Die Last des Erlebten und was Frieden verlangt
Indra Wussow, Psychologin, Holocaust-Forscherin und Kuratorin aus Johannesburg, reflektiert in ihrem Essay die Auswirkungen zwischen Gewalt, Angst, Trauma und Erinnerung auf individuelle und kollektive Wahrnehmung. Ihr Text berührt, denn er versucht, das Unbegreifliche an sinnloser Gewalt begreifbar zu machen. Die Autorin fragt sich, wie sich der 7. Oktober auf das Gedenken des Holocausts auswirkt, und sie lässt nie die Opfer aus dem Auge, die stets auf beiden Seiten leiden müssen oder umkommen, zwar aus zwei verschiedenen Kulturen stammend, jedoch mit derselben Angst vor Gewalt und Tod, die in jedem Körper steckt und wach wird, wenn ein Mensch Bedrohung und Lebensgefahr spürt. Wussow beschreibt persönliche Begegnungen mit ihren Freunden in Israel und Südafrika, und sie betont, wie wichtig die Komplexität bei allen Konflikten dieser Welt ist ‒ durch Vereinfachung werde man Frieden und Heilung nicht herbeiführen, sondern durch Empathie und Bereitschaft zur Verantwortung auf persönlicher und kollektiver Ebene.
FADENSONNEN
über der grauschwarzen Ödnis,
Ein baum-
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.
- Paul Celan
Angst und Wahrnehmung
Unser Körper weiß es schon, lange bevor unser Verstand es erfährt. Unser Körper verkrampft sich, der Atem wird kürzer, der Puls verrät langsam die Wahrheit: Ja, nichts kann wirklich jemals vorbei sein. Jedwede Gewalt ruft unsere Erinnerungen wach, selbst dann, wenn wir endlich alles vergessen wollen.
Oft bemerke ich, wie Angst unsere Wahrnehmung verändert, wie leicht sie in all dem, was wir sehen, für eine chaotische Neuordnung sorgt. Jemand denkt, er sehe eine Person, doch plötzlich sieht er nur die Kategorie, den Typus dieser Person, weil das Gehirn den schnellsten Weg ins Stammhirn nimmt, um dem Angstimpuls zu folgen.
Ein strenger Grenzbeamter sagt: „Südafrika ist ein problematisches Land“, und mein Kollege Tumi wird auf einmal auch zu einer Kategorie. Dieser sanftmütige südafrikanische Mann an meiner Seite wird nun in die Rolle eines Verdächtigen gezwängt, und dieser Verdacht findet seine Prägung in der Geschichte, in der die Geschichte des Rassismus und der Apartheid im aktuellen Klima des Antisemitismus aufgeht und alle Begriffe hier miteinander verschmelzen.
Die Augen der erschrockenen Person unterscheiden nicht zwischen Freund und Fremdem. Ich begegne diesem Phänomen andauernd: Es prägt unser Zusammenleben. Es herrscht so großes Mißtrauen, dass ich mich immer wieder wundere, wie unscharf die Grenzen von Recht und Unrecht sind und wie schwierig es ist, uns nicht von unserem Bauchgefühl leiten zu lassen.
Ich bin oft in Israel, habe dort in Haifa studiert. Dieses Mal komme ich Anfang September 2025 für eine Konferenz über die Frage, wie der 7. Oktober das Gedenken des Holocausts beeinflusst.
Ich habe Tumi bewußt auf diese Reise mitgenommen. Vor Kurzem hat er seine Mutter verloren, und ich hatte das Gefühl, dass es ihm guttun könnte, seinem eigenen Schmerz Raum zu geben, nicht isoliert zu sein, sondern im Austausch zu bleiben, in diesem Fall mit unseren Freunden Yaron in Metula und Nava in Jerusalem, weil er dann ihnen zuhören, dem Dasein sehr nah sein könnte. Und vielleicht auch dem Land, das er kennenlernen könnte und das selbst viel Leid über all die Jahre ertragen hat und in dem Trauer, Verletzlichkeit und Zusammenhalt zum Alltag gehören.
