Bob Dylan gehört zu den Solitären der amerikanischen Popularmusik, von denen eine oder mehrere Traditionen ausgingen. Mit seinem Buch „Die Philosophie des modernen Songs“ informiert er nicht nur über 66 Songs und ihre Sänger, die er bemerkenswert hält. Er offenbart damit auch, wer und was ihn auf irgendeine Weise beeinflusst hat. Und damit stellt er sich selbst in eine Tradition. Martin Lüdke hat das Buch in seine Kindheit geführt.
Der Nobelpreisträger für Literatur hat dieses Jahr, 2022, ein Buch veröffentlicht. An sich schon eine Sensation. Viele Fotos. Viele Illustrationen, aber auch viel Text. Auskünfte, Ansichten, Deutungen. 66 Songs und, in einem eigenwilligen Verständnis, ihre „Philosophie“ werden vorgestellt. Das Ganze geht, wenn ich mich richtig erinnere, auf eine Sendereihe im Radio zurück, die Dylan vor einigen Jahren produziert hatte.
An einige, gar nicht so wenige dieser Songs, die Bob Dylan hier vorstellt, erinnere ich mich, und zwar aus den längst vergangenen Zeiten meiner Kindheit hinter dem, wie es damals in dem Sender hieß, der diese Songs brachte, hinter dem Eisernen Vorhang. In meiner Umgebung hatten die Leute, wenn überhaupt, natürlich nur ein Radio pro Wohnung. Westsender waren verboten in der DDR. RIAS-Berlin, mit mächtiger Reichweite, wurde von einem Störsender begleitet, der die Originaltöne mit einem rhythmischen Kratzgeräusch belegte. Wie es mit dem AFN, dem amerikanischen Soldatensender war, weiß ich deshalb nicht, weil ich ihn, wenn überhaupt, nur über mein eigenes, selbst gebautes Gerät empfangen konnte. Für sich genommen schon eine kleine, wenn auch bescheidene Sensation.
Für das Gehäuse diente eine leere Zigarrenkiste. Drähte waren verlötet. Ein ziemlich langer Draht diente offenbar als Antenne. Das Ganze nannte sich Detektorradio. Weitere Erinnerungen sind nahezu vollständig verblasst. Man musste nur irgendwie auf einer Art Kristall herumstochern und nach einem glücklichen Treffer hörte man zum Beispiel „AFN Frankfurt“. Der Hessische Rundfunk Frankfurt war nur selten zu bekommen, vermutlich hatte er einen nicht so starken Sender. Der AFN war sofort zu erkennen, sowohl an der Musik wie, naturgemäß, an der Sprache. Als besondere Attraktion galt damals ein (ich glaube) Darmstädter Meteorologe. Werner Lamp und sein legendärer „Wässer-Riepord“, wobei ich an den Einzelheiten naturgemäß weniger interessiert war. Aber ein amerikanischer Wetterbericht mit südhessischem Einschlag war schon als solcher bemerkenswert. Ich wollte Hillbilly hören, also Country- und Western-Music. Samstag ab 14 Uhr die Hillbilly-Hitparade. Die Klangqualität würde man heute vermutlich als nicht feststellbar bezeichnen. Ein Gekratze und Gerausche, dazwischen gelegentlich immer wieder einige deutlicher hörbare Takte. Namen konnte man, sogar relativ häufig, verstehen. Die Sendungen waren in den USA aufgenommen worden, natürlich in Nashville, Tennessee, in der alten, legendären Grand Ole Opry. Tatsächlich eine Art Opernhaus, das heute, und zwar schon seit einiger Zeit zu einer Art Museum der Country-Music geworden ist. Ein Anzug von Johnny Cash, die Gitarre von Hank Williams, Goldene Schallplatten und Fotos von allen Größen, die dort aufgetreten sind. Marty Robbins, Bobby Bare, Hank Williams, Carl Perkins, Waylon