Nicht ihr Buch „Eine Nebensache“ wurde zur Hauptsache in den Streitereien um die israelische Autorin palästinensischer Herkunft, Adania Shibli, sondern On-dits aus der Vergangenheit. Vorwürfe, Beschuldigungen, Rücknahmen von Zusagen, Verteidigungen, Einsprüche, die auf Narrative hinauslaufen, die bedient oder nicht bedient werden. Johannes Winter beschloss, aus der Gerüchteküche herauszutreten und das Buch erst einmal zu lesen, bevor er darüber schreibt.
Ein schmales Werk in zwei Teilen, spiegelbildlich konstruiert, zwei Epochen der jüngeren Geschichte von Nahost. Zunächst die Vergangenheit, die Zeit der Staatsgründung Israels. Erzählt wird ein Geschehnis vom Ende der 40er Jahre am Rande der Negev-Wüste, wo eine Einheit des israelischen Militärs ihr Camp aufschlägt, um sich der Vertreibung von Beduinen zu widmen, unter Führung eines Offiziers. Parallelhandlung: Dieser, der Protagonist, wird von einem Skorpion gebissen. Die Wunde entzündet sich, was nicht nur Schmerzen und Krämpfe, sondern auch Gestank zur Folge hat – das Olfaktorische, das als durchdringende Metapher den Gang der Handlung begleitet.
Während einer Patrouille in der Hitze der Wüste nimmt der Trupp eine Beduinin gefangen, deren Körpergeruch die Soldaten zum Anlass nehmen, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und die Haare, von ihnen mit Benzin getränkt, abzuschneiden, um die junge Frau anschließend mit einem Schlauch abzuspritzen. Ob Anlass oder nicht, das Camp gibt sich am Abend des Tages einem Festschmaus hin, dem ein Verbrechen folgt. Die Soldaten vergewaltigen die Frau. Bevor sie, unter Anleitung des Offiziers, eine Grube ausheben, in der das Opfer, erschossen, entsorgt wird.
Der andere Teil, eine Ich-Erzählung, ist der Gegenwart gewidmet, sozusagen der zweite Blick. Eine palästinensische Frau – Alter Ego der Autorin? – entdeckt einen Zeitungsbericht über den historisch verbrieften Vorfall. Bei der Lektüre fällt ihr auf, dass das Todesdatum des arabischen Mädchens mit dem ihrer Geburt übereinstimmt. Für sie Ansporn genug, die näheren Umstände des Verbrechens aufzudecken. In Ramallah im besetzten Westjordanland bricht sie auf, hält sich mit ihrem Pkw an Palästinensern erlaubte Straßen ins benachbarte Israel und erzählt – eine Art Road Movie durch Feindesland – von Beobachtungen, Eindrücken und Erkenntnissen aus dem Alltag der Besatzung, wo „der Tod allgegenwärtig“ ist. Ihr palästinensischer Blick, erfahrungssatt, leitet die Lektüre und lehrt, dass sie durch ein Land reist, das aufgeteilt ist in Zonen, in A, B, C und D, mit Checkpoints und Kontrollen, mit Mauern und Dorfruinen, mit Grenzen und Einschränkungen, sich zu bewegen. In einem trockenen, zuweilen von dezenter Ironie getragenen Stil, der, oszillierend zwischen Realität und Fiktion, dem Vorhaben, ein Geheimnis zu aufzudecken, zur Hand geht.
Dies trägt dazu bei, dass sich die Suche nach Ort und Tathergang des Vorfalls, nach der „ganze(n) Wahrheit“, wie eine Reportage mit Krimi-Charakter liest. Die Lektüre lässt teilnehmen an einer Recherche, die gefüttert ist mit dem Studium von Landkarten im Gepäck, aus denen angesichts der durcheilten Realität historische Dokumente werden, Belege für die unterschiedlichen Sichtweisen von Israelis und Palästinensern. Sie begleitet eine Suche, die angereichert ist von Begegnungen mit der Scheu Einheimischer, welcher Seite auch immer. Und sie folgt einer Nachforschung, die durchdrungen ist von Angst, von der Panik der Protagonistin, unentrinnbar.
Ihr waghalsiges Unternehmen endet tödlich. Im Archiv eines Kibbuz hatte sie eine entscheidende Spur entdeckt. Ihr Fehler: sie betrat militärisches Sperrgebiet, an der Grenze zum Gazastreifen.
Das Buch schlägt einen Bogen von der Staatsgründung Israels – beginnend bei der Vertreibung, palästinensisch ‚Nakba’, der palästinensischen Bevölkerung – bis in die Gegenwart, zu deren Bestand die besetzte Westbank gehört. Während der erste Teil durchsetzt ist vom Motiv des Gestanks, der keine Rücksicht nimmt auf Herkunft und Zugehörigkeit, vielmehr israelische und palästinensische Nasen eint im Ekel vor Schweiß, nimmt der zweite die Atmosphäre der kargen Landschaft auf, nicht ohne ihr eine andere, in diesem Fall akustische Kontinuität unterzumischen: Hundegebell, ewig heulende Hunde, tierische Laute – auch sie gehören zum Alltag von Nahost. –Das schmale Werk lässt sich zuklappen mit der Erkenntnis, Umständen von Aussichtslosigkeit nahegekommen zu sein.
Adania Shibli war der jüngste LiBeraturpreis zugesprochen worden. Auf der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst sollte er ihr verliehen werden, die im Schatten des Überfalls der Hamas am 7. Oktober stattfand. Umstände, die dem Werk erhöhte Aufmerksamkeit, aber auch Bedeutung gaben. Und die Verschiebung der Verleihung bewirkten. Als sie Wochen später stattfinden sollte, hatten sich mehrere Veranstalter zurückgezogen. Berichte über den Boykott könnten, über den Inhalt des Buches hinaus, eine gesteigerte Aufmerksamkeit bewirkt haben, aus der resultiert, dass der Roman der heute in Berlin lebenden Autorin inzwischen zweistellige Auflagen erreicht hat.
Kein Zweifel, nach dem Albtraum des Pogroms der Hamas, der in Israel nicht nur eine Re-Traumatisierung bewirkt, sondern das Land zu einer Kriegsführung bewogen hat, die Züge von Vergeltung trägt, liest sich Shiblis Buch anders als zuvor. Wenn nicht das Echo der Waffen, so heftet sich Mitgefühl für die Toten an die Lektüre.
Letzte Änderung: 18.01.2024 | Erstellt am: 17.01.2024
Adania Shibli Eine Nebensache
Adania Shibli
Eine Nebensache
Deutsch von Günther Orth
128 S., geb.
ISBN-13: 9783949203213
Berenberg Verlag, Berlin 2022