Zwischen Obsession und Assoziation: Georges Batailles Grenzgänge in der Kunstkritik

Zwischen Obsession und Assoziation: Georges Batailles Grenzgänge in der Kunstkritik

Rezension zu: Georges Bataille: „Sternenesser. Verstreute Texte zur Kunst“
Georg Bataille | © wikimedia

Der französische Schriftsteller und Philosoph Georges Bataille ist insbesondere hierzulande vor allem für seine theoretischen wie praktisch-literarischen Grenzüberschreitungen berühmt beziehungsweise berüchtigt. Auch der von Rita Bischof herausgegebenen Anthologie "verstreuter Texte zur Kunst" Batailles ist ein transgressives Moment immanent - allerdings weniger in Form handfester Tabubrüche, sondern zum einen dahingehend, dass Bataille in den versammelten Kurzessays permanent die Grenzen der Kunstkritik sprengt, indem er Maler wie Max Ernst oder Goya durch die Brille seiner persönlichen Obsessionen und im Rahmen frei flottierender Assoziationsketten betrachtet, vor allem aber auch, weil Bischof bei der Auswahl der zahlreiche Themen berührenden Texte die Heterogenität zum eigentlichen Strukturprinzip erhebt.

Ganz ohne die Erwähnung von Georges Batailles mit Abstand wohl bekanntestem Text läuft es nicht: 1928, in seinem 31. Lebensjahr, veröffentlicht der Pariser Bibliothekar unter dem Pseudonym „Lord Auch“ mit „L’histoire de l’œil“ sein erstes literarisches Werk, eine Kurzgeschichte voller Tabubrüche, in der, unter anderem, Hühnereier, sterbende Matadore sowie katholische Priester von dem im Zentrum der Handlung stehenden Trio Infernale als Stimulationsmittel beziehungsweise Sexspielzeuge instrumentalisiert werden. Nicht zuletzt für das transgressive Kino der 60er und 70er Jahre fungiert Batailles „Geschichte des Auges“ als Fixpunkt, wenn Regisseure und Regisseurinnen wie Jean-Luc Godard („Week End“, 1967), Catherine Breillat („Une vraie jeune fille“, 1976) oder Alberto Cavallone („L’uomo, la donna e la bestia – Spell (Dolce mattatoio)“, 1977) den drastischeren Partien der Erzählung Tribut zollen. Die Festschreibung Batailles auf die Darstellung devianter Sexualpraktiken, blasphemischer Provokationen sowie sonstiger physischer und psychischer Entgrenzungen überschattet allerdings den Blick darauf, wie breit gefächert das Œuvre des 1962 verstorbenen Schriftstellers und Philosophen letztlich ausfällt. Bataille ist eben nicht nur abonniert auf pornographische Kurzgeschichten oder einen Langessay wie „Die Erotik“ (1957), der auf der Grundlage des Konnexes zwischen Religion und Tod einen Streifzug durch die verfemten Regionen der abendländischen Kunstgeschichte unternimmt. Er verfasst darüber hinaus, um nur einige wenige Publikationen zu nennen, einen Artikel über „Die psychologische Struktur des Fascihsmus“ (1933), eine literaturwissenschaftliche Abhandlung zur „Literatur und das Böse“ (1957), sowie eine, 1973 posthum veröffentlichte, „Theorie der Religion“. Genau in diesem für die breite Öffentlichkeit, zumal hierzulande, noch immer weitgehend esoterischen Spannungsfeld setzt die von Rita Bischof herausgegebene, übersetzte und mit einem ausführlichen Nachwort versehene Sammlung „Sternesser“ ein, die 17 „verstreute Texte zur Kunst“ Batailles aus den Jahren 1937 bis 1961 vereint, von denen viele erstmals auf Deutsch zu lesen sind und deren Titel allein die Heterogenität der Interessen ihres Autors sinnfällig aufzeigen.