Jennings, Jimmy Reed, Johnny Paycheck. Sie alle (die hier aufgezählten) finden sich auch in Bob Dylans „Philosophie des modernen Songs“, dazu Frank Sinatra, Dean Martin, Pete Seeger, insgesamt 66 Sänger, Sängerinnen, Gruppen. Die Musik, die für ihn offenbar wichtig war. Und Biographien, die ihn irgendwie fasziniert haben. Für mich ist diese Musik auch immer wichtig geblieben. In der damals sogenannten Ostzone, der DDR, waren die Lieder von Cowboys und Outlaws, von den Weiten der Prairie, den Bergen von Colorado, oder, überhaupt, Texas zum Inbegriff meiner Sehnsucht geworden. Allein die bloßen Namen wie Arizona oder Missouri faszinierten mich. Unerreichbar. Wie es mir schien, für immer. Endlich selbst im Westen angekommen, gelegentlich den AFN, auf einem Gelände neben dem Hessischen Rundfunks untergebracht, auch vor Augen, blieb Amerika immer noch (m)ein Sehnsuchtsland. Und die Songs, die Bob Dylan in seinem (Bilder-)Buch präsentiert, drücken diese Sehnsucht aus. Bis heute.
Und wer könnte das besser klar machen als – Johnny Paycheck. Allein der Name, sein dritter (?) ist bemerkenswert. Und zudem seine Körpergröße. Seine Stimme klingt wie die eines Hünen. Aber Dylan behauptet, vermutlich zu Recht, er sei kaum größer als 1,5 m gewesen. Als Donald Eugene Lytle wurde er geboren. Mit neun Jahren beherrschte er, sich selbst beigebracht, nahezu jedes Saiteninstrument. In den fünfziger Jahren spielte er mit vielen Größen der Country-Music, Willie Nelson, Ray Price, Faron Young, George Jones. Aber mit seiner Körpergröße und mit diesem Namen konnte es nichts werden. Er nannte sich zwar schon Donny Young. Und hatte gewissen Erfolg. Platz 35 der Country-Charts („Miracle of Love“), aber erst als Johnny Paycheck hatte er den dauerhaften Erfolg.
Auf dem Album „Gunfighter Ballads and Trail Songs“ veröffentlichte Marty Robbins bereits 1959 seine berühmte Ballade „El Paso“. Eine tragische Geschichte, die am Ende nur Opfer kennt „Eigentlich sagt der Song kaum etwas Verständliches aus, aber wenn man andererseits die Zeichen, Symbole und Schemen dazunimmt, sagt er kaum etwas, das man nicht versteht.“ Es sind, wie man sieht, eigenwillige, zuweilen auch eigenartige Interpretationen, die Dylan hier liefert. Sie erschließen nicht unbedingt Text oder Noten, sondern öffnen den Zugang zu einer eigenen Welt. Zu einer „Wahrheit, die keine Beweise braucht.“
Dazu liefert Dylan auch biographische Informationen über Marty Robbins, die man nicht unbedingt erwartet hätte. Marty Robbins Großvater , Robert ‚Texas’ Heckle, auch bekannt geworden als „Texas Bob“, hatte den Bürgerkrieg mitgemacht, später unter den Generälen Custer und Crook in Montana und Wyoming geholfen, die Indianer auszurotten. Später ist er als Autor berühmt geworden, als, so Dylan, „Wildwest-Dichter“. Weiß man das einmal, dann hört man die Balladen von Marty Robbins plötzlich ganz anders. Hier und bei vielen anderen Songs und ihren Interpreten gelingt es Dylan, eine Welt zu erschließen. Dafür darf man ihm dankbar sein.
Letzte Änderung: 19.12.2022 | Erstellt am: 14.12.2022
Bob Dylan Die Philosophie des modernen Songs
aus dem Amerikanischen von Conny Lösch
344 S., geb.
ISBN-13: 9783406792847
Verlag C.H. Beck, München 2022
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