und Nachzahlungen. Das jedenfalls eröffnete ihm sein Briefkasten, ein übervoller Briefkasten, in welchem er – neben anderen Briefen – einen Brief seines Bruders fand. Es war ein Hilferuf, da Wilhelm, sein Bruder, sich infolge einer umfangreichen Zahnbehandlung in Geldsorgen befand. Ob Armin ihm vorübergehend aushelfen könne. Der Bruder hatte anscheinend keinerlei Ersparnisse, sogar das genaue Gegenteil von Ersparnissen, und die Zahnbehandlung stand unter der ständigen Drohung, dass man ihm andernfalls Zähne ziehen müsse, sollte man nicht möglichst bald mit dieser Behandlung beginnen. Niemand konnte so etwas wollen. Armin überwies einen Betrag, weniger als der Bruder tatsächlich benötigte, doch hoffte er, ihm auf diesem Wege wenigstens ein bisschen helfen zu können.
Womöglich machte sich der Bruder über die Buchhandlung aber auch falsche Vorstellungen. Von wegen ein gut situiertes Geschäft. Von wegen Umsatzsteigerungen und prall gefüllte Bankkonten. Von wegen. Er wurde zu einem Gespräch in die Bank geladen. Man erörterte dort das Ausmaß der Abbuchungen und der Außenstände, den ganzen Schuldenstand. Die Zahnbehandlung des Bruders war darin noch gar nicht eingerechnet. Er versicherte der Bank, dass er die notwendigen Maßnahmen in die Wege leiten werde.
Wann?
Sobald wie möglich.
Er dachte an Veränderungen in den Schaufenstern und im Buchsortiment. Er dachte an Werbemaßnahmen und Zeitungsanzeigen. Er dachte von morgens bis abends. Doch welche Veränderungen er auch einleitete, sie wurden von anderen Veränderungen sofort wieder überlagert. Von allen Seiten brachen sie über ihn herein, noch bevor er irgendetwas Eigenes auf den Weg gebracht hatte: Veränderungen im Buchhandel, im Zwischenbuchhandel, in der Umsatzsteuer. Veränderungen über Veränderungen. Nur dass jede einzelne Veränderung immer eine Veränderung zu seinen Lasten war.
Sekundenweise erörterte er die Möglichkeit, gar nicht mehr am Leben zu sein. Was das für ihn bedeuten würde. Es wären Momente der Erleichterung und Ruhe. Keine Gespräche mehr mit der Bank. Kein Bitten, Betteln und Beschwichtigen mehr. Kein Bangen um Umsatzzahlen und Kreditlinien. Es wäre ein gelebter Ruhestand. Schon von klein auf hatte er diese Möglichkeit immer wieder bedacht: den Unerbittlichkeiten des Daseins einfach zu entschwinden. Ganz und gar Schluss zu machen. Sich von niemandem und nichts mehr bedrängen oder beschämen zu lassen. So nicht mehr weiterzuleben. Denn ein Mensch, der seinem Leben ein Ende setzt, er will ja nicht unbedingt sterben, sondern so nicht mehr weiterleben.
Im Vergleich dazu schien eine Hand fast eine Nebensächlichkeit, schon gar nicht mehr unbedingt eine Frage von existenzieller Tragweite. Er überschlug die infrage kommende Summe: 500.000 Euro. Vielleicht sogar noch ein wenig mehr. Damit könnte er – nach Abzug aller Steuern – seine Schulden begleichen und er wäre in der Bank ein neuer Mensch. Na also, würde man sagen. Es geht doch. Es wäre sogar noch ein wenig Geld übrig, um den Buchladen weiter zu renovieren. Er wollte mit seinem neuen Teilhaber, mit Rüdiger darüber sprechen, der ihn in eine Weinstube führte, wo sie sich stundenlang, fast ausgelassen und freundschaftlich in aller Offenheit unterhielten. Rüdiger wollte Armin in dieser Frage weder abraten noch zuraten, und ihn schon gar nicht zu irgendetwas drängen. Armin möge ohne jeden Zwang in sich gehen, das Für und Wider in aller Ruhe bedenken. Vielleicht ein Wochenende auf Sylt verbringen, oder an einem südlichen Gewässer.
