Sich aus Fremdbestimmungen zu lösen, erfordert meistens mehr Mut, als der lichte Spruch vom Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit verspricht – besonders, wenn es sich um familiäre Bestimmungen handelt. Mit ihrem Buchdebüt dokumentiert die 26-jährige Journalistin Nada Chekh ihre Emanzipation von den Zwängen einer repressiven Community, ohne sich den Zwängen der Parallelgesellschaften des Migrationsdiskurses auszuliefern. Richard Schuberth empfiehlt das Buch.
„Das Geräusch, das meine Haut machte, erinnerte an das Öffnen eines billigen Reißverschlusses aus Plastik. Das Blut schoss einen Meter weit aus dem Arm, doch ich trat seelenruhig in das Wohnzimmer, wo meine Mutter vor dem Fernseher saß.“ – Wie diese auf die durchschnittene Pulsader der Tochter reagiert, das gehört zu den verstörenden Momenten von Nada Chekhs Autobiografie einer Selbstbefreiung. Und dennoch verrät sie die Mutter nicht, denn ihre reflexive Distanz zum eigenen Leid führt zu einem gesellschaftlichen Verständnis, das weder entschuldigt noch dämonisiert.
Der Untertitel des Buchs – „Wie ich Selbstbestimmung zwischen Doppelleben und Doppelmoral fand“ – scheint auf ein breites Marktsegment zu schielen, klingt nach Selbsthilfeliteratur und der erfolgreichen Flucht vor den Eltern in die Talkshow. Doch das Buch leistet mehr als das, indem es sich weniger vornimmt. Es ist die Geschichte einer Wiener Kindheit im permanenten Double-Bind zwischen einer repressiven Familie und einer um etliches freieren Umgebung. Nada Chekh hat als prämierte Redakteurin der Wiener Migrant:innenzeitschrift biber und beim Radiosender Ö1 immer wieder den in progressiven Kreisen obligatorischen Bann der Kritik an muslimischem Konservatismus durchbrochen, ohne sich von rechts vereinnahmen zu lassen. Wer in ihrem Zeugnis aber kulturvoyeuristisch nach der Story der Befreiung aus den Händen böser Muslime sucht, wird didaktisch enttäuscht werden. Sie verdammt ihre Eltern nicht, die vor allem ihre Töchter einem strengen Sittenreglement unterwerfen wollen, aber zugleich ihre Bildung fördern und im breiten Spektrum muslimischer Immigrantenmilieus sicher nicht zu den Konservativsten zählen. Der Vater, ein Palästinenser aus Gaza, der 1956 als Kind noch die Massaker der israelischen Armee in Chan Yunis erlebte, und dem wegen der palästinensischen Attentate 1972 das Medizinstudium in München verwehrt wurde, ernährt seine Familie in Wien als Krankenpfleger und wird von seiner Tochter als gutherziger, wenngleich verschlossener Mensch beschrieben. Die Kontrolle über sie obliegt, als „Vorarbeiterin des Patriarchats“ (N. Chekh), der Mutter, einer Ägypterin aus Kairo. Sie ist die unumschränkte Herrscherin im Haushalt in der schwefelfarbigen Karl-Wrba-Siedlung im Bezirk Favoriten, den „Senfbauten“, die „wie ein großer Termitenhügel aussehen“. Diese Eltern figurieren nicht nur als Antipoden einer letztlich rebellischen Tochter, sondern als plastische Charaktere, die den normativen Druck, der, oft als Kultur verklärt, auf ihnen lastet, in der Diaspora manchmal lockern, manchmal erhöhen, jedenfalls an ihre Töchter weitergeben. Mit Fortschreiten der harmonisch wirkenden Kindheit träufeln sich immer mehr Verbote und Regeln ins Leben der Mädchen. Ihre frühe unfreiwillige Sexualisierung erfährt Nada erstmals, als sie als eine der Besten ihrer Grundschulklasse einen Jungen mit nachhause nimmt, um ihm bei den Hausaufgaben zu helfen, und dafür von der Mutter ausgeschimpft wird.
Religion spielt in dieser repressiven Gesellschaft eine geringere Rolle, als der von Hobbyislamologen, religiösen Migrantenfunktionären, Islamkritikern und -liebhabern so leidenschaftlich geführte Diskurs weismachen will, sie ist – bar jeglicher spirituellen und theologischen Dimension – der Kitt internalisierter Rollen für eine imaginierte Gemeinschaft, die nach der stumpfsinnigsten Praxis von Moral funktioniert: Man tut das, weil man es so tut.
Nada Chekh spürte „Religion nur dann, wenn sie etwas Verbotenes machte“. Aus der Perspektive von gläubigen Muslimen und westlichen Postkolonialen werden die mühsam erkämpften liberalen Freiheiten des Westens zur Gegenfolklore essenzialisiert, die sich rassistischerweise „dem Islam“ überlegen fühle – was gerade im progressiven Spektrum mitnichten stimmt, wo man den Konservatismus der eigenen Gesellschaft bekämpft, aber fremden mit akrobatischen Verrenkungen kulturrelativistischer Unlogik verteidigt.
Im „Community Panopticon“, wie Nada Chekh in Anlehnung an Jeremy Benthams Gefängnismodell die echte und internalisierte soziale Kontrolle nennt, gehört niemand sich selbst, und am wenigsten die Frauen und ihr Körper. Zwar müssen die Töchter kein Kopftuch tragen, doch werden sie in genug Reste der Geschlechterrollen gewickelt: „Meine Intimsphäre war wie eine Aktie, die auf einem abstrakten Heiratsmarkt ständig neu ausgehandelt wurde, und die, je nachdem, wie ich mich in der Community bewegte und verhielt, jeweils an Wert gewann und verlor. Verluste gingen in diesem Fall immer auf das Konto der gesamten Familie – ihr guter Ruf lastete auf den Schultern der Töchter. Ich tat daher alles dafür, mich so weit zu entwerten, bis ich nicht mehr relevant für diesen Markt sein würde.“
Der kathartische Exzess der Befreiung erfolgt im Buch dann weniger durch das Vernaschen eines um Jahrzehnte älteren Mannes, sondern einer riesigen Schweinsstelze in einem Prager Wirtshaus.
Nada Chekh liebt Galgenhumor, und die interkulturelle Reibung schlägt nun mal Funken der Komik, mit welchen die Autorin ihre Frustrationen erträglich macht und ihrer überwundenen Ausweglosigkeit immer wieder Burleskes abgewinnt. Wenn eine vegetarische Freundin die besondere orientalische Zubereitungsweise des Basmatireises lobt, den ihr Nadas Mutter auftischt, dann weiß sie glücklicherweise nicht um das Geheimnis des erlesenen Geschmacks: Rinderbrühwürfel!
Bei all dem pathogenen Leid, das die Autorin erfährt – das ihrer Mutter ist auch nicht ohne. Wie sich ihr Selbstwert durch das Ansehen innerhalb der Community, das heißt durch permanente Angst vor Gesichtsverlust bestimmt und wie sie gleichzeitig als oberstes Opfer und oberste Hüterin ihrer Sitten die Töchter von den Verderbnissen der österreichischen Gesellschaft fernhalten und ihnen gleichzeitig deren Chancen gönnen will, ist ein unmöglicher Spagat, der nur durch neurotische Kontrollsucht gelingen kann, und das auf beschränkte Zeit. Denn auch wenn die Eltern im Niemandsland zwischen Terror und Toleranz den Kampf gegen die Töchter letztlich verlieren – bis zu dieser verdienten Niederlage müssen alle narzisstischen Reserven der Schikane aufgeboten werden. Sehr bezeichnend die Episode, als Nadas Mutter bei einem Deutschlandurlaub das Kopftuch abnimmt und mit ihrem Mann Händchen hält, weil sie dort niemand kennt.
Drei beinahe unmerklich verwobene Aspekte heben Nada Chekhs Buch aus der migrantischen „Erweckungsliteratur“ heraus. Als einfach geschriebene Chronik ihrer Unterdrückung wirft sie anderen Mädchen und Frauen aus traditionellen Familienstrukturen Identifikationsseile zu, die sie sich selber drehen musste. Das ist der didaktische Aspekt des Buchs.
Und Nada Chekh, seit frühen Jahren emsige Tagebuchverfasserin, kann gut schreiben. Ihre Metaphern verleihen dem Geschehen nicht Glanz, sondern Plastizität und „platschen“ beiläufig aus dem Text wie die „perlmuttfarbenen Eingeweide“ aus dem Körper des im dritten Kapitel geschlachteten Schafs. Und kann die elterliche Kontrolle eindringlicher dargestellt werden als im folgenden Satz?: „Der Blick meiner Mutter war wie eine gigantische Piercingnadel, die sie zwischen meine Augen stach, als ob sie so Zugang zu meinen tiefsten Gedanken bekäme.“
Nada Chekh ist zu sehr Gesellschaftskritikerin, als dass sie die Überlegenheitsgefühle des nichtmigrantischen Österreichs mit dem Integrationsmärchen der dankbaren Überläuferin füttern wollte. Und doch geht sie wie in ihren journalistischen Texten mit den neueren antirassistischen Influencern hart ins Gericht, welche ihr die dunkle Farbe der perennierenden Opferrolle in die Haut tätowieren wollen. Sie selbst findet die Frage, woher man eigentlich komme, mitnichten rassistisch, harmlos im Vergleich zu den Zuschreibungen aus den Reihen der Progressiven. Wie sehr die identitätspolitische Szene „Color“ als symbolischen Marker behauptet, und dann doch immer wieder in Hautfarben-Konkretismus zurückfällt, beweist der bizarre Umstand, dass Nada Chekhs hellhäutigere Schwestern nicht als PoC gelten. „Ich finde mich und meine individuelle Erfahrung in diesem Begriff nicht wieder. In meinen Augen ist es eine oftmals voreilige Fremdzuschreibung und fühlt sich so an, als würde ich durch den Begriff erst recht auf meine Hautfarbe reduziert. Als Person mit deutscher Muttersprache und der österreichischen Staatsbürgerschaft halte ich aber ganz wesentliche Privilegien, die durch den Begriff PoC verwaschen werden. Ein ganz wichtiger Punkt ist dabei, dass Rassismus trotzdem sehr wohl existiert – er wurzelt ja erst in der Exotisierung, beziehungsweise Fremdzuschreibung durch andere.“ Solche Tabubrüche brachten ihr selbst Rassismusvorwürfe ein. „Ich dachte, wir wollten Vorverurteilungen und Schubladendenken auflösen? Warum muss ich mich dazu selbst einer Kategorisierung von außen unterziehen, die mich an meiner ,Diskriminierbarkeit‘ durch mein Aussehen misst. Das machen Rassisten ohnehin schon zur Genüge. (…) So bin ich als überzeugte Antirassistin nicht auf meine eigene ,Rasse‘ fixiert und möchte meine Hautfarbe nicht als Personality tragen.“
Die Wahrheit so klar und unschuldig zu sagen, als wüsste man nicht um die diskursiven Materialschlachten darum, erweist sich in Nada Chekhs Buch als ein raffinierter Ausweg aus der Halde an Ideologieschrott. Sie entzieht sich nicht nur ihrer Zugehörigkeit zu einer „Rasse“, sondern auch zu einem Lager. In den Hatespeeches zwischen antirassistischer Muslimpower und universalistischer Islamkritik spielen die Migrant:innen selbst nur noch eine untergeordnete Rolle, jeder Schuss an dieser Front zielt darauf ab, was die andere Seite zum Thema falsch denken mag. Die Autorin weiß natürlich mehr, als sie sagt. Doch was sie sagt, ist mehr, als sich wünschen lässt. Ihre „Sprechposition“ ist nicht die einer rassistisch verfolgten Muslima, sondern einer Selbstbefreierin an drei Fronten. Erstens aus einer repressiven ethnischen Community, zweitens von den Zuschreibungen der antirassistischen Szene, drittens davor, sich als Erfolgsmodell gelungener Assimilation herumreichen zu lassen. Wer so vielen Verdinglichungen die Stirn zu bieten weiß, nicht deren Sprechposition, sondern deren Worte haben Gewicht. Die Blume ohne Wurzeln ist stabil genug in der Realität verkrautet, um Debatten zu Rassismus und Migration auf deren Boden zurückzuholen.
Dieser Text erschien gekürzt in der Märzausgabe von konkret.
Letzte Änderung: 08.03.2024 | Erstellt am: 08.03.2024
Nada Chekh Eine Blume ohne Wurzeln
Wie ich Selbstbestimmung zwischen Doppelleben und Doppelmoral fand
222 S., brosch.
ISBN-13: 9783709981450
Haymon Verlag, Innsbruck 2023
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