Franz Kafka: Sprache, die den Tod überlebt

Franz Kafka: Sprache, die den Tod überlebt

100. Jubiläum Franz Kafka
Passfoto Franz Kafka | © Nationalbibliothek Israel

Der Todestag von Franz Kafka jährt sich am 3. Juni 2024 zum 100. Mal, während Kafkas Stimme nicht das Geringste an Kraft verloren hat. Lesende, Schreibende und Forschende nehmen sich dies zum Anlass, um Kafka wieder- und weiterzulesen. Erst nach Franz Kafkas Tod gab Max Brod 1920 posthum einen kurzen Text heraus, den er als „Kleine Fabel“ betitelte. Sarah C. Schuster zeigt anhand ihrer Lektüre, was Franz Kafka über den Tod zu sagen hat und warum er nicht das Ende ist.

Am Anfang der kurzen Erzählung aus dem Nachlass Franz Kafkas, die Max Brod bei der Erstpublikation im Band Beim Bau der chinesischen Mauer – Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß 1 als Kleine Fabel betitelte, steht ein Ach. Genauer gesagt, steht am Anfang des Textes ein A, so wie ein A am Anfang des Wortes Anfang selbst steht. Das Ach bildet den Anfang einer Erzählung, in der eine Maus ihr Ende findet, indem sie von einer Katze gefressen wird:

„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.2

Mit dem Ach eröffnet die Maus sowohl die Erzählung Kafkas als auch ihre eigene Erzählung innerhalb des Textes, indem sie erzählt, was sie tut. Die Maus läuft, und zwar läuft sie sprechend. Sie durchläuft derart ihre eigene Sprache. In der Rede der Maus vollzieht sich der Lauf der Welt, den sie in der Bewegung des Laufens beschreibt. Indem die Maus läuft, läuft die Welt gleichermaßen mit ihr. Beda Allemann hat bereits auf zwei verschiedene Läufe innerhalb der Kleinen Fabel hingewiesen, nämlich auf Welt-Lauf und Lebens-Lauf, und auf deren Zusammenhang aufmerksam gemacht.

Von der Perspektivmetapher in Form der so schnell aufeinander zueilenden Mauern ausgehend, schlussfolgert Allemann: Die Mauern werden, was immer sie „eigentlich“ bedeuten mögen, zu Chiffren des Welt-Laufs überhaupt, der zudem in unmittelbarster Interdependenz mit dem (Lebens-)Lauf der Maus steht.3 Dem Eindruck, parallel verlaufende Mauern liefen in Richtung eines gemeinsamen Punktes zusammen, liegt ein aus der Optik bekanntes Phänomen zugrunde, der Fluchtpunkt. Die in der Optik definierten Eigenschaften des Fluchtpunktes sind jedoch in seinem metaphorischen Gebrauch innerhalb der Kleinen Fabel nicht entscheidend, denn wo sich die zum Fluchtpunkt laufenden Linien niemals schneiden könnten, entsteht im Text ein Winkel, und zwar ein Winkel im letzten Zimmer. Der Lauf der Mauern, der Lauf der Maus wie auch der Lauf der Welt, in der sich Mauern und Maus befinden, sind gleichgerichtete Bewegungen, die sich innerhalb der sprachlichen Bewegung der Maus vollziehen. Die Welt der Maus, sowohl die Dinge in der Welt als auch die Maus selbst, sind sprachlich strukturiert. Die Maus spricht, lebt durch ihr Sprechen in einer sprachlichen Welt und geht in der Sprache zu Ende.