Es geht um die steinzeitlichen Höhlenmalereien von Lascaux, die Bataille zum Anlass nimmt, die Frage nach der Geburtsstunde menschlicher Kunsttätigkeit zu erörtern; es geht um den Anbeginn der modernen Kunst, den Bataille im Jahre 1865 verortet, als Manets „Olympia“- Akt das Pariser-Salon-Publikum brüskiert; es geht gleich zweimal um Francisco de Goya, in dessen Werk für Bataille bereits lange vor Manet zum ersten Mal der „Todesschrei der tradierten Malerei“ ertönt – das alles zumindest auf den ersten Blick, denn, wie Bischof in ihrem abschließenden Essay zu „Batailles Entwurf einer Philosophie des Auges“ luzide darstellt, unterwirft der Autor die meisten dieser Themen letztlich seinem spezifischen Bildbegriff, der sich „radikal von dem der tradierten Kunstgeschichte unterscheidet.“ Das Bild hat stets den „Vorrang vor dem Denken“ – oder eben gleich ganze Ketten an Bildern, die assoziativ und ohne Rücksicht auf die konventionellen Grenzen zwischen hoher und niederer Kultur, zwischen kanonisierter Kunstgeschichte und allen Phänomenen außerhalb des Kanons, zwischen einer intellektuellen Betrachtung würdig erachteten Gegenständen und Artefakten von Trash, Camp, Kitsch aufeinanderfolgen. „Batailles Fehde gegen die Kunstgeschichte“, wie Bischoff es nennt, schlägt sich besonders schön im (kurzlebigen) Zeitschriftenprojekt „Documents“ nieder. Nur 15 Ausgaben erscheinen vom April 1929 bis Januar 1931, in denen Bataille und seine Mitstreiter, darunter surrealistische Dissidenten à la Carl Einstein, Michel Leiris oder André Masson, (dem auch ein Essay in vorliegendem Band gewidmet ist), mit derselben Gravitas Photo-Essays über aktuelle Arbeiten Picassos, über Pariser Schlachthöfe, über den menschlichen großen Zeh veröffentlichen – eine, wie Bischof schreibt, „Anti-Ästhetik avant la lettre“, eine „Konfiguration von Bildern, die sich ineinander spiegeln, aneinander reißen, die eine Spannung aufbauen und etwas in Bewegung setzen, also nicht nur das Ergebnis einer Operation oder Endpunkt einer Gedanken- und Handlungskette sind, sondern weitere Operationen auslösen.“

Obwohl nahezu gänzlich ohne Bildbeigaben – lediglich das Nachwort wird durch eine Photographie ergänzt, die einen Stierkämpfer zeigt, der von seinem gehörnten Kontrahenten durch die Luft gewirbelt wird, und bei dem es sich wohl um Manuel (Manolo) Granero handelt, dessen Sterben in der Madrider Arena Bataille im Mai 1922 selbst beiwohnt –, funktioniert auch „Sternenesser“ nach einem derartigen Collage- und Montageprinzip, das zunächst, laut menschlichem Ordnungsverständnis, nicht zwangsläufig zusammengehörige Sachverhalte in verblüffenden Juxtapositionen zusammenführt – und dies teilweise gar innerhalb eines einzigen kurzen Textes. Im ersten Beitrag des Bandes beispielsweise, „Van Goghe, Prometheus“, erstveröffentlicht in der Dezemberausgabe 1937 der „Revue artistique et littéraire“ „Verve“, nimmt Bataille das berühmte Ohr des titelgebenden niederländischen Malers zum Anlass für eine 4-seitige assoziativ-atemlose Tour-de-Force, die den ikonisch gewordenen Körperteil Van Goghs mit der Sonne in Deckungsgleichheit bringt, und den Amputator selbst mit Gottvater Zeus. Der hermetische Text, (der im Übrigen sein wesentlich stringenteres Gegenstück in einem Documents-Artikel von 1930 namens „La mutilation sacrificielle et l’oreille coupée de Vincent van Gogh“ besitzt), mündet, nachdem Bataille in nüchternem Tonfall nachgezeichnet hat, wie der Maler sich das linke Ohr mit einem Rasiermesser abtrennt, sein Hörorgan sodann der Lieblingsprostituierten im örtlichen Bordell vorbeibringt, und sich 18 Monate später, in denen er seine „schönste[n] Bilder“ malt, suizidiert, in der entwaffnenden Frage: „Wenn sich alles so abgespielt hat, was bedeuten dann noch die Kunst oder die Kunstkritik?“ Batailles zugleich lapidare wie fundamentale Antwort: „Vincent van Gogh gehört nicht zur Kunstgeschichte, sondern zum blutgetränkten Mythos unserer menschlichen Existenz“ – so wie auch alle in „Sternenesser“ versammelten Texte lediglich an ihren Oberflächen Kunstkritik betreiben, stattdessen vielmehr unter der Larve der Kunstkritik Batailles ganz persönliche Obsessionen verhandeln.

