Der Literaturnobelpreis und die Aktualität von Wisława Szymborska

Der Literaturnobelpreis und die Aktualität von Wisława Szymborska

Essay Literatur
„Inspiration beginnt mit einem ‚Ich weiß nicht‘“ | © Barry (elsiezhong) auf Unsplash

Am Donnerstag, dem 9. Oktober, wird die Gewinnerin oder der Gewinner des Literaturnobelpreises 2025 bekannt gegeben. Im kommenden Jahr, am selben Datum, wird wieder ein Name verkündet werden. Im Jahr 2026 ließe sich dann der Bogen zu Wisława Szymborska schlagen, die genau dreißig Jahre zuvor diese Auszeichnung entgegennahm. Doch warum warten? Ich möchte diesen Bogen schon jetzt spannen – weil Szymborskas Rede damals etwas enthielt, das heute aktueller ist denn je.

Der Dichter und die Welt – so lautet der Titel ihrer Ansprache, nachzulesen im Sammelband Die Gedichte. Szymborska schreibt darin über die Bedeutung des Wortes „Dichter“ – oder allgemeiner: „Schriftsteller“ – und über die gesellschaftliche Aufladung dieses Begriffs. Doch das ist nicht der Grund, weshalb ich fast dreißig Jahre später diesen Bogen wieder aufnehme.

Erst als sie von dem „seltsamen Geisteszustand, den man gewöhnlich Inspiration nennt“ spricht, wird es wirklich interessant. Szymborska erklärt, dass Inspiration kein Vorrecht der Dichter oder Künstler sei.

„Es gibt, gab und wird immer eine bestimmte Gruppe von Menschen geben, die die Inspiration heimsucht. Dazu gehören alle, die sich ihre Arbeit bewußt aussuchen und sie mit Hingabe und Phantasie verrichten. Zum Beispiel manche Ärzte, Pädagogen, Gärtner und noch hundert andere Berufe. Ihre Arbeit kann ein permanentes Abenteuer sein, wenn es ihnen gelingt, in ihr immer wieder neue Herausforderungen zu entdecken.“

Damit bin ich dem Ziel meines Bogens fast ganz nahe. Szymborska sagt, dass die Neugier dieser Menschen – trotz Schwierigkeiten und Rückschlägen – nicht erlischt. Aus jedem gelösten Problem entstehen neue Fragenreihen, schreibt sie.

„Inspiration, was auch immer sie sei, entsteht aus einem fortwährenden ‚Ich weiß nicht‘.“

Nun liegt das Ziel meines Bogens in greifbarer Nähe. Die polnische Dichterin sagt weiter, dass nur wenige Menschen über eine solche Quelle verfügen, da die meisten arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

„Sie arbeiten, weil sie müssen.“

Und sie fügt hinzu:

„Nicht sie entscheiden sich für eine Arbeit, die Lebensumstände entscheiden für sie. Die ungeliebte Arbeit, die Arbeit, die langweilt, die nur deshalb geschätzt wird, weil nicht einmal sie allen offen steht, ist eine schwere Bürde der Menschheit. Und es sieht nicht so aus, als würden die nächsten Jahrhunderte hier eine Wendung zum Besseren bringen. Ich meine nicht, daß den Dichtern der alleinige Anspruch auf Inspiration zukommt, dennoch rechne ich sie zu den wenigen, die das Schicksal begünstigt.“

Nun ist der Bogen geschlossen. Szymborska sagt:

„Hier könnten sich bei meinen Zuhörern Zweifel regen. Menschenschinder jeglicher Art, Diktatoren, Fanatiker, Demagogen, die mit einigen lauthals herausposaunten Parolen um die Macht ringen, mögen ihre Arbeit auch und verrichten sie ebenfalls mit findigem Eifer. Ja, aber sie „wissen“. Sie wissen, und das, was sie wissen, reicht ihnen ein für allemal. Auf nichts sind sie neugierig, denn das könnte die Kraft ihrer Argumente schwächen. Und alles Wissen, aus dem nicht neue Fragen aufkeimen, ist schnell ein totes Wissen, verliert die Temperatur, die das Leben braucht. Im Extremfall, den wir aus der alten und neuen Geschichte nur allzu gut kennen, wird es sogar für ganze Gesellschaften zur tödlichen Gefahr.“

Es dürfte deutlich geworden sein, warum ich nicht warten wollte, bis sich Szymborskas Nobelpreisrede zum dreißigsten Mal jährt. Ihre Worte über Inspiration, Wissen und Neugier sind eine Mahnung geblieben – vielleicht gerade jetzt, in einer Zeit, in der viele lieber „wissen“ als fragen.

Alle Zitate stammen aus Der Dichter und die Welt in der Sammlung „Die Gedichte“ (Suhrkamp) von Wisława Szymborska. Die Übersetzung dieser Rede stammt von Ursula Kiermeier.

Letzte Änderung: 09.10.2025  |  Erstellt am: 09.10.2025

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