Der Fluchtpunkt, wie er in der Kleinen Fabel zu denken ist, ist keine perspektivische Täuschung, sondern sowohl der Punkt, auf den die Fluchtbewegung der Maus gerichtet ist, als auch das Ende dieser Bewegung. Franz Kafka schreibt zur Bewegung der Flucht in Beziehung zur Welt: Wie kann man sich über die Welt freuen, außer wenn man zu ihr flüchtet? 4 Von einer Fluchtbewegung der Maus kann nur in dem Maße die Rede sein, in dem sie nicht von der Welt flüchtet, sondern zu ihr. Derart ist die Maus glücklich, daß [sie] endlich rechts und links in der Ferne Mauern [sieht],5 denn die Mauern können nicht nur als Chiffren des Welt-Laufs überhaupt gelesen werden, sondern sind in erster Linie Mauern, die einen Teil des letzten Zimmers bilden. Sie sind dementsprechend Mauern eines Hauses. Sowohl das Zimmer als auch das Haus sind Zufluchtsorte in der Welt. Sie sind aber nicht nur Orte der Zuflucht, sondern auch eine Möglichkeit des Sich-Flüchtens in die Welt, denn das Zimmer verweist nicht nur auf ein Haus, wodurch das Zimmer erst als Zimmer bestimmt werden kann, sondern darüber hinaus auf eine mögliche Gesellschaft und also die mögliche Anwesenheit eines Anderen. Flüchtet man zur Welt, flüchtet man zum Anderen in der Welt und zur Welt als Anderem.

Die Laufrichtung der Maus ist durch ihre Sprache bestimmt, die an einen Anderen, wenn auch möglicherweise unbestimmten oder unbestimmbaren Anderen, adressiert ist. Alle Sprache, so schreibt Werner Hamacher in einer Studie zur Struktur der Sprache als Gebet, sofern sie der Zukunft zugewandt, Intention auf ein Anderes und somit Intention auf eine andere Sprache und vielleicht etwas anderes als Sprache ist, muß in dieser Weise als Gebet strukturiert, sie muß, im Grunde, ein Seufzen sein.6 So wie die Sprache immer auf den Anderen gerichtet ist, läuft die Maus notwendigerweise in Richtung des Anderen in der Kleinen Fabel, nämlich der Katze. Indem die Maus spricht, spricht sie immer zum Anderen, doch spricht sie nicht zur Katze als Anderem, sondern über die Grenzen des Textes hinaus zu jedem möglichen Anderen in jeder möglichen Welt. Das ultimum refugium des Ichs ist die Sprache selbst. Die Sprache des Ichs ist wiederum erst dann Sprache und die Maus wird erst dann zur Sprechenden, wenn die Katze die Sprache der Maus hört: wenn sie insbesondere das Ach in dieser Sprache hört und sich als die Hörende des Seufzens offenbart.

Durch die Sprache gelangt die Maus an den Ort der Begegnung zwischen ihr als Selbst und der Katze als Anderem, und zwar im letzten Zimmer. In der leicht abweichenden Fassung des Textes aus dem Nachlass ist an Stelle des letzten Zimmers noch von dem mir bestimmten Zimmer der Maus die Rede. Bei einer vergleichenden Lektüre beider Fassungen ist auch in der Formulierung des mir bestimmten Zimmers ein Ende lesbar, und zwar ein Ende im Sinne der Vollendung einer schicksalhaften Bewegung durch die Ankunft des Ichs an dem für es vorherbestimmten Ort. Diese Lesart ließe jedoch die Frage offen, durch wen oder was das Zimmer als vorherbestimmter Ort ausgezeichnet wird. An der Änderung zum letzten Zimmer lässt sich ablesen, dass das letzte Zimmer der letzte Ort für die Existenz der Maus überhaupt ist, und zwar ohne einen Raum zu lassen, der Schlüsse von der Welt der Kleinen Fabel auf die innere Welt der Maus zuließe.

