Dicks Hab im Dünenschutt

Dicks Hab im Dünenschutt

Gedichtfantasie

Uwe Dicks Gedicht „Hab im Dünenschutt“ öffnet eine verstörende und zugleich naive Welt, in der ein verstümmelter Vogel zum Symbol für Zerbrechlichkeit und die Gegenwart des Todes wird. Der Dichter verweilt in der schlichten Darstellung einer grausamen Realität und reflektiert über den Widerhall des Todes in einem Moment der stillen Beobachtung.

Hab im Dünenschutt der Stunden
Einen Vogelleib gefunden,
und das Köpfchen, augenleer,
abgetrennt, lag nebenher.
Schau mich, Mädchen, nicht so an,
weil ich’s nicht ertragen kann.

Manchmal kommen einem Gedichte unter von einer restlos unheimlichen, weil so höchst grausamen Naivität: Auch der Charakter manches Volksliedes trägt sie, vieles Märchenhafte oder deren Mischung, etwa in Des Knaben Wunderhorn… einfachkecke Reime oft, die, gleichermaßen schnippisch wie arglos, selbst auf die Monstrosität von Augenleere reimen, im launigen Tanzschritt, wenigstens auf den Fußspitzen trippelnd, und immer geht es mit einer so überraschenden, wie einfachen Findung einher, einem Begebnis: Hab einen Vogelleib gefunden, der lag vor meinem Fuß. Und als ich mich bückte, war’s ein kleiner Torso, abgeschnitten das Köpfchen, das hatte keine Augen.

Es ist diese unbedingte materielle Gegenwart des Todes, was die Eingangsformulierung „Dünenschutt der Stunden“ nicht als den abstrakten Lyrismus erleben läßt, der er eigentlich wäre, sondern sie zur lebendigen Metapher einer leisen, phlegmatischen Einsamkeit macht. Stundenlang bist du durch die Dünen gestrichen: verwehte Hügel, auf denen wächst allenfalls etwas ginstriges, strohtrocknes Gras. Dünen wandern wie die Stunden, wie der Schutt, den sie dort angehäuft haben, dort drüben und hier.

War ich allein? War ich zu zweit? Ich weiß es nicht mehr. Doch wem hab ich’s gesagt, dieses „Mädchen, schau mich nicht so an“? – So sind wir also nebeneinander hergegangen, und unsere Gedanken wehten auseinander; erst der kleine tote Vogel hat sie wieder, wie Finger, ineinanderverschränkt. Dann standen wir stumm da und sahen hinab, sahen auf die Katastrophe, den Tod in seiner erbarmungslosesten, verstümmelnden, verstümmelten und doch aufs menschliche Maß herabgemilderten Form: Nur weil er so klein war, ließ sich ihm begegnen. Selbstverständlich war das Trug. Also konnt’ ich dich nicht ansehen, zumal… plötzlich… dein Blick! Die Maden sah ich, eine zehntelsekundenschnelle Vision, den spitzen starken Schnabel, der in die Augäpfel hackte: einmal zweimal – und wieder. Erst des Gedichtes Messer schnitt den Halsansatz vom Vogelrumpf.

Blatt und Heft finden sich in einem Zyklus, der bescheiden → Ansichtskarten aus Wales heißt und von einem auf das absichtsvollste vergessenen Dichter stammt, der allerdings noch lebt… und wie! Und herumreist mit seinen Geschichten Gedichten Pamphleten, um all denen unermüdlich die Leviten zu lesen, die ihn ebenso unermüdlich aus den Literaturbetrieblichkeiten mobben. Kaum ist noch der Name Uwe Dick bekannt… aber stöbern Sie ein wenig in den Antiquariaten, und wenn Ihnen die „Sauwaldprosa“ unterkommt oder das „Echo des Fundamentschritts“, dann zögern Sie nicht…

Ach Mädchen, was war’s, das ich in deinen Augen sah?!

Und du?

In den meinen?

Hab im Dünenschutt der Stunden
Einen Vogelleib gefunden,
und das Köpfchen, augenleer,
abgetrennt, lag nebenher.
Schau mich, Mädchen, nicht so an,
weil ich’s nicht ertragen kann.

Letzte Änderung: 23.12.2024  |  Erstellt am: 23.12.2024

divider

Hat dir der Beitrag gefallen? Teile ihn mit deinen Freunden:

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen