Welch ungeheures Buch! – so schmal es auch ist

Welch ungeheures Buch! – so schmal es auch ist

Rezension zu Rudolf von Waldenfels’ Roman „In die Nacht“
Buchcover „In die Nacht“ | © Mitteldeutscher Verlag

In seiner eindrucksvollen Rezension beschreibt Alban Nikolai Herbst „In die Nacht“ als ein „ungeheures Buch“, das trotz seiner Kürze eine tiefe Erschütterung hinterlässt. Was zunächst wie eine persönliche Begegnung auf der Leipziger Buchmesse beginnt, entfaltet sich zu einer literarischen Entdeckung von außergewöhnlicher Kraft: Waldenfels’ autofiktionaler Text konfrontiert Krankheit, Angst, Tod und Geschichte – mit einer poetischen Präzision, die zugleich erschüttert und erlöst. Herbst folgt dem Autor durch eine Nacht der existenziellen Grenzerfahrungen, in der Schmerz, Erinnerung und Schönheit in dunklem Glanz verschmelzen.

Abwärts wend’ ich mich zu der heiligen,
unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht.
Fernab liegt die Welt, in eine tiefe Gruft
versenkt; wüst und einsam ist ihre Stelle.
Novalis, Hymnen an die Nacht

Ich flaniere über die Buchmesse, Leipzig im März. Als mich ein hochgewachsen schlanker Mann anspricht, ihm zur Seite eine Frau: „Sie sind doch Alban Nikolai Herbst?“ „Ja, bitte?“ „Ich möchte Ihnen ein Buch von mir geben.“
Er spricht dies selbstbewußt, nicht die Spur eines Bettelns dabei, eher eine Sachlichkeit, die nur, daß es dringlich sei, nicht verhehlt. – Das schmale Buch ist schwarz, ist grau, ich muß beim Titel sofort an Novalis denken. Und: Mitteldeutscher Verlag, der Verlag des großen Romanciers Christopher Ecker … da war ich doch grad, hatte herumgeguckt, was es Neues dort gebe. Dieses Buch war mir entgangen.
Dem entspricht jetzt genau meine Skepsis: Situationen wie diese sind mir nicht angenehm, weil sie irgendwie ungut verpflichten: In den allermeisten Fällen sind so übergebene Bücher grottenschlecht. Dabei macht der Herr, ja, ein Herr, gar nicht den Eindruck, etwas von mir zu wollen, nur, daß er meine, es sei, speziell dieses Buch, für mich. Zudem erklärt er, daß wir uns kennten.
Ich kann mich nicht erinnern, was gleich die zweite kleine Pein, eine verdruckste Peinlichkeit ist. An die ich leider gewöhnt bin – und besser also, ich frag nicht, woher. Immerhin halt’ ich im Smalltalk den Stil. Und nehme natürlich das Buch, mag nicht obendrein unhöflich sein.
Die Begegnung hat vielleicht drei, vier Minuten gedauert. Dann erst, wieder allein auf dem Gang, lese ich den Namen des Autors: Rudolf von Waldenfels. – Anstatt mich zu erinnern, gehn sofort die Vorurteile in mir los … in mir, ausgerechnet! AfD vielleicht, gar affirmative NS-Geschichte? Kommt auch tatsächlich vor, die Geschichte, aber nicht wie befürchtet. Im Gegenteil nämlich, so daß ich dieses „für mich“ denn endlich, endlich begreife, auch die gespürte Dringlichkeit begreife. Da habe ich mich aber schon kundig gemacht.
Auf seiner Website kürzt er das „von“, v. Waldenfels. Also tatsächlich Aristokrat, anders als meiner ein alter Adel. Ich habe sofort Niebelschütz im Kopf, Anciennität … – Nur: Wie geht das mit Motiven der Geschichte zusammen, die dieses Buch erzählt?
Nun jà, wie ging denn mit meiner eignen Familiengeschichte meine eigene Kindheit und Jugend zusammen? Immerhin, geschlagen, bis das Blut kam, wurde ich nie, nur mit dem Teppichklopfer, selten – was auch mehr Slapstick war als wirklich Gewalt.
All das aber auch | denk ich erst viel später. Denn wie ein kleines, in seine Folie verschweißtes Gift lasse ich das Buch lange, sehr lange liegen auf dem Stoß, über Wochen, gefühlt, zwischen den Stößen – Mehrzahl, ja Mehrzahl – ungelesener Bücher. Dabei war mir der Mann „eigentlich“ sympathisch …
Vor ein paar Tagen fange ich zu lesen endlich dann an.
Fange an. Und hör nicht mehr auf. Lese fasziniert und von Bildern überschüttet in beinah einem Rutsch; da ich das Buch spät am Abend in die Hand nahm, lag nur eine Nacht dazwischen, bezeichnenderweise. Ich brauche, um zu denken, Licht.
Nicht nur das trennt den Autor und mich. Umso stärker der Sog, in den er mich zieht – vermittels, offenbar, einer Strömung, die uns eben doch verbindet: Wir haben beide eine Krebsgeschichte. Nur ging ich mit meiner anders um. Wenngleich, auch ich habe → über die meine geschrieben; auch daraus soll ein Buch entstehen. Nur habe ich nie Angst gehabt, für nicht einen einzigen Moment, geschweige solche Panik, daß ich mich wie er auf den Boden geworfen und geschrien hätte, geschrien und geschrien – ein Anfall, der den kultivierten Mann, obwohl schließlich Entwarnung kam, derart schockierte, daß von einer schweren Traumatisierung gesprochen werden muß, aus der er sich, indem er sich ihr stellte, aber erhob.
Wie er das tat, erzählt dieses Buch …

