Der Blick auf die Zukunft ist voller Ruinen. „Was ist es, das uns ruiniert?“, fragt Autor und Philosoph Andreas Steffens und eröffnet damit einen gedanklichen Weg, der vom Zerfall des Körpers über das Zu-Viel unserer konsumgeprägten Gesellschaft schließlich zur Ruine selbst führt, die von der Utopie des Lebens zeugt: Gewesen, und dennoch da zu sein.
Prosa und Poesie, Efeu, Flechten und Kletterpflanzen bedürfen der Ruinen, um zu gedeihen.
Nathaniel Hawthorne
Was ist es, das uns ruiniert?
Unglück, Schicksal, Politik?
Nichts davon ist dazu erforderlich.
Es ist, was wir so selbstverständlich zu erhalten bemüht sind, wie wir atmen, gehen, stehen, liegen, essen, schlafen, lieben: unser Leben. Es ist das Leben, das sich in unserem Leben ereignet, während wir es führen.
Uns ruiniert, was uns erhält. Der Stoffwechsel unseres Körpers zersetzt die Organe, die uns leben lassen. Indem wir leben, sterben wir. Stetig, unaufhaltsam. Bei ›gesunder‹ Ernährung langsam, beschleunigt bei Zufuhr von zu viel Genußgift. Die Laster des Körpers sind die Gemeinheiten, mit denen die Natur ihr Werk seiner Zerstörung beschleunigt, als hätten die Verächter der Lust und des Genusses recht, als könnte die zeugende Natur es nicht erwarten, uns wieder vergehen zu sehen, um neuer Vergänglichkeit Platz zu schaffen. Die Bestimmung, die sie für uns vorgesehen hat, ist das Skelett, als Ziel der Verwesung, die der Tod ermöglicht, indem er die Arbeit der Organe beendet.
Die Bewegungen, in denen Leben sich vollzieht, haben nur ein Ziel: es zu beenden. Je bewegter gelebt wird, desto eher wird es erreicht. Zügig treten wir auf der Stelle, bis es uns fortreißt in den Stillstand. Wir sind das Ruinöse, das uns zwingt, zu sein, um gewesen zu sein. Die Bestimmung unseres Daseins in der Welt ist die Weltlosigkeit des Grabes. Indem wir uns erhalten, wirken wir mit an unserer Vernichtung.
Wir sind unser Ruin. Unser Verderben ist, zu leben.
Wie sollte es dem, was wir erzeugen, um uns beim Leben zu nützen, den Dingen, anders ergehen?
Im Verfall dessen, was wir herstellen, zeigt sich die alles bestimmende Grundbedingung des Daseins. Die Ruine offenbart die negative Dialektik des organischen Lebens, das sich als Vorbereitung des Sterbens vollzieht. Wir können leben, weil wir sterben müssen. Der Preis des Lebens ist der Selbstverbrauch des Körpers, der uns sein läßt. Mit jeder Mahlzeit, die uns nährt, schwächen wir den Organismus unseres Daseins. Ihre Arbeit, die uns Lebenskraft gibt, vernutzt die Organe, die sie erzeugen. Die Ruine ist das Realsymbol dieser unaufhebbaren Weltbedingung des lebendigen Daseins. Sie definiert das Sein als die Gewalt des doppelten Zwangs, zu werden und zu vergehen.
Von der Gewalt des Seins, alles, das wurde, zu zwingen, wieder zu verschwinden, entsetzt, verdoppeln unsere Lebensanstrengungen die Unmöglichkeit, in Gegenwart zu verharren, zur Zukunftssucht. Sie beschleunigt die Selbsterschöpfung auf dem Weg des Lebens ins Gewesensein. Zukunft ist das Ende: verewigte Gegenwart des Nichtmehr. Zukunftserwartung ist Todesbereitschaft. Die Flucht der Sehnsucht in die Zukunft verschiebt die Wunscherfüllung in den Vorraum des Endenmüssens.
Sinn des Lebens ist, da zu sein, Teil der Welt zu sein, die es hervorbringt; seine Bestimmung aber, gewesen zu sein. Die Wirklichkeit der Ruine verkörpert die Wahrheit des Lebens.
Das Skelett ist die Ruine des Lebewesens; die Ruine ist das Skelett der Zivilisation. Was für den Körper die Nahrung, sind für die Dinge die Zivilisation. Essen, Verdauen, Ausscheiden. Herstellen, Konsumieren, Müllen. Was lebt, muß vergehen; was entsteht, damit gelebt werden kann, kann nicht bleiben. Die Mittel und Einrichtungen des Lebens vollziehen die Vergänglichkeit, deren Abwehr sie dienen. Indem wir es aufzuhalten meinen, rennen wir ihm entgegen, dem Ende, unserer Bestimmung. Jede Stunde im Fitneßstudio ist Vorübung zur finalen Spannung der letzten. Atemlos gehetzt dem letzten Atemzug entgegen.
Verdrängung ist das Gesetz des Überflusses. Überfluß ist das Gesetz der Not der Daseinsungewißheit. Auf den Mangel reagiert das Übermaß der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung. Zu-Viel ist das Gesetz des beschleunigten Verfalls. Die ältesten Kulturen haben an ihren Lebensformen wenig verändert, kaum etwas in hunderten von Jahren; die jüngste, die Europa die Welt beherrschen machte, änderte in hundert Jahren, was tausend lang Bestand gehabt hatte. Die Sturzflut der alles verdrängenden Veränderungen in immer kürzeren Takten beschleunigt den Zerfall der Welt. Die Tobsucht des Fortschritts verwandelt die Welt in ein Arsenal künftiger Ruinen. Da nichts bleiben kann, soll alles anders werden; da alles anders wird, kann immer weniger immer kürzer bleiben. Fortschritt ist Schwund der Daseinsdauer. Heute das Beste, morgen veraltet, übermorgen Müll.