Wie naiv von mir, ich habe nämlich damit nicht gerechnet, dass wir stundenlang in der Ankunftshalle des Flughafens warten müßten. Ein kaltes „Du Südafrikaner bist hier nicht willkommen“ machte mich aggressiv, und ich sah uns schon wieder mit Ethiopian Airlines auf dem Rückweg nach Addis. Schließlich wurden Tumis Reisedokumente doch noch anerkannt, und mitten in der Nacht verließen wir endlich den Flughafen. Erschöpft fahren wir dann auf einer leeren Autobahn durch die warme Dunkelheit nach Tel Aviv. Die Plakate mit den Geiseln wachen über unsere Fahrt, ihre Gesichter säumen den Weg wie eine Mahnwache. Ihre Abwesenheit ist zum Herzschlag der Nation geworden, wobei das Trauma ihrer Gefangenschaft das Land zusammenhält. Angesichts dieses fremden Leids kehrt bei Tumi die Erinnerung an den Geruch von brennenden Autoreifen und an die Angst von damals zurück. In den 1980er Jahren im Apartheid-Südafrika wurde Tumi als Teenager Opfer von Necklacing, ihm wurde ein brennender Autoreifen um den Hals gehängt, weil man ihn als Widerstandkämpfer identifizierte. Er wäre fast umgekommen und konnte sich nur deshalb retten, weil er für sich das Ballett, das Tanzen entdeckt hatte. Sein eigener Körper hatte ihn damals gerettet, denn der wußte, wie man überlebt.
Nir Oz und der unbeugsame Traum vom Frieden
Zwei Tage verbringen wir im Kibbuz Nir Oz im sogenannten Gaza Envelope. Wir stehen vor einer Fußmatte mit der Aufschrift No Place Like Home. Verdreckt und absurd nutzlos liegt sie immer noch an der Schwelle des zerstörten Hauses von Alex Danzig, in das Männer hereinbrachen, um zu töten. Das Wort „Zuhause“ ist untragbar geworden, Alex Danzig wurde nach Gaza verschleppt und überlebte seine Haft im Tunnel nicht, no place like home. Einst bedeutete das Zuhause Sicherheit, den Glauben daran, dass Kultur und die Regeln der zivilen Gesellschaft uns in unseren Häusern schützen könnten. Das Wort blieb zwar, aber seine Bedeutung wurde zerstört.
Wir leben in einer Welt, in der ein Holocaust-Forscher, ein Mann, der sein Leben Emmanuel Levinas’ Gebot der Nächstenliebe gewidmet hat, lange Zeit nach dem Holocaust so grausam behandelt werden konnte. In Nir Oz fühlt sich die Luft so an, als wäre auch sie verletzt, denn der Geruch von Metall und Rauch ist trotz der blühenden Natur geblieben. Nir bedeutet das gepflügte Feld, Oz Stärke, Widerstandskraft: ein Name in der Sprache der Hoffnung, aus der Vorstellung heraus, daß aus bearbeiteter Erde etwas Neues wachsen kann. Pioniergeist und die Suche nach einer besseren Gesellschaft waren die Grundlage dieses Ortes, und inmitten der Zerstörung ist, meine ich, diese Energie noch zu spüren, ein Memento mori der Hoffnung an einem Ort des Todes.
Shalom, der hebräische Wunsch nach Frieden, Ganzheitlichkeit und Vollständigkeit, leidet unter diesem Druck. Die shoresh (Sprachwurzel) sh-l-m verweist auf Vollständigkeit und Unversehrtheit, nicht nur auf die Abwesenheit von Gewalt. Durch die Begrüßung Shalom bestätigt man dem anderen Menschen, dass die Welt in Ordnung gebracht werden kann, dass es dafür nie zu spät ist. In einer Landschaft, in der jede Begegnung als Gefahr gedeutet werden kann, wirkt Shalom schmerzlich anspruchsvoll und wird zu einem Wunsch, der die Kluft zwischen endloser Gewalt und der Sehnsucht nach Frieden kaum zu überwinden vermag. Shalom wird daher zu einem hartnäckigen Wunsch, einem Segen und einem Lament zugleich.
Die Unschuld stirbt zuerst
Gibt es in diesem Drama nur Täter und Opfer und was ist Unschuld? Ich denke immer wieder an das entführte Baby Kfir, das uns und die Welt nicht mehr sehen kann, aber von unzähligen Augen weltweit betrachtet wird. Nicht nur für mich ist die Familie Bibas ein Symbol für die Grausamkeit des 7. Oktober geworden. Sobald ich ein Plakat mit Baby Kfir sehe, kommen mir die Tränen, ich bin dagegen wehrlos. Was ist denn mit der Welt los, in der ein Baby zum Sinnbild eines Kolonisten wird und seine Tötung gerechtfertigt und in Kauf genommen wird, weil Unschuld in Schuld umdefiniert wird?