Es spielt weniger eine Rolle, warum es für die Maus das letzte Zimmer ist, als vielmehr, dass es das letzte Zimmer ist. Fern von einer psychologisierenden Deutung kann vielleicht vom letzten Zimmer gesagt werden, dass es derjenige Ort ist, an dem die sprachliche Bewegung der Maus zum Stillstand kommt. Die Wahrnehmung der äußeren Lage der Dinge als Indiz für die innere Gefühlslage der Maus hingegen bleibt nicht nur spekulativ, sondern zeigt sich als mit dem Denken Franz Kafkas unvereinbar:

Was in der körperlichen Welt lächerlich ist, ist in der geistigen möglich. […] Wie kläglich ist meine Selbstkenntnis, verglichen etwa mit meiner Kenntnis meines Zimmers. (Abend.) Warum? Es gibt keine Beobachtungen der innern Welt, so wie es eine der äußern gibt. Psychologie ist wahrscheinlich in der Gänze ein Anthropomorphismus, ein Annagen der Grenzen.7

Dadurch muss bezüglich der Kleinen Fabel auch Abstand von einer Deutung genommen werden, die aus der Begegnung zwischen Katze und Maus Auskunft über Verhaltensweisen des Menschen sucht. Bei Maus und Katze als Maus und Katze verbleibend, ist zunächst nichts sicher, nicht einmal, ob Katzen Mäuse fressen. Es ist möglich, aber nicht notwendigerweise der Fall. Obwohl es in der körperlichen Welt lächerlich scheint, dass eine Maus eine Katze frisst, ist dies in der geistigen Welt eine Möglichkeit, die sich jedoch gemäß dem Schluss der Kleinen Fabel nicht realisiert. Ebenso verhält es sich mit der Rede der Katze: Du mußt nur die Laufrichtung ändern.8 Herauszufinden, durch welchen seelischen Beweggrund die Katze sich zu sprechen veranlasst sieht, sei es Bosheit, Hilfsbereitschaft oder Anderweitiges, scheint auch an dieser Stelle unmöglich zu sein und darüber hinaus wenig hilfreich. Auch hier ist es wichtig, dass überhaupt gesprochen wird und was durch die Worte der Katze gesagt ist.

Dadurch, dass die Katze spricht, wird die Lebensdauer der Maus um die Worte der Katze erweitert. Solange die Katze spricht, bleibt die Maus am Leben. Die Kleine Fabel umfasst im Ganzen zwei Sätze. Von diesen zwei Sätzen ist jeweils ein Satz Rede der Maus und ein Satz Rede der Katze, ergänzt durch die anschließende Explikation des Erzählers sagte die Maus bzw. sagte die Katze und fraß sie, die Maus. Die Lebensdauer der Maus umfasst in toto die Dauer dieser zwei Sätze. Dies deutet zugleich darauf hin, dass die Sprache von Maus und Katze nicht anhand eines chronometrischen Zeitbegriffs bemessen werden kann. Die Dauer der sprachlichen Bewegung kann sowohl Augenblick als auch Ewigkeit sein. Für die Maus ergibt sich daraus die Konsequenz, dass ihr Leben sich nicht durch das Vergehen von Zeit als vergänglich erweist, sondern durch den Fortgang einer sprachlichen Bewegung, die sowohl die Maus als auch die Welt bewegt.

Es ist durchaus möglich, dass die Maus im Anschluss an die Rede der Katze ihre Laufrichtung ändert, doch nur, insofern man die Laufrichtung differenziert betrachtet. Aufgrund der metaphorischen Verknüpfung von Lauf und Lebenslauf zeugt auch der Begriff der Laufrichtung von einer Doppeldeutigkeit, die sowohl die Richtung des Laufes der Maus im letzten Zimmer als auch die Richtung des Lebens von Geburt hin zum Tod bedeuten kann. Die Maus kann ihre Laufrichtung im Raum ändern, ohne ihre Laufrichtung des Lebens zu ändern, indem sie das letzte Zimmer nicht auf kürzestem Wege, sondern gleich einem Labyrinth durchläuft. Der labyrinthische Lauf kann aber nur als Verzögerung gelten, denn Kafka gemäß gibt es ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.9 Der Lebenslauf der Maus ist auch immer ein Sterbenslauf, eine Verzögerung innerhalb eines Zu-Ende-Gehens des Lebens und der Welt. Durch die Sprache spricht sich die Maus nicht nur ihrem eigenen Ende entgegen, ihr Sprechen ist zugleich ein Zu-Ende-Sprechen ihrer Sprache und ihrer selbst in der Sprache.

