Wo SpaceX zur lahmen Ente wird

Der Blick in den Himmel konfrontiert uns mit Fragen nach unserer Herkunft und Identität, auch wenn die Rekonstruktion unserer Vorgeschichte längst vom brutalen Weltraumimperialismus angesichts einer von Geld- und Machthunger ausgeplünderten Erde überblendet zu sein scheint. Raoul Schrott erkundet in seinem neuen Buch „Atlas der Sternenhimmel und Schöpfungsmythen der Menschheit“ die kulturelle und mythische Bedeutung der Sternbilder. Jan Röhnert hat das Buch gelesen und beleuchtet das einzigartige Panorama, das den Sternenhimmel als gemeinsames Gedächtnis der Menschheit begreift.
Kennen Sie das? Sie schauen in einer klaren Nacht nach oben, und können sich der Unendlichkeit des Himmels nicht erwehren, gleichermaßen süchtig, darin etwas zu erkennen, etwas lesen zu wollen, wie taumelig ob der Grenzenlosigkeit: Ein paar Sternbilder können Sie noch herausfiltern, den Großen Wagen, Orion mit seinem Plejadengürtel um die Hüften, vielleicht noch Herkules und Waage, doch schon unsicher, wo und was waren noch einmal Leier, Vega, Kassiopeia, Schütze, Aldebaran, Stern oder Sternbild, aus dem (eigentlich vorderasiatischen) Tierkreis oder der griechischen Mythologie, alles mittlerweile irgendwie in unserem Bildungshintergrund verschüttet, sofern wir keine Hobby-Astronomen oder -Astrologen sind.
Vielleicht fallen einem The Rolling Stones noch mit einem ihrer schönsten Hits, 2000 Light Years from Home, noch eher ein als ein Zitat von Rilke oder Apollinaire über die Milchstraße und Unendlichkeit des Sternenhimmels, aber so viel wir auch darüber wissen mögen, so viel wir am Himmel ausfindig zu machen suchen, in vagen Vermutungen und Andeutungen Verbindungslinien ziehen, was da zu welchem Bild gehört, wissen wir doch zugleich, dass all dies nicht ausreicht, um die Unendlichkeit dessen zu verstehen, was jenseits unserer Atmosphäre geschieht.
Auf einem derart durch die Menschheitsjahrtausende leuchtenden Sternenhimmel, an den Raoul Schrott uns hier wieder erinnert, bleibt SpaceX höchstens eine lahme Ente, eine Eintagsfliege im Schoß der Unendlichkeit. Die Monokultur des »Space Age« hat viel weniger Phantastisches hinterlassen, als uns die populäre Science-Fiction-Literatur glauben lassen wollte.
Wir wüssten besser, was uns die Sterne tatsächlich alles zu sagen, zu erzählen hätten, wenn es uns gelänge, einmal von urbanem Schall und Wahn unbehelligt – in einer Wüstennacht beispielsweise oder an einem unbegradigten Fluss liegend – lange und intensiv in den klaren Nachthimmel zu blicken. Raoul Schrott muss das oft getan haben und dabei zur Idee seines Buchs gekommen zu sein. Auf den ersten Blick mutet es folgerichtig, wenn auch ein wenig gigantomanisch an, wenn er sich nach seinem Buch über die Entstehung unseres Planeten, Erste Erde, das so wunderbar vielstimmig im Zusammenspiel von Poesie und Naturwissenschaften die Genese unseres Bildes von der Welt aus unzähligen Mosaiksteinchen von Forschung und Erleuchtung zusammensetzt, nun ins All begibt.
Er wird dabei jedoch viel weniger naturwissenschaftlich, selten äußert sich der Astronom, etwa, wenn es um die tiefenräumliche Ferne für unseren Blick miteinander in Sternbildern verbundener Himmelserscheinungen geht, meistens jedoch ist hier ein wahrhafter Enzyklopädist am Werk, der konsequent und in einer Fülle wie meines Wissens nie zuvor die universellen und kulturgebundenen Mythen und Erzählungen von den Sternbildern zusammenträgt, die Struktur des Erzählten zueinander ins Verhältnis setzt, gerne dabei auch verschiedene Kulturen als in ihrer Art strukturell verwandt freilegt.
Es ist der habilitierte Komparatist, der in diesem Buch sein Handwerkszeug beherrscht und zugleich der versierte Geschichtenerzähler und Kompilator Raoul Schrott, der sein Können an den Sternen misst. Man mag bedauern, dass es ihm hier weniger um poetische Naturkunde (Astronomie, aber auch an den Himmel projizierte Erdkunde – wie all die Tier- und Pflanzennamen gerade in den Sternen indigener Völker zeigen, aus deren Wissen er zitiert), als vielmehr darum geht, wie wir anhand der Sternbilder letztlich von uns selbst und unserer condition humaine erzählen.
Gemessen am Umfang des Buches ist nur eine kleine Einleitung zur gestaltbildenden Kraft unseres Gehirns vorangestellt, dem Konstruktionsvermögen unserer Synapsen, dem auch das Entstehen poetischer Bilder zu verdanken ist, wie Raoul Schrott schon einmal vor knapp 20 Jahren im Buch Gehirn und Gedicht dargelegt hat. Freilich, an einer Stelle des Buches gesteht er, es soll auch Räume und Zeiten geben und gegeben haben, die ohne Sternbilder auskommen oder ausgekommen sind, aber alles deutet darauf hin, dass uns der Blick zu den Sternen (wie seinerzeit kongenial Stanley Kubrick in 2001 – A Space Odyssey in der Eingangssequenz vom knochenschleudernden Hominiden zum Weltraumschiff illustrierte) anthropologisch mitgegeben ist.
Bei Raoul Schrott gibt es weder einen Kampf der Kulturen noch einen Untergang des Abendlandes, (fast) alle Kulturen, und das ist das Menschenfreundliche bei ihm, haben einen Sternhimmel über sich, und haben aus ihm ein mythisches Gedächtnis der Menschheit gemacht, etwas, das als immaterielles Weltkulturerbe bezeichnet werden mag und in diesem Buch erstmals unter einen Deckel kommt – unerschöpflich, wie der Sternenhimmel selbst. Es genügt, immer wieder von neuem zufällig die Seiten aufzuschlagen, um erneut mit völlig neuem (und wieder: kantisch-ehrfürchtigem) Blick nach oben zu schauen. So wunderbar, so einzigartig sind wir also. Könnten wir sein. Sehen zu den Sternen und erzählen dabei, wie schön es doch auf Erden ist. Statt Kriegen sollte es künftig nur noch Wettbewerbe im Sternbilderzählen zwischen den Kulturen geben; der Stoff ginge uns nicht mehr aus – Raoul Schrott liefert dazu die beste Munition.
Raoul Schrott: Atlas der Sternenhimmel und Schöpfungsmythen der Menschheit. München: Hanser 2024.
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Letzte Änderung: 19.02.2025 | Erstellt am: 10.02.2025
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