Kfirs lächelnde Gesicht mit seinem lustigen Spielzeug auf dem Plakat vor dem zerstörten Haus seiner Familie ist unerträglich. Fast zwei Jahre nach dem Massaker stehen wir vor diesem Haus, und wissen, dass nur der Vater die Gefangenschaft in Gaza überlebt hat. Wie kann er jemals Frieden finden? In diesen Tagen scheint unser moralischer Kompass zu versagen. Ich möchte schreien, doch ich flüstere nur, da das Schreien nichts mehr ändern würde, weil es niemand hören will.
Während wir diesen Tatort des 7. Oktobers besichtigen, ist hinter einem Feld Gaza zu sehen. So nah und doch so weit weg. Es kommt zu einer Explosion, und Rauch steigt in den Himmel. Meine Freundin Erika zittert vor Angst, als sich die Erinnerung in ihrem Körper wieder bemerkbar macht. Das generationsübergreifende Gedächtnis, das Trauma der endlosen Luftangriffe und des jüngsten Krieges gegen den Iran rauben den Israelis den Schlaf und rufen in ihnen die Erinnerung an die schlimmsten Zeiten wach. Holocaust Überlebende in Ashkelon sind bei jedem dumpfen Einschlag gegen das Schlimmste gewappnet. Ihre Muskeln wissen, was das Heulen der Sirenen bedeutet. Der Psychologe Bessel van der Kolk fand heraus, dass die Körper Gewalt nicht vergessen: die Körper der Überlebenden ebenso wenig wie jene, in denen sich diese Erfahrungen intergenerational eingeschrieben haben und in Zeiten der Bedrohung wieder aktiviert werden. Das lässt sich hier kaum übersehen. Ich kann es hier jede Minute bezeugen, dass es so ist.
Wenn ich in Richtung Gaza schaue, weiß ich, dass es dort die gleiche verkörperte Erfahrung gibt, das gleiche Zittern, die gleiche Schlaflosigkeit. Die Kinder werden von einem Donner aufgeschreckt, der aber kein Donner ist. Jede Explosion dort wird zum Echo eines Lebens, das von nun an nie mehr von dieser Gewalt loskommt. Wir wissen nicht, wie viele der Toten Hamas-Kämpfer sind, wie viele Zivilisten. Menschen, die sich genauso wie wir hier nach Sicherheit, Versöhnung und einem Ausweg aus diesem Kreislauf sehnen. Dieses Leiden kennt keine Grenzen, nur Opfer und Überlebende. Die Körper verlieren beiderseits der Grenze ihr Gefühl von Sicherheit, auch wenn die Gewalterfahrungen in verschiedenen Sprachen erzählt werden.
Eine Verdichtung von Geschichte und Verletzbarkeit
Erlebte Gewalt kann niemals abstrakt verhandelt werden, weil unsere Körper die Erinnerungen tragen: Jahrhunderte der Diaspora, erlebte Verfolgung, den Zivilisationsbruch des Holocaust, auf der anderen Seite die Nakba. Diese Erfahrungen sind nicht vergangen, sie wirken fort, eingeschrieben in Körper, in Familiengeschichten, in kollektive Erinnerung, oder epigenetisch weitergegeben. In diesem Sinne ist dieses Land für alle seine Bewohner heilig: nicht unantastbar, nicht unschuldig, sondern auf schmerzhafte Weise verdichtet von Geschichte, Verantwortung und Verletzbarkeit. Die Antwort auf diesen Schmerz unterscheidet und spaltet das Land. Viele Israelis opponieren offen gegen die rechte Regierung und ihre gewaltsame Politik, trotz Krieg, trotz Angst, trotz Erschöpfung. Diese Stimmen sind so wichtig und zeigen, dass auch aus Trauma Frieden entstehen kann. Und doch geht es hier nicht nur um die Angst, die sich im Körper eingenistet hat, sondern um die unerschütterliche Hoffnung, dass diese Tragödie eines Tages enden wird und bessere Zeiten kommen werden.
