Von Petrarca bis Machiavelli

Von Petrarca bis Machiavelli

Die Geburt der Politik aus dem Geist des Humanismus
Niccolò Macchiavelli | © wikimedia commons

Die Neuzeit, also die Zeit zwischen Mittelalter und dem Barock, die wir Renaissance nennen, hat es nach Ansicht einiger Gelehrter nie gegeben, weil der Epochenperiodisierung keine historischen Taktstriche entsprechen. Dennoch gibt es nicht nur in allen Künsten spezifische Ausprägungen, die wir dem Renaissance-Humanismus zuordnen, sondern auch in der Auffassung von Politik, wie der amerikanische Geisteshistoriker James Hankins in seinem Buch über Tugendpolitik ausführt. Enno Rudolph hat beim Lesen die Fehlstellung eines Staatsphilosophen für die Renaissance bemerkt.

Ein englischer Kritiker schreibt kurz nach Erscheinen des hier vorgestellten Buchs: „‚Virtue Politics‘ is perhaps the greatest study ever written of Renaissance political thought.“ Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Buch von James Hankins unmittelbar nach Erscheinen unter Rekordverdacht steht und mit Superlativen überschüttet wird. Spontan möchte man sich nach einer ersten Lektüre des Werkes dem Urteil des Rezensenten anschließen – und dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. So ist es beispielsweise zutreffend, was aus dem zitierten Urteil herauszuhören ist: Es gibt bislang keine disziplinär übergreifende Darstellung von vergleichbarer Kompetenz, Gründlichkeit und Geschlossenheit, in der die gesamte Epoche der Renaissance unter dem Blickwinkel des Themas „Politik“ perspektiviert worden wäre. Diese Perspektiven-Einstellung verleiht dem Buch von Beginn an eine spezifische methodische Originalität. Dass Hankins sowohl die Renaissanceepoche als auch die kulturelle Bewegung, die diese Epoche prägt und organisiert – den später so genannten „Humanismus“, – mit Francesco Petrarca beginnen lässt, entspricht einem seit Jahren geltenden Konsens, der weit über die Schule Paul Oskar Kristellers, Lehrer des Autors, hinausreicht, und wurde wirksam von denjenigen Forscherpersönlichkeiten vertreten, an denen sich Hankins neben Kristeller ausdrücklich orientiert – vor allem Hans Baron und Eugenio Garin. Zwar hat man das Phänomen des Humanismus als Bewegung und die Renaissance als authentisches, vom Mittelalter deutlich unterschiedenes Zeitalter historisch markiert, indem man ihnen ein teils künstlerisches, teils wissenschaftliches und teils bildungsinnovatives Profil vermittelte, und nachzeichnete, wie nachhaltig eminente Autoren dieser Epoche aus den neu erschlossenen reichhaltigen Quellen der griechischen und lateinischen Antike u. a. Konzepte für die Generierung eines Ideals der Menschenwürde (dignitas hominis) herleiteten. Tatsächlich gewannen diese literarischen Quellen zunehmend eine neue normative Autorität, und die Namen Athen oder Rom wurden geradezu mit einer hochgradig symbolischen Bedeutung aufgeladen: Thukydides, Platon und Aristoteles standen in vorderster Reihe für Athen; Cicero, Marc Aurel, Horaz und Livius für Rom. Bei Petrarca bereits meldet sich ein lebhaftes Interesse an der Errichtung eines Ethos der solidarischen Gemeinschaftlichkeit, und zugleich gegenläufig ließ er eine starke Intention zu einer konsequenten Förderung individueller Begabungen erkennen. Man entzog die Nutzung der literarischen Quellen auf diese Weise der faktischen Zensur und der Aneignungs-Politik der kirchlichen Definitionsmacht, und ihre Anwendung wurde mit der Einrichtung neuer Studienfächer, der studia humanitatis (S. 5), dauerhaft akademisch institutionalisiert.

