Tock, tock Er hat die Tür geschlossen
Im Garten die Lilien sind verdorrt
Wer ist der Tote, den man trägt hinfort
Eben noch klopftest du an dem Ort
Und tapp tapp
Tappt eine Maus hinfort
Ach sie kam und wollte ihn sehen, nur wieder sehen, ihre späte Liebe vielleicht, vielleicht ihre Jugendliebe, oh die Gärten, in denen sie saßen! Vielleicht saßen sie auf einer Bank, die wie in die Buchsbaumhecke hineingeschnitten, von der Buchsbaumhecke überwachsen war, einer Laube Gartenséparée, kann sein, hinterm Heim, kann sein, hinterm Haus seiner Eltern, und sein Bubenduft mischte sich so herrlich mit dem herben Geruch von Holz und Erde und Blättern – jedenfalls muß sie jetzt, im Alter, immer wieder daran denken. Sie weiß ja auch nicht, ob er, der Alte, wirklich der Junge von früher ist, aber das Lächeln, dieses Lächeln! Ach, es ist das gleiche, also will sie, dass es dasselbe ist. Sie hat es schon gewollt, als er zum ersten Mal in den Speisesaal trat. „Saal“ ist ein viel zu übertriebenes Wort, aber die Pfleger nennen ihn so, diesen Raum, die Holztische, die Stühle mit den hellblauen Plastiklehnen, die Schalen, die großen silbernen Suppenkessel, aus denen der nette Zivildienstleistende ihnen Schlag um Schlag in die Teller tut. Die Blechlöffel. Der Pfeffergeruch. Die drei Moosröschen auf jedem Tisch. Ihrem Nachbarn rinnt ein Suppenfaden aus dem Mund und haftet am Kinn, allezeit, während er ißt. Ja, sie sieht es sehr wohl. Aber auch sie hat ein Zittern in den Händen, man kann beim Essen nicht ständig in einen Spiegel sehn. Sie weiß das, ja, aber was soll sie tun? Sie denkt nicht nach darüber, sie lächelt, sie hat solch einen nicht schlimmen, aber lästigen Schmerz im Kreuz im Garten ist alles immer so anders gewesen, als er hereintritt, tapperig und ein wenig verwirrt, aber lächelnd… es ist dieses Lächeln, oh sie hat das so viele Jahre nicht mehr gesehen, der Bub war ja fort irgendwann, es hat keinen Abschied gegeben, und sie hatte ihn vergessen jahrzehntelang… – war nicht damals Krieg? Es muß Krieg gewesen sein damals. Ach er hat sich gar nicht verändert! Plötzlich fällt er ihr wieder ein, Michel oder Pierre oder Jürgen, das ist einerlei. Der Pfleger führt ihn am rechten Arm langsam durch den Raum, sie kann den Blick von Pierre nicht lassen. Und wirklich, ihr genau gegenüber, der Platz, er ist frei, aber noch andere Plätze gibt es, neulich ist Madame Helvet gegangen, dann ging Madame Goltz, dann Monsieur Verdère, sie gehen alle eine nach dem anderen und machen nur sehr selten Lärm dabei. Ganz selten, daß jemand Lebwohl sagt, morgens, plötzlich, im Speisesaal, bleibt wieder ein Platz frei. Sie könnte sich fragen, ob man vorher etwas spürt, ob man es ahnt, aber sie möchte sich das nicht fragen, und sie weiß, es fragt sich das niemand. Da nimmt der Junge Platz, ja, ihr gegenüber, der Pfleger schiebt ihm den Stuhl zurecht. Ach wie er aufsieht! Ach wie er lächelt! Sie wagt es und lächelt zurück. Und nachmittags spazieren die zwei in den Garten, einen kleinen Park, da ist diese Laube, die Buchsbaumhecke, und sie weiß erst jetzt, daß schon damals der Garten nach Abschied roch, nach einem herben süßen duftenden Abschied. Doch sie waren so jung, sie hielten den Duft für Verheißung, und das war er ja auch, damals. Heute ist er Erinnerung. Da nimmt der Junge zum ersten Mal ihre Hand. So sitzen sie und schweigen. Und am nächsten Tag sitzen sie da wieder und schweigen, und wieder hält er ihre Hand. So sitzen sie über Wochen, und dann kommt der Herbst.
Sie ist unruhig. Sein Lächeln. Seine Hand. Sein Lächeln. Sie schaltet die Nachttischlampe an. Irgendetwas sitzt in den Bommeln, die vom Netz hängen, das über den Schirm geworfen ist. Irgendetwas klingelt in ihnen. Sie haben noch niemals geklingelt. Sie schaut zur Uhr, es ist halb eins in der Nacht. Oh, sie möchte zu ihm. Und sie erhebt sich, es ist nicht mehr leicht, sich aus dem schweren Bettzeug aufzurichten. Aber sie spürt, dass es sein muss, und sie schafft es, schafft es wieder einmal allein. Noch ist sie zu stolz, um zu schellen. Sie zittert in die Puschen, sie zittert sich in den Morgenmantel und tritt auf den Gang. Irgend etwas ist geschehen. Sie geht zu seiner Tür. Das hat sie noch niemals getan. Einen ganzen Stock höher. Sie klopft. Sie klopft noch einmal, er gibt keine Antwort. Sie hört Geräusche von draußen, von unten, eine Autotür vielleicht, es gibt Licht auf dem Hof. Sie schlurft zum Fenster. Es ist ein weißer Wagen mit menschenlanger Ladefläche. Ein Sanitäter steht dort vor den Doppeltüren und raucht. Zwei andere Sanitäter kommen und tragen die Bahre. Louis, der netteste der Pfleger, ist bei ihnen und begleitet die Bahre, bis sie in dem Auto verschwunden ist. Die Ladefläche wird leise geschlossen. Die Männer sprechen miteinander wie stumm, ein Nicken, der eine Sanitäter tritt die Zigarette aus auf dem Kies. Der nette Louis unterzeichnet auf einem Clipboard ein Papier.
Sie dreht sich zurück, sie will den Wagen nicht fortfahren sehen. Sie klopft noch einmal an dieser Tür. Die bleibt verschlossen, alles bleibt still. Nur etwas Kleines drängt sich unterm Spalt hervor, drängt sich hervor und rennt und flitzt, den ganzen Gang flitzt es huschhusch entlang und verschwindet, sie weiß es, im Himmel. Ach! Nun hat sie auch ihm nicht Lebwohl sagen können. Doch sie weiß, er hat gewartet auf sie, hat auf ihr Klopfen gewartet, dann sich auf das Mäuschen geschwungen, um sie noch einmal, im Verschwinden, tapp, tapp, tapp zu sehn.
Meine Damen und Herren, voilà: Guillaume Apollinaire! Als der Dichter, dessen kleines Gedicht „La Dame“ sich in der Sammlung „Alcool“ findet, 1918 starb, war der Einfluß, den er auf seine Zeitgenossen hatte, kaum zu ermessen. Aber sogar noch 1953 schrieb René Char: „Jeden Tag fährt Guillaume Apollinaire fort, für uns, unerschöpfbar, in dem hermetischen Block, der Paris ist, königliche Straßen zu brechen, wo die Frauen und die Männer Frauen und Männer mit transparentem Herzen sind.“ Oder alte Herren. Oder alte Damen. Manche Lilien verblühen nicht.
Letzte Änderung: 17.10.2024 | Erstellt am: 11.10.2024