Wiederkehr unter anderen Vorzeichen
Von Nir Oz aus fahren wir auf der Straße, die zum Nova Festivalgelände führt. Die Strecke ist berüchtigt, weil sie ein Epizentrum der Gewalt des 7. Oktober wurde, und heute sind hier mehr Geister als Autos unterwegs. Viele Festivalbesucher versuchten hier, in den Luftschutzräumen der Bushaltestellen ein schützendes Versteck zu finden, ohne zu wissen, dass die Angreifer bereits auf sie warteten und unter den Türen Gas hineinliessen. Sie wurden in diesen vermeintlichen Sicherheitsräumen vergast, flüchtend wiederum rannten sie ins offene Feuer der Gewehre. Wie kann es sein, dass nach dem Holocaust, nach Chelmno, Treblinka, Sobibor, Majdanek, Auschwitz, Juden erneut vergast werden? War es bloß Zufall, oder wollten die Mörder wiederholen, was niemals wiederholt werden sollte, um die Geschichte noch einmal zum Beben zu bringen? Dieser Gedanke ist unerträglich, er lastet schwer auf der Brust, dort wo Worte nicht mehr ankommen.
Nachts träume ich von diesen vergeblichen Verstecken am Straßenrand. Bei Tageslicht sehen sie fast friedlich aus, sie sind mit Blumen und Friedenszeichen bemalt wie gewöhnliche Hauswände in einer Stadt. Die Natur um sie herum hat bereits begonnen, wieder zu gesunden. Das Gras gewinnt die verbrannten Erdflächen zurück, der Himmel strahlt klar und endlos blau, als wollte die Welt uns vormachen, sie könnte sich nicht mehr an den Horror erinnern. Diese Gleichgültigkeit fühlt sich unerträglich an, da diese Schönheit trotz der erfahrenen Trauer stumm bleibt.
Später, in Haifa, beginnt unsere Konferenz über das Gedenken des Holocausts nach dem 7. Oktober, und nach dem emotionalen Erleben setzt das Nachdenken ein. Die Gespräche sind noch roh und bewegen sich zwischen Analyse und Klage. Nach einem Konferenztag treffen wir unsere Freunde Yaron und Eti mit ihrer Tochter Yael in einem arabischen Restaurant. Um uns herum sitzen Frauen mit Kopftuch und unterhalten sich in aller Ruhe, beachten uns kaum, wenn doch, schenken sie uns ein Lächeln. Yael, die Kunst studiert, fängt an zu weinen, als ich ihr erzähle, dass ich die Nova Stätte besucht habe. Sie zeigt mir auf dem Handy ihre Skulptur: eine riesige Sonnenblume. Sie hat sie für die Beerdigung der Eltern ihrer besten Freundin gemacht, beide waren beim Nova Festival getötet worden. Ich schliesse Yael in meine Arme, und ihr schlanker Körper bebt. Nachvollziehen ja, aber wie könnte ich mir jemals ihren Schmerz vorstellen? Die Sonnenblume ist strahlend und zugleich trotzig, ihre Blütenblätter strecken sich in den Himmel, der viel zu viel gesehen hat. Israel ist klein, und in dieser Nacht spüre ich es mehr denn je: Jeder ist hier Überlebender, jeder kennt Opfer des Massakers und niemand hier bleibt von den Wunden des 7. Oktober unberührt.
Am Ende der Konferenz in Haifa, besuchen uns Doron Livnat und seine Frau, die nicht nur Stifter des Holcaust Studies Master-Studienganges sind, sondern auch dieser Konferenz, weil Dorons Vater die Hölle von Auschwitz überlebte. Ihre Grosszügigkeit ist ungezwungen, und sie sind neugierig und wollen von uns wissen, wie wir als Experten des Holocaust über die Situation in Israel und in unseren Ländern denken. Vor allem wollen sie etwas über Südafrika erfahren, und ich wünschte, ich könnte ihnen eine hoffnungsvollere Antwort darauf geben können, wie dieses Land heute auf Israel reagiert. Doch unser Gespräch erinnert mich daran, dass auch dies ein entscheidender Teil unserer Arbeit ist: Brücken zu bauen, wo Politik und Schmerz sie zerbrochen haben. Dorons Offenheit, seine Bereitschaft zuzuhören und die eigene Familiengeschichte mit anderen zu teilen und dabei nie die Offenheit für andere Sichtweisen zu verlieren, ist so wichtig, um neue Brücken zu schaffen. Unsere Gespräche zeigen, dass Wissenschaft auf Verantwortung und Gegenseitigkeit angewiesen ist und dass dies nur durch Wissen möglich wird. Ich bemerke, dass wir mit der Zeit zu einer Art Familie zusammengewachsen sind. Es ist die Art von Familie, die ich am meisten schätze, weil man sich frei dafür entscheidet, einander zu unterstützen.