Besonders evident wird das in „Die Kunst, Übung der Grausamkeit“, einem Text, der 1949 im Monatsmagazin „Médecin de France“ erscheint. Auf gerade mal 7 Seiten wird hier Batailles lebenslange Beschäftigung mit den Verbindungslinien zwischen Kunstproduktion, Religion und der „grausame[n] Sitte der Opferung“ in der Nussschale präsentiert. Im für Batailles Prosa typischen Clash zweier disparater Bildfelder grenzt der Autor, um das „Vergnügen“ anschaulich zu machen, das das „Grauen“ bei uns erregt, sobald es „einem autonomen Kunstwerk zur Transfiguration überlassen [wird]“, die Funktionsweise der künstlerischen Sphäre von der eines ordinären Spatzenschrecks ab, denn: „Eine Vogelscheuche bezweckt, Vögel zu verscheuchen, sie fernzuhalten von dem Feld, auf dem sie steht, während noch das furchterregendste Bild dazu da ist, die Besucher anzuziehen.“ Für Bataille sind die Kontinuitäten zwischen den Gräueln auf modernen Leinwänden und den Blutflüssen archaischer Opferzeremonien selbstverständlich darauf zurückzuführen, dass selbst noch im entgottetsten Zeitalter sich Subsidien der einstmals transzendenten Überbauten erhalten haben: „Die Kunst hat sich schließlich vom Dienst an der Religion befreit, aber im Hinblick auf das Grauen hält sie an der Knechtschaft fest: sie bleibt offen für die Darstellung dessen, was abstößt.“ So wie Bataille in der selbstverletzenden Handlung eines post-impressionistischen Malers klare Anklänge an die ekstatische Verausgabung von Kräften und Ressourcen erkennt, wie sie der (zwecklosen) Opferung eigen ist, so imaginiert er sich auch die gesamte Kunstgeschichte als Asservatenkammer all jener anthropologischen Konstanten, die im fortschreitenden Zivilisationsprozess sublimiert, tabuisiert, verdrängt worden sind: „Was der surrealistische Maler auf der Leinwand, auf der er die Bilder zusammenfügt, mit seinen Augen sehen will, unterscheidet sich nicht von dem, was die aztekische Menge mit all ihren Augen am Fuß der Pyramiden sah, auf denen man den Opfern das Herz herausriss“ – und, könnte man hinzufügen: was Georges Bataille sehen will, wenn er die (moderne) Malerei als „Johannisfeuer der Dinge“ modelliert, die sich in ähnlich orgiastischem Destruktionswillen wie die skizzierten Opferfeste zumindest singulär und temporär mit dem „Ruin unseres getrennten Daseins“ aufräumt, uns aus unserer individuellen Isolation befreit, und (wenigstens singulär und temporär) eine verlorene Kontinuität wiederherstellt, die uns mit dem allgemeinen Sein verbindet.