Das letzte Zimmer ist der Ort, an dem der Lauf der Maus endet. Als die letzte Räumlichkeit überhaupt kann es gewissermaßen als Grabkammer oder Grab gelesen werden. Der Lauf der Maus ins letzte Zimmer erinnert an eine Rede Hiobs im Buch Hiob aus dem Alten Testament, der nur noch das Grab vor sich sieht: Mein Odem ist schwach, und meine Tage sind abgekürzt; das Grab ist da.10 Dort heißt es weiter:

Wenn ich gleich lange harre, so ist doch bei den Toten mein Haus, und in der Finsternis ist mein Bett gemacht; die Verwesung heiße ich meinen Vater und die Würmer meine Mutter und meine Schwester: was soll ich denn harren? und wer achtet mein Hoffen? Hinunter zu den Toten wird es fahren und wird mit mir in dem Staub liegen.11

Die Kleine Fabel lässt nicht nur Maus und Katze sprechen, sie spricht auch durch dasjenige, was sich in ihr vollzieht. Die Sprache des Textes verkündet Hiobsbotschaften, indem sie bezüglich ihrer eigenen Struktur die Vergänglichkeit anhand des Gehens, die Flüchtigkeit anhand des Fluchtpunktes und die Endlichkeit anhand des letzten Zimmers kundtut. Das letzte Zimmer ist dabei nicht nur Zeichen für die Endlichkeit des Raums, sondern ist selbst der Raum, in dem die Maus ihre eigene Sterblichkeit erfährt.

Die Falle in der Kleinen Fabel kann derart als Zerfall im Sinne eines Zerfallens der Sprache beschrieben werden, der dieser eingeschrieben ist und seit Beginn der Rede der Maus durch das Sprechen kontinuierlich fortschreitet. Die Maus durchläuft, indem sie spricht, permanent ihre eigene Sterblichkeit. Die Falle im Winkel des letzten Zimmers ist dort zu finden, wo die Welt der Maus endet. Das Ende aber, in dessen Richtung die Maus läuft, ist sicher, aber unsichtbar, unvorhersehbar, keinem prognostischen Bewußtsein zugänglich und unabwendbar – wie der
Tod.12
Da der Tod als Möglichkeit erst dann wirken kann, wenn er eingetroffen ist, bedeutet dies wiederum im Hinblick auf die Falle, dass gar nicht von der Falle die Rede sein kann, und schon gar nicht von derjenigen, die sichtbar und vorhersehbar ist, sondern virtuell von einer unendlichen Vielzahl möglicher Fallen. Es gibt so viele Fallen für die Maus, wie es für sie Möglichkeiten gibt, zu sprechen. Die von der Maus anvisierte Falle im Winkel wird durch den unvorhersehbaren Einfall der Katze als scheinbare Falle offenbart und dadurch als Falle hinfällig. Von der Katze gefressen zu werden, ist nur eine Möglichkeit, die sich aus einer Unendlichkeit an Möglichkeiten realisiert. Realisieren können hat sie sich aber vor allem deswegen, weil sie als ein unwissbares Ende noch jedes zuvor scheinbare Ende durchkreuzt. Die Katze ist das Unerwartete, das wartet, und zwar unvorhersehbar wie der Tod. Sie ist nicht nur das Ende der Maus im letzten Zimmer, sondern sie ist das endgültige Ende der Maus, das allen anderen Enden zuvorkommt.

Das Ende der Maus, und darin eingeschlossen ist in gewisser Weise die Maus selbst, ist fortan durch die Katze und durch die Sprache der Katze in der Welt anwesend. In ihrem Zuvorkommen definiert die Katze das Ende der Maus als allen anderen Enden vorzeitiges Ende, das durch seine Definition so lange als Ende fortdauert, wie von ihm die Rede sein kann. Die Endgültigkeit des Endes der Maus ist derart ihrerseits abhängig vom Fortgang der Sprache selbst, denn solange es Sprache gibt, kann kein Sprecher, selbst wenn seine Sprache endet, jemals vollkommen enden. Vielmehr wird das Ende des Selbst als etwas anderes im Anderen fortgesetzt.