Man kann sagen, dass wir als Experten des Holocaust an die Schrecken, die Menschen einander zufügen, gewöhnt sind. Vor dem 7. Oktober glaubte ich, dass der Holocaust die Welt gelehrt hatte, was Hass anrichten könne. Doch wie kam es zu jener Verschiebung, in der Israel zunehmend durch antikoloniale Deutungsrahmen wahrgenommen wird, die in offenen Hass kippen und die Hamas in Teilen der Welt als Widerstand interpretieren? Ich denke an Polen und Juden, die in den Wäldern gegen die Nazis gekämpft haben, und daran, wofür das Wort „Widerstand“ damals stand. Heute zeigt sich, wie brüchig dieser Begriff geworden ist. Bilder von Leid, endlose Posts und verkürzte Narrative verschieben den moralischen Rahmen so, dass Täter und Opfer neu codiert werden. Die nationalsozialistische Vorstellung vom entmenschlichten Juden ist dabei nicht verschwunden, sie hat nur ihre Form verändert. Ihre Wiederkehr ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern eine gegenwärtige Erfahrung.
Was Gewalt hinterlässt
Der Sohn meines Freundes Yanko ist neunzehn und kämpft unfreiwillig in Gaza. Ariel möchte nach seinem Militärdienst Physik studieren, er fühlt sich mehr zu den Sternen hingezogen als zu Menschen. Ich stelle mir nun vor, wie er inmitten der Ruinen einen Blick in den Nachthimmel wirft, den gleichen Himmel, der keine Grenzen kennt, und dort vielleicht ein wenig Frieden findet. Wie gerne er den Kindern die Sterne gezeigt hätte, doch nun ist er gezwungen, auf sie zu schiessen. Zwei verschiedene Körper, der eine mit einem Gewehr, der andere mit einem Teleskop, und beide zu jung für die Last, die sie tragen.
Während eines Dinners in Ashkelon fühlt sich die Atmosphäre fast surreal an, wir sitzen in einem Restaurant am Yachthafen, den ich eher auf einer Ferieninsel in Spanien erwartet hätte als in einer Stadt, die von Raketen aus Gaza leicht zu erreichen ist. Wir lernen, dass wir in jedem Hotel nach Luftschutzbunkern Ausschau halten müssen, und ich frage mich, ob unser Bunker im Seitenflügel des neunten Stocks uns wirklich schützen würde, wenn eine Rakete einschlüge.
In dieser Nacht ertönt kein einziger Alarm, aber zur Überraschung meiner Freundin Chava erscheint ein anderer Besucher aus Gaza: ihr Sohn Naor, ein junger Rekrut, kommt vorbei, da er nach einer leichten Verletzung auf Kurzurlaub zu Hause ist. Der Wunsch jeder Soldatenmutter ist wahr geworden, denn für einen Moment weiss sie, dass ihr Kind in Sicherheit ist. Einige Tage später wird seine Einheit angegriffen, und zwei Kameraden kommen bei dem Angriff um. Naor ist untröstlich, er fühlt, er habe sie im Stich gelassen, weil er in ihrer dunkelsten Stunde nicht bei ihnen ist.