Er wanderte, wanderte allein, wanderte ins Dunkel – und hat eine An- und Verwandlung erlebt, Anumverwandlung muß ich sie nennen, in höchster poetischer Form. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es sich wirklich, wie die Titelei behauptet, um einen Roman handelt, selbst wenn er, meint wiederum der Klappentext, autobiografisch ist; am ehesten handelt es sich um eine Autofiktion, die den zweiten Teil des Wortes, anders, als unterdessen Usus, ernstnimmt. Doch darauf kommt es nicht an. Fürs Autobiografische gibt es einige Indizien, zu denen eben auch des Dichters, denn das ist er, Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte gehört. Nur daß auch „Auseinandersetzung“ falsch ist; es ist ein so fasziniertes wie erschrecktes und vielleicht grad darum mutiges Hin- und Hineinhören, zumal für einen so
ängstlichen – ich schreib mal ungeschützt: – Hypochonder wie ihn:

Rein äußerlich führe ich eine ruhige, sichere Existenz; doch innerlich wanke ich sozusagen von Katastrophe zu Katastrophe.

Jetzt will er das hören, was ihn so schreckt. Etwa montiert er in seine Prosa zwei lange Zitate aus Schriften seines nationalsozialistischen Großvaters – ein literarisch ganz enormer Vorgang, indem er sie zwar in Anführungszeichen setzt, aber nicht etwa durch Einrückung absetzt, sondern dem eigenen Text sie anverwandelt. Wie er dem Schrecken nahekommt, so deshalb nun auch wir, die Leserinnen und Leser. Da dieser Autor nicht moralisiert.
Genau diese Haltung nimmt er gegenüber dem Krebs ein: Sie wird zum Umgang mit dem Tod. Dabei weiß er, Psalm 22,2, wir sterben alle allein:

„Gottverlassenheit“ ist vielleicht die schlimmste Empfindung, die es gibt. Sie bedeutet nichts anderes, als daß wir vor dem nackten Nichts stehe; da ist nichts mehr, was uns hält, nichts mehr, was uns bindet, da ist nichts mehr, was uns trösten oder retten kann. Es ist die totale Einsamkeit, in der der Tod als eine Verheißung erscheint.

Selbst dem Anblick des eigenen Körpers mißtraut er seit dem Schock:

Ich sah ihn im Spiegel nicht mehr mit Zuneigung, sondern mit Mißtrauen an …,

indessen mir nach meiner OP zwar gleichfalls bewußt wurde, es werde sich mein Blick auf den eigenen Körper grundlegend wandeln, verwandeln müssen. Ich kam dem indes mit einer radikal veränderten Selbstgestaltung nach. Dagegen Rudolf v. Waldenfels setzt ihn physischen Grenzerfahrungen aus, solchen der Natur, besonders der Kälte; daß er erfrieren könne, ist fast ein Leitmotiv des Buches. Doch Angst, so heißt es, schärft die Sinne. So tut es bei ihm besonders der Krebs.
Bezeichnend dabei, wie sinnlich dieser Dichter den Tod umfaßt … nicht verklärend, nicht banal verwischend, sondern indem er ihm die Worte sucht, präzise. Und sie auch findet. Es sind keine der resignierten Milderung, der Befund bleibt brutal. Doch hierfür gilt, was v. Waldenfels der Pornografie attestiert, schon das sehr mutig und nämlich darum wahr:

*Ich lief zu einem genau definierbaren Zeitpunkt durch einen genau definierbaren Ort, gleichzeitig aber befand ich mich auch im Zeitlosen und Ortlosen. Alle Bindung war aufgehoben und dennoch fühlte ich mich geborgen. *

und diesen neuen Novalis unversehens einswerden mit dem Universum läßt, und zwar ohne auch nur die Spur von Esoterik:

Das Pornografische erschreckte einen, brach einen innerlich auf; so war man offen für das Verzweifelte, das ungehindert in einen hineinströmen konnte,

Um es konkret zu fassen:

Es war genau dieser Anblick, der den Schmerz endlich in mir löste: Mit ihren weiß schimmernden Gipfeln, die bis hinauf ins Weltall ragten, waren die Berge (…) ein Sinnbild …) der Erlösung.