Was sich in der Kleinen Fabel den Anschein eines Gesprächs zwischen Maus und Katze gibt, ist eigentlich eine Berührung zwischen Maus und Katze innerhalb eines Gebets, nämlich des Gebets der Maus im Angesicht ihres eigenen Endes. Indem die Katze die Klage der Maus hört, offenbart sich dieses Ende nicht als eine Falle im Winkel, zumindest nicht als diejenige, die von der Maus als solche vorhergesehen wird. Anstatt einer Zukunft des Laufens in die Falle im Winkel öffnet sich die Zukunft der Maus aufgrund der Katze, die die Sprache der Maus vernimmt, auf die Möglichkeit anderer Zukünfte und also anderer möglicher Fallen. Die Sprache der Maus als Gebet endet, indem die Katze die Maus nicht nur hört, sondern ihr aufmerksam zuhört, so wie jedes Gebet durch seine Erhörung aufhört, Gebet zu sein.

Das Gebet der Maus beginnt mit einem Ach und endet mit dessen Erhörung. Das Ach ist selber nicht nur Anfang einer der Zukunft zugewandten Rede der Maus, es verweist darüber hinaus als ein Seufzen auch auf ein Weh, auf den Schmerz der in Geburtswehen 13 liegenden Schöpfung. Der Anfang des Endes der Maus beginnt mit einer Geburtswehe der Welt und endet in einer fremden Öffnung, nämlich dem Maul der Katze. So wie die Rede der Maus ein Anfang ist, durch den das Ach gleichermaßen als Alpha zum Ausdruck kommt, ist das Maul der Katze eine Öffnung als Ende, ein Omega. Durch das Maul der Katze vollzieht sich die letzte Wehe der Welt als eine Vollendung der Geburtsbewegung der Maus im Tod. Der Tod der Maus zeigt sich dabei als eine finale Entspannung jeglichen Muskels, der zum Ausdruck von Sprache notwendig ist, sei es auf verbale oder nonverbale Weise anhand von Gestik oder Mimik. Der Lebenslauf der Maus kommt so durch die Unmöglichkeit der Fortsetzung einer sprachlichen Bewegung im Tod zum Stillstand.

Als eine Warnung vor der Sprachlosigkeit kann folgende Rede Hiobs gelesen werden: Bin ich gottlos, dann wehe mir!14 Ohne Gott sein, das heißt bei Hiob: ohne lógos, also ohne Sprache sein. Bin ich sprachlos, bedroht mich potenziell alles, selbst das, was sich bis dato noch nicht in Sprache fassen lässt, als drohendes Unvorstellbares. Die unbestimmte Formel: Wehe mir! der Warnung berührt ins Künftige sprechend bereits das Unaussprechliche, nämlich die Sprachlosigkeit selbst. An dem Punkt in der Kleinen Fabel angekommen, an dem sich Katze und Maus im Akt des Fressens berühren, wird die Maus selbst zur Sprachlosen. Die Katze frisst jedoch nicht nur die Maus, sondern fraß sie. Sie wird die Maus bei wiederholter Lektüre immer schon gefressen haben. Die Katze fraß sie derart immer wieder aufs Neue. Die Sprache der Maus zeigt sich als eine Sprache, die immer wieder keine Sprache mehr war und immer schon möglicherweise keine Sprache mehr sein wird; eine Prämisse der Sprache, die Werner Hamacher wie folgt beschreibt:

Wenn „Gebt acht“ das Incipit und die Invokation der Sprache ist, dann gibt es – so unerhört, inakzeptabel oder irrsinnig es klingen mag – keine, keine einzige, Sprache. Und wenn es sie dennoch geben sollte, so wird sie immer nur diejenige sein, die einmal keine gewesen ist und jederzeit keine mehr sein kann.15