Zartheit gegen Zerstörung
Zurück in Tel Aviv ist das Brummen der Widersprüche in meinem Kopf lauter als der dichte Verkehr. Die Stadt hatte während der Angriffe aus dem Iran zahlreiche Bombentreffer erlitten, Menschen starben. Jetzt werden die Häuser zwar wiederaufgebaut, aber ihre Wunden sind immer noch offen sichtbar. Von meinem Balkon in der Allenby Road aus sehe ich die Baustelle der neuen Straßenbahnlinie und die Fassaden, die vor wenigen Wochen von den iranischen Drohnen getroffen und aufgerissen wurden. Die Kräne und Gerüste scheinen hier inmitten der Modernisierung neben Ruinen und Reparaturen an den getroffenen Häusern im Schwebezustand zu sein, als würde die Stadt zugleich das Überleben lernen und es sofort wieder verlernen. Ich sitze auf der Terrasse und blicke auf dieses seltsame Gleichgewicht, den Fortschritt, der sich seinen Weg durch die Zerstörung bahnt. Über meinem Bett hängt ein Foto der Künstlerin Dasha Pears: eine Frau verwandelt Origami Flugzeuge kraft ihrer Gedanken in Origami Tauben. Es ist ein mächtiges Symbol der Psychologie der Hoffnung, denn Vorstellungskraft ist eine wichtige Form des Widerstands.
Im Zug nach Jerusalem stelle ich fest, wie ruhig ich bin, obwohl Soldaten um mich herumsitzen, mit Gewehren zwischen den Knien. In Südafrika würde mir jetzt der Angstschweiss ausbrechen. Hier aber verschafft ihre Anwesenheit mir das Gefühl von Sicherheit. Es beschämt mich, wie einfach ich mich an dieses Amalgam aus Gewalt und Angst anpasse. Angst ist ansteckend, und Zugehörigkeit, wie es scheint, ebenso. Ich bin in die kollektive Wachsamkeit dieses Landes eingebunden, und ich spüre, wie schnell sich mein Körper an eine Welt anpassen möchte, in der Waffen Sicherheit bedeuten können.
Im ANU Museum, dem Museum jüdischer Geschichte in Tel Aviv, verwandelt eine Ausstellung zum 7. Oktober die Trauer in Kunst. Ich bin darauf vorbereitet, da ich vor meinem Besuch mit der Kuratorin gesprochen hatte. Das Museum ist voll mit Gruppen von Soldaten, und ich frage mich dann, wie sie ihre neueste Geschichte wahrnehmen, welche Aufgaben vor ihnen liegen und welche erledigt sind. Ihre Gesichter verraten mir nämlich nichts, sodass es meiner Fantasie überlassen worden ist, Antworten zu finden. Der Ausstellungsbereich, der dem 7. Oktober gewidmet war, hat kaum Besucher, und ich bin dankbar für diese Einsamkeit. Lior Shtejners Bild des geschlachteten Hirsches, der auf dem Körper einer jungen Frau lastet, ist niederschmetternd, und zugleich erklärt es, wie Gewalt und Tod auf uns lasten. Liors zwei Nichten sind beim Nova Festival getötet worden und das Gemälde macht die Trauer sichtbar, ist aber auch ein Bild der Hoffnung. Die Zartheit der Farben bildet einen Kontrast zur Schwere der Last. Könnte uns das Zarte aus der Schwere unseres Seins befreien, so wie Tumi im Tanz dem Schmerz für einen Moment sein Gewicht nahm?, frage ich mich.
Neben Shtejners Bild hängt ein aus Stofffragmenten vieler Armeeuniformen geflochtener Kranz. Keine vollständigen Uniformen, sondern Teile aus unterschiedlichen Kleidungsstücken, Spuren verschiedener Körper, verschiedener Einsätze, verschiedener Geschichten. Diese Fragmente tragen die Nähe zur körperlichen Realität des Krieges in sich: Zugehörigkeit, Gefahr, Verwundbarkeit, die Möglichkeit des Todes. Als Kranz zusammengefügt, werden sie zeigbar. Sie überführen vereinzelte körperliche Erfahrungen in eine Form kollektiver Erinnerung, die bleibt, während die einzelnen Körper fehlen. Die Uniform war nie nur Stoff. In ihren Fragmenten bleibt sie die materielle Verlängerung jener Körper, die sie getragen haben. Im Kranz verliert sie ihre Funktion, nicht aber ihre Bedeutung. Die Gewalt, die Verwundung, die Anspannung werden nicht dargestellt, sondern bewahrt, zusammengehalten, weitergegeben.
