Zu Stein geworden explosiv

Zu Stein geworden explosiv

Buchrezension – Maike Albath, »Bitteres Blau, Neapel und seine Gesichter«
Neapel | © Wolfgang Moroder

Elegant und kenntnisreich, so schreibt Maike Albath über Italien, nicht selten auch – aus der unmittelbaren Beobachtung – poetisch: »Die Mofas, Vespas und großen Maschinen wirkten wie kleine Viehherden, die an bestimmten Ecken Aufstellung nehmen, bewacht von ihren Besitzern.« Solche Sätze ziehen in ihr soeben erneut bei Berenberg erschienenes Neapelbuch »Bitteres Blau« immer wieder hinein und lassen sogar das Staunen darüber vergessen, wie umfangreich diese femme de lettres recherchiert haben muß. Allein neun volle Seiten an von der Autorin verwendeten Quellen zählt die dem Buch angehängte Bibliographie...

– die es aber nicht allein sind, woraus sie schöpft. Denn neben einigen höchst sensiblen Darstellungen von napoletanischen »Gesichtern«, die schon der Untertitel des Buches, Neapel und seine Gesichter, ankündigt, finden wir in dem Buch geradezu Ortserkundungen, und zwar nicht nur des berühmten alten, mythenprallen Rione Sanità und der, am Hang des Vomero, Quartieri Spagnoli, sondern auch etwa des, auf halber Strecke nach Pozzuoli, ehemaligen Industriestandortes Bagnoli sowie der im Norden Neapels gelegenen Vorstadt Scampia, die wie das berüchtigte Secondigliano als der städtebaulich kalt ghettoisierende Morast gilt, zumindest galt, aus dem die Camorra ihre Kindsoldaten zog und zieht. Auch, weil Albath zu ihren, sagen wir, »Feldforschungs« zügen wie selbstverständlich mit der UBahn aufbricht, nicht selten auch per Vespa, gelingen ihr ausgesprochen sinnliche, ja süffige, fast tänzerische Feuilletons, obwohl die einzelnen Kapitel zu nicht unbedeutenden Teilen aus Referaten über Bücher (Albath ist versierte Literaturkritikerin) sowie Interviews bestehen, die sie aber mit der unmittelbaren Anschauung, dem eigenen Erleben eben, nahtlos in ihre wunderschöne Prosa umzuformen versteht. An der stört allenfalls, daß nicht immer die Konjunktive stimmen (»als habe«) und sie leider dauernd, wenn sie »Haar« meint, »Haare» schreibt. Doch das sind Beckmessereien, über die ich mich lange schon selbst amüsiere. Unterdessen verwendet den Irrealis korrekt sowieso kaum noch wer. Außerdem war ich, um mich nerven zu lassen viel zu erstaunt

– und zwar, weil ich Maike Albaths Italien bislang fast durchweg in Turin verortet hatte, auch in Bologna, natürlich noch in Rom, im Mezzogiorno aber nicht. Ihr Sizilienbuch ist mir schlichtweg entgangen. Und aber dann! Wie sie sich da hineinwirft in die »durchlöcherte Stadt« (Ernst Bloch schrieb von Porosität), diesem »Abstieg in die Tiefe«! Zur Stärke ihres Buches gehört nämlich auch, daß sie uns die Ambivalenz spüren läßt, der sie sich ausgesetzt fühlt, sie, die auch in ihrer ganzen Erscheinung, ich schreibe einmal, von Kultur gebundene und deshalb bei aller gesuchten Nähe stets auf Distanz achtende Intellektuelle, die schon ganz am Anfang des »Bitteren Blaus« von der »komplexen Schichtung« Neapels erzählt: »Konkret und auch metaphorisch, denn ganz durchschaubar ist diese Stadt nie. Immer wabert im Untergrund das Andere.« Das sie, merken aber wir, magisch anzieht und doch mit selber Macht abstößt, dieses »Wilde, das (…) eben auch in der Sexualität eine Rolle spielt,« und »unheimlich und überwältigend zugleich« ist, wie sie in ihrem geländesicheren Ritt durch Elsa Ferrantes Romane formuliert (und nebenbei mit allem Recht die perfiden Indiskretionen Claudio Gattis rügt; der Typ gehört geohrfeigt).