Der Tod der Maus ist kein Schweigen, sondern Stille, denn die Maus verstummt nicht nur, sie wird im Tod sprachlos. Die Sprachlosigkeit der Maus bedeutet aber nicht auch das Ende der Sprache der Maus in der Welt. Vielmehr ist nicht nur die Maus durch das Maul der Katze in die Katze übergegangen, auch die Rede der Maus hat sich vermöge der auf die Maus gerichteten Aufmerksamkeit in die Katze übersetzt. Das Katzenmaul ist eine Mündung, in der die Sprache der Maus zwar endet, jedoch in dem Maße endet, dass sie in einer anderen, zukünftigen sprachlichen Bewegung der Katze mündet.

Die Sprache der Maus ist fortan zwar als eine andere Sprache der Maus, aber dennoch als Sprache der Maus, in der Erinnerung im Innern der Katze geborgen. Die Sprache der Maus wird zu einer Sprache der Maus im Anderen alteriert, wodurch sie in einer anderen Welt, nämlich der Welt der Katze, womöglich weiterspricht, ohne dass die Maus selbst weitersprechen kann. Die künftige Sprache der Katze jedoch wird durch den Tod der Maus zu einer künftigen Sprache ohne Zukunft, denn durch das Verschwinden der Maus als Anderer bleibt die Katze als das Einzige und Letzte in der Kleinen Fabel zurück. Ohne die Maus gibt es zwar immer noch eine Sprache der Katze, aber keine zukunftsträchtige Sprache der Katze. Indem die Kleine Fabel endet, endet nicht nur sowohl die Sprache als auch die Welt des Textes, sondern die Sprache überhaupt – und mit ihr die Welt.

Wenn von Anfang und Ende die Rede ist, sind Anfang und Ende niemals sicher, solange noch gesprochen wird. So ist Kafkas Text ein fremder Titel vorangestellt. Mit der Betitelung als Kleine Fabel gibt Max Brod Kafkas Text einen Gattungsnamen als Eigennamen, was sicherlich Gefahren für die Deutung des Textes mit sich bringt, vor allem, wenn es als Anreiz gesehen wird, die Kleine Fabel auf eine Moral zu reduzieren, die auf menschliche Verhaltensweisen gemünzt ist. Plausibler ist bezüglich der Dichtung Kafkas allerdings eine Lesart, bei der die Fabula im ursprünglichen Sinne, hergeleitet von fari (sprechen), als kurze Rede gelesen wird.16 Der fremde, posthum beigefügte Titel Kleine Fabel gleicht einer Grabschrift, die im Andenken Franz Kafkas dort vom Sprechen spricht, wo das Sprechen selbst vom Sprechen spricht. Er ist selbst die Andacht einer Sprache, und also einer sprachlichen Welt, die im Andenken weiterspricht, obwohl sie bereits zu Ende gegangen ist. Kafka schreibt zum Ende der Welt:

Zerstören können wir diese Welt nicht, denn wir haben sie nicht als etwas Selbstständiges aufgebaut, sondern haben uns in sie verirrt, noch mehr: diese Welt ist unsere Verirrung, als solche ist sie aber selbst ein Unzerstörbares, oder vielmehr etwas, das nur durch seine Zu-ende-führung, nicht durch Verzicht zerstört werden kann.17

Wie die Zu-Ende-Führung der Welt ist das Leben ein Sich-zu-Ende-Sprechen. Das Zu-Ende-Sprechen der Sprache des Selbst ist aber niemals uns selbst, sondern immer einem Anderen überlassen. Der Tod ist eine Möglichkeit in der Welt, doch muss der Tod als Möglichkeit gleichsam auch eine Unmöglichkeit bleiben, zumindest so lange, wie gesprochen – wie gedacht wird. Der Tod kommt als das Unerwartete, das warten muss, und zwar bis das letzte Andenken aufhört zu denken.

Letzte Änderung: 08.05.2024  |  Erstellt am: 04.05.2024

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