Als ich zurück ins Zentrum fahre, blicke ich kurz zur Seite, auf das Mittelmeer, das sich wie immer mit dem gleichen beruhigenden Blau ergießt und ausbreitet, als wäre nichts geschehen. Seine Oberfläche verspricht Frieden, die Illusion von Ewigkeit. Die Römer nannten es mare nostrum, unser Meer, als könnten wir es jemals besitzen, als könnte Wasser Partei ergreifen. Volleyball, Gelächter, Sonne. Der Körper täuscht Normalität vor, während das Herz die Vermissten zählt. Wie kann man bloß inmitten solcher Dissonanzen leben, ohne den Verstand oder das Mitgefühl zu verlieren?
Ich schaue auf den Horizont in gewisser Erwartung, dass sich die angekündigte Flottilla materialisiert. Aber diese Armada westlicher Voreingenommenheit bleibt eine fata morgana in meinem Kopf. Sie würde vier Wochen brauchen, um anzukommen, und als sie schließlich kam, war ich längst zurück in Südafrika. Mein Land ist leider zum Inbegriff antisemitischen Hasses geworden, der als dekolonialer Aktivismus verschleiert wird. Das schmerzt natürlich, auch weil kein Gespräch mehr möglich ist. Eine südafrikanische Schriftstellerin, die einst Stipendiatin meiner Kulturstiftung war, segelt jetzt mit der Flottilla, überzeugt davon, dass sie palästinensische Kinder vor der Aushungerung durch Israel rettet. Ihre Empörung ist zu Hass geworden, ihre Überzeugung zu Blindheit. Sie selbst sieht sich als gerecht, sie sei ein besserer Mensch als wir, weil sie für das Gute kämpfe. Sie ist die Retterin, und ich bin die Faschistin, weil ich mich weigere, Israel auszulöschen. Es ist traurig, dass moralische Gewissheit zu einem Akt der Gewalt verkommen kann, wenn sie ihre Neugier an Komplexität verliert.
Vielleicht ist es das, was mich am meisten verletzt: die mangelnde Neugier, die Uninteressiertheit und trotzdem das endlose Besserwissen. So viele öffentliche Diskussionen klingen dringlich, aber im Prinzip wollen sie nicht verstehen. Sie analysieren und erfassen die Machtverhältnisse, benennen Verbrechen, proben Schuldzuweisungen, vergessen aber zu fragen, wie Menschen innerhalb dieser Strukturen leben und all die Widersprüche, Loyalitäten und die Trauer ertragen, die zu keiner Ideologie passen.
Die Dämmerung bricht herein, das Meer verdunkelt sich, und die Lichter von Tel Aviv flackern auf. Irgendwo weit entfernt kreuzt ein anderes Schiff auf dem Gewässer, an Bord mit seiner eigenen Illusion von Rettung. Das Meer aber bewahrt sein Schweigen.
Gewalt ist nicht nur das, was Menschen einander antun, sondern auch das, was Angst unserer Wahrnehmung antut. Sie verengt den Blick, bis kaum noch Raum für Ambivalenz, für Zwischentöne, für andere Menschen bleibt.
Die Widerstandskraft der kleinen Gesten
Und doch habe ich inmitten dieser Verengung Gesten erlebt, die ihr etwas entgegensetzen. Keine großen Zeichen, sondern alltägliche Formen des Zusammenlebens: Lehrer, die weiterhin unterrichten, weil die Schule ein Ort bleiben soll, an dem Kinder nicht nur Angst oder Hass lernen. Menschen aus unterschiedlichen Gruppen, die sich im öffentlichen Raum begegnen, nebeneinander sitzen, miteinander sprechen. Freunde, die in der Seilbahn auf dem Weg zur Uni die Angst weglachen, nicht aus Verdrängung, sondern aus dem Bedürfnis heraus, ihre Verbindung aufrechtzuerhalten, obwohl alles unter ihnen so fragil geworden ist und sich in den verschiedenen sozialen, religiösen und politischen Wirklichkeiten dieser Region so viel Leid angesammelt hat.
In solchen Momenten zeigt sich, dass Zusammenleben nicht erst nach dem Ende der Gewalt beginnt, sondern inmitten von ihr immer wieder neu ausgehandelt wird.
Ich treffe Professor Chaim Saidoon, um mit ihm meine Kuratierung einer Ausstellung über den Holocaust in Nordafrika zu besprechen, und als erstes erinnert er mich daran, dass das Zusammenleben zwischen Juden und Muslimen in diesen Ländern einst gut funktioniert hat und für beide wichtig war. Dass das, was einst möglich gewesen ist, wieder möglich werden kann. Das sind die kleinen, aber bedeutsamen Trotzreaktionen gegen die Verzweiflung.
