Was für ein Wunder
Diktaturen oder Naturkatastrophen – schwer zu sagen, was der haitianischen Bevölkerung mehr zugesetzt hat. Solche Erfahrungen verarbeitete sprachspielerisch und -schöpferisch James Noël in seinem Roman „Belle merveille“, der jetzt mit dem Titel „Was für ein Wunder“ auf Deutsch erschien. Andrea Pollmeier empfiehlt das literarisch verwegene Buch.
„Was für ein Wunder“ – „Belle merveille“ ist ein Ausruf, der im haitianischen Französisch wundersames Glück und tiefes Unglück bezeichnen kann. Beide Erfahrungen gehören dem Volksmund nach offenbar wie Licht und Schatten untrennbar zusammen. Unter diesem Titel hat der haitianische Autor James Noël 2017 seinen ersten Roman publiziert und darin die Erinnerung an das katastrophale Erdbeben, das sich im Januar 2010 in Haiti ereignet hat, verarbeitet. „Belle merveille“ nennt James Noël auch, in einem Blogbeitrag der Online-Zeitung „Mediapart“ 2018, die Präsidentschaft Trumps.
Inzwischen gibt es den etwas mehr als hundert Seiten schmalen Roman auch in der von Rike Bolte hervorragend realisierten, deutschsprachigen Übersetzung. Das Werk ist im Litradukt-Verlag erschienen und mit dem Internationalen Literaturpreis 2020 des Haus der Kulturen der Welt ausgezeichnet worden.
James Noël, geboren 1978 in der nordhaitianischen Stadt Hinche, gehört zur Generation, die mitten in der Zeit der Duvalier-Diktatur aufgewachsen ist. Wer damals an der Seite des Regimes stand, konnte einen vor allem durch ausländische Kredite finanzierten, ausschweifenden Luxus genießen. Wer sich widersetzte, wurde durch die berüchtigte Miliz der Tonton Macoute verfolgt und getötet.
In dieser Zeit der Diktatur hat sich in Haiti ein kulturelles Milieu entwickelt, das im Blickschatten der politischen Akteure autonom und regimekritisch wirksam war. Der renommierte Intellektuelle Jacques Stephan Alexis, den Noël in seinem Roman zitiert, verschwand am Tag, als er aus dem Ausland zurückzukehren versuchte. Autoren wie Anthony Phelps sahen sich später gezwungen, ins Exil zu gehen. James Noël, dessen Gedichte vielfach vertont wurden, ist von dieser Bewegung, die Literatur in die Verantwortung gesellschaftlichen Wandels stellt, geprägt. Sein literarischer Stil ist nicht gefällig, sondern auf poetisch-sinnliche Weise äußerst wirkungsmächtig.
Auffällig ist, dass sich James Noël bewusst auf die kreolischen Wurzeln seiner Heimat bezieht und diese mit den Entwicklungen der zeitgenössischen Weltliteratur verknüpft. So nutzt er die lautmalerischen Sprachbilder der haitianischen Bevölkerung und verbindet sie mit postnarrativen Erzähltechniken der internationalen Moderne. In seinem Roman zitiert James Noël einleitend ein Haitianisches Volkslied und den bis heute prägenden französischen Lyriker Arthur Rimbaud. Er bezieht sich zudem auf den in kreolischer Sprache publizierenden Autor und Maler Frankétienne, der tief mit dem oral vermittelten Wissen der haitianischen Landbevölkerung verbunden ist, und begründet aber auch die Literaturzeitschrift „Intranqu’îllités“, in der Autoren aus aller Welt vertreten sind. Kongenial hat Rike Bolte die Fülle kreativer Sprachschöpfungen, die Noël aus diesem transnationalen Umfeld entwickelt, übersetzt und so den dichten Anspielungsreichtum der Originalfassung bewahrt. In einem informativen Vorwort macht die Übersetzerin diesen komplexen Transferprozess nachvollziehbar.
Die Erzählung beginnt mit einem feinen lautmalerischen Wortspiel „Pap-pap-pap…“ an dem Ort, an dem sich persönliches Schicksal und weltumspannende Perspektive vermischen. Am Flughafen von Port-au-Prince, dessen internationales Kürzel PAP dem Anfang des französischen Wortes „Papillon“ entspricht, ruft Noël das Bild eines zarten Schmetterlings wach, um von einem Beben zu sprechen, das Häusermassen zum Einsturz bringt und Hundertausende Menschen unter tonnenschweren Steinblöcken begräbt. Der Kontrast könnte kaum größer sein.