Er entschied sich für ein Kurhotel im Schwarzwald, unternahm dort ausgiebige Spaziergänge, beruhigte Johanna damit, dass dieser Aufenthalt noch nichts zu bedeuten habe. Er wolle in sich gehen und nur auf sich hören, doch genau darüber erschrak Johanna am meisten, ahnte sie doch, dass, sollte er tatsächlich nur auf sich hören, er auf alles und jeden hörte, nur nicht auf sich selbst. Beim Gang durch den Kurort sah er eine kleine Buchhandlung und entdeckte dabei, dass das Wort Hand in Buchhandlung enthalten war. Ausgerechnet Hand. Was immer das zu bedeuten hatte. Ob das nur ein Zufall war? Oder ob der Onkel genau das von Anfang an gesehen hatte?
Für Momente dachte er an die Implikationen eines Lebens ohne Hand, und gelangte zu der Auffassung, dass ein solches Leben durchaus möglich sei, dass zahllose Menschen ohne Hand leben und dabei etwas bewirken können. Er telefonierte mit Rechtsanwalt Manstein, fragte ihn (vielleicht sogar mit einem Unterton von Hoffnung), ob es in dem Testament irgendeinen Hinweis darauf gebe, von welcher Hand für die Übertragung der Erbschaft überhaupt die Rede war: War es die Linke oder die Rechte? Wäre es die Rechte, dann könnte man damit durchaus leben, denn Armin war Linkshändler. Wie eine Trumpfkarte kam ihm dieser Umstand in den Sinn. Er bedachte es mit geballter Faust. Möglicherweise war das Testament in dieser Frage auch völlig offen und er könnte sich die betreffende Hand sogar aussuchen. Herr Manstein blätterte und blätterte und teilte ihm mit: Es sei die linke Hand.
Die linke Hand.
Auch das schien der Onkel bedacht zu haben. Es würde nicht zuletzt bedeuten, nicht mehr schreiben zu können, oder nur noch mit der größten Mühe. Er hätte sogar Schwierigkeiten, Unterschriften zu leisten. Stundenlang saß er im Hotelzimmer und probierte mit der rechten Hand Unterschriften. Als das in groben Zügen gelang, erkundigte er sich nach speziellen Kliniken, die in der Lage wären, einen solchen Eingriff durchzuführen: Handkliniken oder handchirurgische Einrichtungen. Man teilte ihm telefonisch mit, dass die Entfernung einer gesunden Hand nicht infrage komme, auch nicht durch Darlegung der testamentarischen Verfügung oder gegen Barzahlung. Es wurden Hörer aufgeknallt. Es wurden die Gespräche teils mitten im Satz abgebrochen.Als er sich später persönlich in einer Klinik einfand (mit einer Abschrift des Testaments), da wirkte der behandelnde Arzt weniger abweisend, weniger brüsk. Das sei ja allerhand. Er verstehe nun ein wenig die Hintergründe. Doch könne er als Arzt nur aus medizinischen Gründen einen derartigen Eingriff vornehmen. Sollten solche Gründe im Entferntesten vorliegen, dann könne man über einen Eingriff nachdenken. Doch man fand keinerlei Gründe, nicht einmal ansatzweise, auch nicht nach unzähligen Röntgenaufnahmen.
In einer kleinen Stadt in Ungarn fand er schließlich eine Klinik, die man ihm empfohlen hatte und die bereit war, den Eingriff vorzunehmen. Herr Manstein überreichte ihm vor der Abreise eine Art anatomische Blaupause, die dem Testament beigelegt war und die er den Chirurgen vor der Operation übergeben sollte. Manstein wünschte für den Eingriff das Allerbeste.
Letzte Änderung: 05.12.2025 | Erstellt am: 05.12.2025
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