Der circeschen, weil (notwendigerweise) immer auch von Gewalt grundierten dunklen, sexuellen Lockung, die sie merklich spürt, erwehrt sie sich – und stellt ihre Autonomie provisorisch erst einmal sicher – qua ihres Handwerks, eben das der Kritikerin, etwa, wenn sie den letzten Romanen Roberto Savianos dessen Pathos vorwirft (»Saviano hätte seine intellektuelle Strenge beibehalten müssen«) und dagegen den, ihre Formulierung, »aufmüpfigen Optimismus« Don Alfredo Loffredos hält, der die scugnazzi, die verlorenen Kinder und Jugendlichen, des Rione Sanità Selbsthilfe lehrte und ihnen dadurch Zukunft gab. Sie haben unterdessen Kooperativen gegründet, die Neapels und also ihr eigenes kulturelles Erbe sanieren und heute staunenden Besuchern zugänglich machen, das noch vor zwanzig Jahren heruntergekommen, weil fast völlig zerfallen war. Europagelder landeten ja selten dort, wo sie sollten. Und die »Paranze« müssen nun nicht mehr Crack-Dealer werden, die irgendwann, wenn sie überflüssig würden, vielleicht ganz einfach abgeschossen worden wären, mitten am Tag, mitten auf der Straße. So richtet Albath – ich weiß nicht, ob bewußt – gegen das brodelnd Mythische der Stadt die moderne Rationalität (»intellektuelle Strenge«, ecco), findet auch napoletanische Vor- und Mitstreiter, – streiterinnen, bewundert (und erklärt) Benedetto Croce und muß aber dennoch schreiben, mit Giambattista Vico: »Das Denken ist (…) von seinem wilderen, ungezügelten Untergrund nicht getrennt, der immer gegenwärtig bleibt«, ja gesteht sogar ein: »Die Autonomie des Ichs ist eine Schimäre.« – Daß sie dies wagt, ist groß. Gefallen haben wird es ihr nicht

– was sich an ihrer kurzen Auseinandersetzung mit Curzio Malaparte zeigt: »Er hieß eigentlich Kurt Suckert und bezeichnete sich als arci-italiano. Das ist genauso martialisch gemeint, wie es klingt.« Doch damit geht’s erst los. Einen »Verführer« nennt sie ihn, »mit einem untrüglichen Gespür für die Macht«, dandyhaft, nazisstisch, »ein Chamäleon«. Entsprechend läßt sie an seinem berühmten Roman »Die Haut« kaum ein gutes Haar, hält ihm die »wohltuende Nüchternheit« des in tatsächlichem wie metaphorischem Sinn »britischen« Offiziers Norman Lewis entgegen: »(…) anders als Malaparte, der das Obszöne und Makabre wie eine Offenbarung beschreibt, mystifiziert Lewis die Stadt nicht.« Was er freilich auch nicht tun muß; Neapel hat das längst selbst besorgt, und mit sich seine Menschen. Ich habe darüber → ein Hörstück geschrieben.
Florian Illies vermittelt übrigens ein anderes Bild: »›Die Haut‹ ist ein epochaler Roman über die Widerstandsfähigkeit des Alten Europa im Moment seiner größten Gefährdung« schreibt er in seinem Vorwort zur ebenfalls in diesem Jahr erschienenen und offenbar → grandiosen Neuübersetzung von Frank Heibert. (Ich habe sie noch nicht gelesen, kenne nur die alte von Hellmut Ludwig, damals noch im schließlich von Holtzbrinck geschluckten Verlag Stahlberg, in dem auch Arno Schmidt publizierte; aber die neue liegt hier schon bereit.) – Ist es also nicht komplett wurscht, ob ein Autor solch eines Buches eitel und poltitisch fragwürdig ist? Ja du meine Güte, soll er … Ezra Pound war überzeugter Mussolini-Faschist und ist dennoch einer der größten Lyriker der Weltgeschichte, um von dem schweren Rassisten Luis-Ferdinand Céline zu schweigen, der die französische Romandichtung vermittels seiner Punktschrapnellen parataktisch revolutioniert hat. So hat die Pléiade selbst ihn aufgenommen. Erwachsen zu sein nämlich heißt, auch harte Ambivalenzen auszuhalten – wofür Neapel das geeignete Trainingsstadion ist, ein Colosseo der Lebens- und Handlungsunvereinbarkeiten. Und was noch einmal die »Mystifizierung« anbelangt … – schreibt mit Erri de Luca Albath denn nicht selbst, die napoletanische Zeit sei nicht mit Uhren meßbar, »(ist) nicht in Sekunden, Minuten und Stunden unterteilbar«? Mehr noch, bewundernd affimiert sie, und zurecht, Anna Maria Ortese: »Zwischen Erfundenem und Wirklichem zu unterscheiden, schien ihr verkehrt, denn gerade in dieser Sphäre lag für sie das Wahrhaftige eines Ortes verboren. Neapel war für die Schriftstellerin auch ein Reservoir des Wundersamen.« Das Sie sich, meine Leserinnen und Leser, aber nicht blumig vorstellen dürfen. Nach wie vor gilt: »Die Lage ist explosiv, erst recht, seit das Bürgergeld von der Regierungschefin Meloni im Handumdrehen abgeschafft wurde.« Doch war’s schon lange vorher, denn »der Totenkopf steht für eine Seele im Purgatorium, die man um Vergebung bitten« nicht nur kann, sondern wahrscheinlich auch muß. Sonst verflüssigt sich das Blut San Gennaros nicht, des Heiligen der Stadt, und dann wird’s noch viel schlimmer. Das Tourismuskapitel des Buches zeigt schon arg genug, was profan längst vor sich geht, Albath spricht sogar von »sozialer Säuberung« vermittels Airbnb und booking.com, sieht sie als eine »private Kolonisierung«. Die kleinen Gewerbebetriebe verschwänden, junge Familien und Studenten fänden keine Bleiben mehr … Ein ganzer Mythos wird disneyficated.