„Keine Stadt überwindet so schnell den eigenen Schwindel…“ schreibt Noël und folgt in fragmentarischen Schritten der „gestrichelten Spur des Lebens der Stadt“, die der bebende Vielfraß „Goudougoudou Gourmand“ in großen Teilen zerstört hat.
Immer wieder streut Noël in seine Erzählung Beobachtungen ein, die auch das Wirken der Internationalen Hilfsorganisationen nachvollziehen. Diese mieten sich wie „schwarze Schmetterlinge“ in die bürgerlichen Wohngebiete ein, überfallen die Bougainvilleas der zum Teil noch immer prachtvollen Stadt.
Die Geschichte setzt auf dem Rollfeld ein, unter einem „von Flugzeugen zerschrammten Himmel“. Bernard, der Erzähler, verlässt in diesem Moment Port-au-Prince, um seine Geliebte, Amore, in ihre Heimat nach Rom zu begleiten. Aus aller Welt starten und landen vom Flughafen aus Hilfskonvois und formen, wie Bernard sagt, eine sich aus der Luft lösende Lautlawine: „Doch als das Himmelsbrot kam, bekam ich keinen einzigen Krümel der fremden Gabe ab“. Papa Loko, der Schutzgeist der Orte aus der Welt des Voudoo, ist für ihn vom Lebens-Loko zum Todes-Loko geworden.
Auch James Noël ist im realen Leben nach Italien gezogen und hat dort während eines einjährigen Aufenthalts in der Villa Médici (1992-93) an dem Roman geschrieben. Diese rückblickende Perspektive bleibt im Roman bestehen. In kurzen, sprunghaften Sätzen folgt der Leser Bernards innerer Stimme, erinnert mit ihm Gespräche und Reaktionen auf eine zerbrechende und sich wiederaufbauende Welt. Inmitten dieser Trümmer entsteht auch die Liebe zu Amore. „Angetrieben durch den Schwung und die Wärme Amores habe ich den Absprung geschafft“, erzählt Bernard und schildert, ohne dass es zynisch klingt, auch eine „Liebeshymne inmitten von Massengräbern“.
Der Text setzt sich aus Mosaiksteinen zusammen, die in sich eigenständig wirken und zugleich in ihrer Fülle die Spannung zwischen Zerstörung und Urkraft des Überlebens nachvollziehbar machen. So wenig, wie dies in Port-au-Prince geordnet möglich war, so wenig folgt auch der Erzählfluss selbst einer erwartbaren Logik.
Noël verwendet eine Sprache, die zwischen Verweisen auf Voudoo und Googlemaps hin und her wechselt. Zynische Verwerfungen der Hilfsmaschinerie werden immer wieder einblendet. Ärzte vergessen ihren hippokratischen Eid, machen in der Mittagspause ein „Selfie vor abgetrennten Armen“. Die Kameras der Welt filmen live, „Großaufnahme des Unglücks, Zoom und Blitzlicht, der Tod direkt vor der Linse. Es wird Bilanz gezogen…“
Surreale Phantasiebilder verbinden sich mit Informationen, die die internationalen Medien über die Ereignisse verbreiten. So entsteht auf der Grundlage faktischer Inputs ein Stimmungsbild, dass sich kritisch von bereits bestehenden Narrativen distanziert und dem Bild über Haiti ein eigenes entgegenstellt. Der Roman widersetzt sich einem kompakten Narrativ. Beim Lesen muss man sich wie in Gedichten auf das Zusammenspiel assoziativer Wortschöpfungen einlassen, hinhören, um die tieferliegende Stimmung, die Unaussprechliches erahnbar macht, zu erfassen.
Letzte Änderung: 06.10.2021 | Erstellt am: 05.10.2021
James Noël Was für ein Wunder
Originaltitel: Belle Merveille
Übersetzung: Rike Bolte
Broschiert, 119 Seiten
ISBN-13: 9783940435323
Verlag litradukt
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