Zwei Aspekte stechen in „Die Kunst, Übung der Grausamkeit“ ins Auge: Zum einen eine Bemerkung, die prädestiniert als Veto für diejenigen ist, die in Bataille noch immer, analog zur Häme, die André Breton im „Zweiten Manifest des Surrealismus“ 1930 über ihm ausgießt, einen Autor sehen, „der es sich zur Aufgabe [macht], auf der Welt nur das Niedrigste, Entmutigendste, Verdorbenste zur berücksichtigen“, wenn Bataille nämlich in seinen sprachgewaltigen Brückenschlägen von Massakern, Foltern, rituellen Hinrichtungen zur zeitgenössischen Kunst innehält, um beinahe entschuldigend zu betonen: „Es geht mir nicht um eine Apologie entsetzenerregender Tatsachen. Dies ist auch kein Appell an ihre Wiederkehr.“; zum andern der mehrfache Rekurs auf die Kindheit, wie er in späteren thematisch ähnlich gelagerten Schriften Batailles in diesem Ausmaß nicht wieder stattfinden wird, und der Batailles Text sowohl eine autobiographische Volte verleiht, da es mithin seine eigene Kindheit sein dürfte, von der er spricht, wie auch eine zärtliche Note, nicht unähnlich der, die sein späterer Intimfeind Breton wiederum im „Ersten Surrealistischen Manifest“ anschlägt, wenn er den surrealistischen Dichter als „neugeborenes Kind“ bezeichnet: „Was das Kind verwirrt und plötzlich in einen schwindelerregenden Taumel verwandelt, ist der Wunsch, jenseits der Erscheinungen dieser Welt eine Antwort auf eine Frage zu erhalten, die es noch gar nicht formulieren kann.“

Als dritter (und letzter) eindrücklicher Text des Bandes sei Batailles Auseinandersetzung mit dem „Impressionismus“ genannt, die 1956 erstmals in der Januarausgabe von „Critique“ erscheint, und die mit ihrem Loblied vor allem auf Cézanne das 7 Jahre zuvor in „Die Kunst, Übung der Grausamkeit“ gezeichnete Bild der modernen Kunst als Refugium archaischer Triebkräfte ein wenig zurücknimmt. Kühl konstatiert Bataille hier, „seit Dalí, seit Balthus“ habe „es keine schockierende Neuheit mehr in der Malerei gegeben.“ Während im „Kunst“-Aufsatz der modernen Malerei noch bescheinigt wurde, sie „verlänger[e] […] die vervielfältigte Obsession vom sakrifiziellen Bild“, da die „in ihr stattfindenden Objektzerstörungen auf eine schon fast halbbewusste Weise der bleibenden Funktion der Religion entsprechen“, attestiert Bataille der künstlerischen Moderne nunmehr, in eine Sackgasse geraten zu sein, spielt sie mehr noch gegen die subversive Sprengkraft des Impressionismus, namentlich derjenigen Cézannes, aus: „Der Impressionismus emanzipierte die Malerei von der Dienstbarkeit, die sie in der organisierten Gesellschaft besaß. […] Durch den Impressionismus erreichte die Malerei die Autonomie, aber allein Cézanne machte von der angebotenen Freiheit ausgiebig Gebrauch. […] Cézannes Skandale […] öffneten jenen Weg, der zur autonomen Kunst […] führte, die dann in Fauvismus, Kubismus und Surrealismus den gesamten Bereich des Möglichen auszuloten versuchte, eine Bewegung, die heute durch eine unerwartete Schwierigkeit zum Erliegen gekommen ist: Wie könnte ihr etwas Neues gelingen?“

Gelungen indes ist vorliegender Sammelband vollumfänglich, der sich mit der Auswahl seines bewusst heterogenen Materials sowie seines Konzepts, Georges Bataille von gerade im deutschen Sprachraum unterrepräsentierten Seiten zu zeigen, gleichermaßen an diejenigen richten, die Batailles Prosa an der Schnittstelle von Wissenschaft und Poesie bereits verfallen sind, wie an diejenigen, die einen niederschwelligen Zugang zu derselben suchen.

Letzte Änderung: 03.07.2024  |  Erstellt am: 03.07.2024

Cover

Titel
Sternenesser. Verstreute Texte zur Kunst

Urheber
Bataille, Georges (Autor / Autorin) / Bischof, Rita (Übersetzt von) / Bischof, Rita (Herausgegeben von) / Bischof, Rita (Nachwort von)

ISBN-13
978-3-940048-43-1

Verlag
Brinkmann u. Bose

Erscheinungsdatum
2024

Preise Deutschland
30,00 EUR, Reduzierter Satz, Gebundener Ladenpreis inklusive Steuer

Preise Österreich
30,00 EUR, Reduzierter Satz, Gebundener Ladenpreis inklusive Steuer

Sprache
Deutsch

Anzahl Seiten
160

Erhältlich bei Buchhandel.de

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