So zieht sich nämlich auch dies durch Albaths nicht nur stilistisch vorzügliches Buch: politische Anteil-, aber mehr noch eigene Positionsnahme. Was aber genau mit das Problem Neapels ist. Die politisch notwendige Rationalität wird von der brodelnden Phantastik dieser Stadt und ihren – hinreißende Formulierung, danke, Maike Albath! – »zu Stein gewordenen Lebensgefühlen« permanent hintertrieben und durchkreuzt, da hilft nur der schon genannte »aufmüpfige Optimismus« – den diskret die Autorin zwar anschwärmt, aber nicht hat. Haben auch nicht muß, vielleicht sogar haben nicht dürfte; andernfalls hätten wir wahrscheinlich dieses Buch jetzt nicht, das viel mehr als eine Folge eleganter, gebildeter Feuilletons, vielmehr ein Durchmessen auch der eigenen Seele und ihrer Katakomben ist. Wozu Mut gehört, wenn das Irrationale, das die Autorin ablehnt, plötzlich »eine regenerative Kraft zu entfalten« scheint. So formuliert sie auf ihrem Ausflug in Roberto Rosselinis Spielfilm »Viaggio in Italia« (1954) ebenfalls im Buch. Wir können nur hoffen, daß solche Entfaltung weiterhin geschieht – und müssen die Stadt, als Touristen, fortan vielleicht meiden, wenn wir uns nicht mitschuldig machen wollen – auch wenn es für mich selbst ein Verlust von Heimat wäre, Neapel zum verbotenen Sehnsuchtsort würde und also, ganz wie Jorge Louis Borges’ Palermo in Buenos Aires, imaginär. Da ist das Blau der Hoffnung nun doppelt bitter geworden, den Gästen Neapels nämlich auch, die es verfallen lieben.

Denoch. Ich könnte mehr von diesem Buch erzählen und dennoch weiter preisen, aber möchte nicht mehr spoilern (die Crux nahezu jeder Kritik, die begründet) und die Abenteuer schmälern, die Frau Albath für Sie noch bereithält. Also los und – kaufen. (Bei Faust freilich reicht schon ein → KLICK.)

Letzte Änderung: 05.11.2024  |  Erstellt am: 04.11.2024

Bitteres Blau Neapel und seine Gesichter | © Foto: Berenberg Verlag

Maike Albath Bitteres Blau Neapel, und seine Gesichter

352 Seiten
Abbildungen
Halbleinen
fadengeheftet
134 × 200 mm
Auch als e-Book erhältlich

EUR 26,00

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