Ich kehre immer wieder zu einem Gedanken zurück: Psychologische Perspektiven gehören in die Auseinandersetzung mit Geschichte und Politik, nicht als sentimentale Geste, sondern aus einem Sinn für Wirklichkeit heraus. Jede Ideologie wirkt in menschlichen Körpern. Wenn Angst, Demütigung und der Wunsch nach Zugehörigkeit ausgeblendet bleiben, verkommt Ethik leicht zur bloßen Inszenierung. Hass wird dann anschlussfähig, ja beifallsfähig.
Angst hat ihren eigenen Geruch. Hoffnung aber auch. Und sie zeigt sich dort, wo Menschen trotz allem der Zartheit den Vorzug geben vor der Wut. Sie klingt in Worten wie Shalom mit, die heute zugleich Segen und Appell sind. Frieden erscheint mir unter diesen Bedingungen weniger als Vereinbarung, sondern eher als etwas Körperliches. Als ein Nervensystem, das langsam wieder Sicherheit lernt. Als eine Erinnerung daran, wie man in seinen Körper hineinatmet.
In diesem September scheint die Luft angehalten, als würde das Land auf etwas warten. Alles kreist um die Geiseln. Hoffnung ist zu einem überlebenswichtigen Ritual geworden: Menschen versammeln sich zu Mahnwachen, schreiben Namen auf Steine, zünden Kerzen an. Selbst jene, die längst aufgehört haben zu beten, flüstern Worte, die sie seit Jahren nicht mehr gebraucht haben. Als die Geiseln einen Monat später freigelassen werden, atmet das Land auf. Nicht nur aus Freude, sondern auch aus Erschöpfung. Erleichterung und Trauer liegen eng beieinander. Die Rückkehr verändert den Puls des Landes, aber sie nimmt niemandem die Aufgabe ab, weiter nach Frieden zu suchen. Diese Suche bleibt schwer. Nicht zuletzt, weil politische Entscheidungen noch immer auf die Wirksamkeit von Gewalt setzen, auf Abschreckung, Kontrolle und Dominanz. Während Körper nach Beruhigung verlangen, hält die Politik an Logiken fest, die den Ausnahmezustand verlängern. Zwischen diesen Ebenen entsteht eine Spannung, die sich kaum auflösen lässt und die Hoffnung auffrisst.
Und dennoch entstehen in der gesamten Region kleine, fragile Versuche des Miteinanders. Künstler bauen Gemeinschaftsräume wieder auf, Lehrer eröffnen neue Klassenzimmer, Psychologen arbeiten mit Traumata auf beiden Seiten, junge Wissenschaftler entwickeln Wasserleitungssysteme für Gemeinschaften, die Israelis und Palästinenser verbinden. Diese Projekte sind verletzlich, aber sie sind real. Sie wirken wie vorsichtige Proben für eine Zukunft, in der Wiederherstellung und Verantwortung wieder denkbar werden.
Für uns Forschende und Schreibende wird in diesen Tagen deutlich, dass es eine besondere Form von Mut braucht. Einen Mut, der in der Komplexität verweilt, einfache moralische Gewissheiten zurückweist und Trauer und Empathie auf allen Seiten aushält. Die Aufgabe besteht nicht darin, zu vereinfachen, sondern zu verstehen, das Unerträgliche auszusprechen und dennoch an das zu glauben, was heilen kann. Vieles von dem, was ich unter Resilienz verstehe, habe ich in Israel gelernt. Mut kann dem Zuhören ähneln, Hoffnung ist kein Versprechen auf ein glückliches Ende ist, sondern die Bereitschaft, Heilung überhaupt für möglich zu halten. Vielleicht beginnt Frieden genau dort: Wenn Körper aufhören, sich ständig auf den nächsten Einschlag vorzubereiten; wenn wir im Gesicht des anderen wieder den Nachbarn erkennen; wenn wir gemeinsam atmen, nicht aus Gewißheit, sondern trotz der Kräfte, die weiterhin an Gewalt glauben.
Übersetzung aus dem Englischen von Artur Becker
Letzte Änderung: 18.12.2025 | Erstellt am: 18.12.2025
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