Ruinen sind der Abfall der Geschichte.
Als Sehenswürdigkeit verschaffen sie den nostalgischen Erinnerungsgenuß an eine vergangene, zerstörte Wirklichkeit, deren Zerstörung nicht zu Ende gebracht wurde. Von seiner Artillerie zusammengeschossen, und als Ruine stehengelassen, kündet das Heidelberger Schloß bis heute von des Sonnenkönigs vergangener gewaltiger Größe. Seine Überreste überdauern seinen Zerstörer seit hunderten Jahren. Weshalb es als Ruine konserviert wurde, statt wiederaufgebaut zu werden.
Als Lebewesen mögen wir Ruinen, weil sie vortäuschen, dem Tod ließe sich ein Schnippchen schlagen. Sie blieben stehen, weil der Prozeß ihrer Zerstörung stehen blieb. Der Wunsch, nicht sterben zu müssen, ist der Wunsch, eine Ruine zu werden. In den Ruinen hausen die Geister: Untote, die nicht mehr leben, ohne sich ins Nichts verflüchtigt zu haben. An der Ruine vollzog sich die Bestimmung, zu verschwinden, nicht ganz: sie ist beständig als Paradox einer Gegenwart des Vergangenen. Kadaver, dessen Verwesung stoppte; Sterbender, an dem der Tod die Lust verlor, sich bis zum Ende abzumühen.
Die Ruine ist getaucht in die Atmosphäre von Endgültigkeit als Erstarrung: eingefrorener Moment, in dem die Zeit stillstand. Die Zeit, die Agentin des Verfalls. Keine Veränderung wird sich an der Ruine mehr vollziehen, erstarrt in ewiger Leichenstarre; Kadaver, der nicht verwest. Sie ist die Totenmaske eines Gebildes, verewigt im Moment des Todeseintritts. Nicht mehr, und doch noch da. Verwunderung jedes Überlebenden der Geschichte. Wir waren tot, und konnten atmen. Celans tödliche Verwunderung. Er staunte für alle. Während wir noch atmen, bereitet die Geschichte, die uns tötet, ihre kommenden Ruinen vor.
Als konservierter Restbestand, befestigtes Nicht-mehr-Sein, ist die Ruine das Realsymbol der Utopie des Lebens: des Wunsches, es möge sich über sein Ende hinaus erhalten können: Gewesen, und dennoch da zu sein.
Das macht sie schön, und in ihrer Schönheit beruhigend. Nur die vier Außenmauern standen noch, und in der Mitte wuchs ein Baum, der seine Äste durch die Fenster nach draußen streckte; zwischen den Blättern saßen Hunderte von Spatzen. Leider konnte ich die Geräusche nicht photographieren: den grünen, sich wiegenden, singenden Baum in der Ruine … man hätte vor lauter Schönheit weinen können (Mulisch, Brautbett, 62).
Mit ihren Werken geben die Künste eine verzweifelt lustvolle Ahnung dieses Unseins. Ihre Gestalt der Ruine ist das Fragment. Es ist das Phantom einer Ruine: Präsentation eines Zustandes nach einem Verfall, dessen Prozeß nie stattgefunden hat. Das Fragment tut, als ob es Überrest wäre, und ist doch nur Vorstufe zu einer Wirklichkeit, die nie entstand. Es täuscht die Situation nach einem Ende vor, das nicht eintrat. Indem das nie zu Ende Gebrachte auftritt als Relikt, ist es die Geste einer Verweigerung des Endens. Was nicht wurde, kann nicht vergehen; was wurde, sich aber nicht vollendete, kann nicht ganz vergehen. Das Fragment verweigert das Werden, dessen Ziel das Vergehen sein müßte, in einem Scheinsprung in ein ›Jenseits‹ von Werden und Vergehen. Getarnt als Ruine ohne Vergängnis, ist das Fragment das nie Vollendete als das Unzerstörbare.
Literatur
Benjamin, Walter, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), Frankfurt/M 1963
Celan, Paul »Erinnerung an Frankreich«, in: ders., Mohn und Gedächtnis, Stuttgart 1952, 24
Hawthorne, Nathaniel, Der Marmorfaun. Roman (1860), Frankfurt/M 1961; 1988
Mulisch, Harry, Das steinerne Brautbett. Roman (1959), Frankfurt/M 1995
Serres, Michel, Das eigentliche Übel. Verschmutzen, um sich anzueignen?, Berlin 2009
Simmel, Georg, »Die Ruine«, in: ders., Philosophische Kultur. Gesammelte Essays, Potsdam 1923, 135-143
Steffens, Andreas, Ontoanthropologie. Vom Unverfügbaren und seinen Spuren, Wuppertal 2011
Zambrano, Maria, »Eine Metapher der Hoffnung: die Ruinen« (1951), in: dies., Philosophie und Dichtung und andere Schriften, hg. und aus dem Spanischen übersetzt von Charlotte Frei, Wien 2006, 181-188
Letzte Änderung: 24.05.2024 | Erstellt am: 24.05.2024
Ein Haus wird erst zum Haus, wenn es kaputt ist.
Harry Mulisch
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