Die bis hinauf ins Weltall ragten:

Wenn man nächtliche Satellitenbilder der Erde betrachtet, dann begreift man, daß unsere Zivilisation eigentlich ein Lichtnetz ist, das wir über den Planeten geworfen haben. (…) Wir sind in einer leeren Masche des Lichtnetzes angekommen.

Um diese Masche her | ver- und ineinanderschwimmt die jetzige Wanderung mit vielen Wanderungen zuvor; oft greifen ihre Erzählungen nahezu ansatzlos ineinander. Was aus der Zeit ein Kontinuum formt, das zugleich enorm präzisiert … die, hätte Whitehead geschrieben, Entitäten präzisiert. So daß der harte Realismus, der diese Prosa grundiert, nicht in Phantastik „übergeht“, nein, Phantastik ist:

Links unten im Tal sprühte die Fabrik (…) ihr Licht wie ein Vulkan gegen die niedrige Wolkendecke. (…) Diese Welt hatte sich in etwas Mysteriöses und Wunderbares verwandelt.

Sie sprüht ihr Licht … – welch ein Bild! Das Buch ist voll mit sowas, und es zieht uns mit … ja, wir wandern selber mit, übernachten mit in der Ruine, die der Dichter ein „Haus der vergessenen Träume“ nennt; wir träumen also, indem wir lesen, mit. Das ist unheimlich, einfach unheimlich, weil ungeheuerlich Magie. Selbstverständlich auch dies ohne Kitsch. Schon weil der Autor auf seinen Wanderungen in die Schwärze Pfefferspray mitnimmt, zur Selbstverteidigung, derart bedroht fühlt er sich … dann sogar ein Messer … Und stellt sich im Haus der vergessenen Träume immer wieder der Erinnerung an seine Schwester, die sich das Leben nahm, und wie er die Tote nackt sah:

Ihre Nacktheit traf mich ins Mark, nicht weil ich meine Schwester noch nie so gesehen hatte, sondern weil sie ihr Totsein so offensichtlich machte. (…) Es ist die totale Entrechtung; sie steht uns allen bevor.

Ihre Nacktheit traf mich ins Mark, nicht weil ich meine Schwester noch nie so gesehen hatte, sondern weil sie ihr Totsein so offensichtlich machte. (…) Es ist die totale Entrechtung; sie steht uns allen bevor.

Aber dies, nämlich dem Ur-Schrecken ins Auge zu sehen, (…) das war wesentlich. Darum war ich hier. (…) Ich war alleine – das war die grundlegende Tatsache meines Lebens. Wenn ich ihr ins Gesicht sah, wenn ich nicht auswich, sondern standhielt – was sollte mir dann noch passieren? Was sollte mich dann noch erschrecken?

So ist es eben diese Schärfung, was das Wunder der Schönheit auch dieses Buchs herausschält:

Durch die Fensteröffnung war Schnee hereingeweht worden und hatte sich auf dem Linoleumboden zu einer unfaßbar zarten, zu einer vollendet geformten Welle aufgehäuft. Ich berührte sie vorsichtig mit dem kleinen Finger – es war, als wäre jede einzelne Schneeflocke mit Absicht genau an der Stelle plaziert worden, an der sie lag.

Genauso liegt in v. Waldenfels’ Buch nicht immer, aber zumeist | jedes Wort in den gehäuften Wellen der Sätze; meine paar Einwände wären beckmesserisch, es sind Petitessen. Sie selbst, wenn Sie lesen, werden die kleinen Läsionen wahrscheinlich gar nicht bemerken; nur bin ich halt sprachlich ein Idiosynkrat. Und werde sie, wenn überhaupt, alleine ihm, dem Autor, nennen. Das Buch ist zu kostbar – ja, kostbar ist das richtige Wort –, um’s Ihnen nicht ans Herz zu legen, an Ihr Herz und den Verstand. Denn am Haus der vergessenen Träume sind

auf seltsam stiefgeschwisterliche Weise (…) die Graffiti mit den Träumen verwandt

wie diese mit dem Tanzenden Schamanen der Höhle von Lascaux, der bei der Schwester, als sie noch Jugendliche war, direkt über ihrem Tagebuch an der Wand hing.

Auf dem Dachboden des Dichters harrt es noch immer der (Er)Öffnung: – geschrieben

in erst kindlicher, dann immer reifer werdender Schrift.

Und wir heute nun, hier … – wir lesen von ihrer Vollendung.

Letzte Änderung: 02.05.2025  |  Erstellt am: 02.05.2025

Buchcover „In die Nacht“ | © Foto: Mitteldeutscher Verlag

Rudolf von Waldenfels In die Nacht

Roman
Mitteldeutscher Verlag
Broschur, 148 S.

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