So weit, so bekannt. Allerdings sei – so bemängelt Hankins – in der Forschung bislang gar nicht oder zu wenig beachtet worden, dass es sich bei dieser Autonomisierung des Prozesses einer neuen auf den authentischen Originalquellen gründenden Traditionsbildung um ein veritables Politikum handelte, wobei bei diesen Initiativen von Grund auf „bewusst intendierte politische“ Projekte im Vordergrund standen. Hankins hat sich zum Ziel gesetzt, mit diesem Buch diese „Ignoranz“ der Forschung zu beenden. Und ein ergänzendes Motiv verhält sich dazu komplementär: Das Buch soll zeigen, dass es darüber hinaus eine strukturelle „Ignoranz“ („a substantial ignorance of humanistic literature“, S. XIV) zu überwinden gilt, und die betrifft ausgerechnet den unbestritten prominentesten politischen Denker der Epoche: Niccolò Machiavelli. Dessen Werk sei überwiegend ohne Berücksichtigung der politischen Literatur des Humanismus aus der Zeit seit Petrarca rezipiert worden – kontextlos und isoliert. Dadurch habe die Machiavelli-Rezeption ihrerseits besonders zur Nichtbeachtung sowohl dieser politischen Literatur als auch zu einer folgenreichen Unterschätzung der gesamten historischen Dimension dieser Bewegung, die ohne weiteres mit derjenigen der europäischen Aufklärung vergleichbar sei (S. XV), beigetragen.

Alles begann also mit Petrarca – „the real founder of Renaissance humanism“ (S. 6). Man bezeichne ihn zu Recht als den „father of Renaissance humanism“ (S. 19), auch wenn er nicht der erste Humanist gewesen sei, betont Hankins. Der Name Petrarca ist Programm. Die genuin humanistischen Ideale – die Humanisierung des Menschen durch Literatur, die Bildung der Seele zur Quelle der Tugend, gerade auch der politischen Tugend (im Sinne Platons), die Unbestechlichkeit des Prinzips Gerechtigkeit (im Sinne Ciceros) – seien seit bzw. mit Petrarca von Anfang an als politisch motivierte Maximen verstanden worden, die im Quattrocento schliesslich die Politik des gesamten Humanismus („of the humanistic movement as a whole“, S. 8) prägten. Nach Hankins’ Überzeugung hat bereits Petrarca mit seiner ausdrücklich belobigenden Würdigung einer Reihe von Fürsten – darunter Galeazzo II. Visconti, Herrscher von Pavia und ein Förderer Petrarcas („a devine and exemplary virtue that has elevated the peoples dignitas“ charakterisierte Petrarca seine Menschlichkeit, S. 160) – seinen Leserinnen und Lesern beispielhaft vor Augen geführt, wie die Vokabel der dignitas zum Schlüsselbegriff einer ganzen Literaturgattung, der „Dignitasliteratur“ (Pico della Mirandola, Giannozzo Manetti u. a.), werden konnte: Würde (dignitas) ist demnach eine eigentümliche Qualität, die andere an jemandem sichtbar werden lassen, indem sie ihn gleichsam ‚erheben‘, um nicht zu sagen: ‚erhaben‘ sein lassen. Beispielhaft ist dafür auf die einschlägige Bedeutung zu verweisen, wie sie Petrarca zufolge Furius Camillus zukommt, der – während er die Stadt Falerii in den Belagerungszustand versetzte – durch seine entschiedene Zurückweisung des Angebots, Kinder als Geiseln zu akzeptieren, zu einem Muster an römischer Gerechtigkeit und Erbarmungshaltung geworden sei – ein Beispiel, an dem sich eindrucksvoll zeigen lassen sollte, dass die Römer die Welt mit Gerechtigkeit und Tugend erobert hätten (ebd.). Geschichten wie diese belegen nicht nur das Verständnis von virtue politics, wie es Hankins’ zufolge für den Renaissance-Humanismus charakteristisch und verbindlich blieb, sondern sie illustrieren zudem das Methodenprinzip der humanistischen Geschichtsschreibung, demzufolge solche Geschichten in ihrem Zusammenhang ausmachen, was „Geschichte“ ist. Die Geschichten sind gleichsam Fraktale der Geschichte: Geschichte ist eine kontingente Verknüpfung von Erzählungen. Der Wert von virtue politics lässt sich an den beiden Geschichten von Galeazzo und Camillus unmissverständlich erkennen: Er liegt offenbar in dem historischen Beleg für die reale Möglichkeit einer Politik der Selbstlosigkeit. Entsprechend ist sie sichtbar an ihren positiven Wirkungen auf andere, insbesondere dann, wenn die herrschenden Autoritäten – seien es die Fürsten (in den Monarchien), seien es die Oligarchen (in den Republiken) – unter den Bürgern einen glücklichen und blühenden Gemeinsinn stiften.

Hankins geht immer wieder induktiv vor, d. h. er spürt die politische Intention in den Erzählungen der repräsentativen Autoren der Renaissance-Epoche auf und bezieht sich dabei vorzugsweise auf Quellen, die, wie die betreffenden Texte bei Petrarca, ihrerseits induktiv verfahren: so wenn Petrarca etwa aus seinen eigenen historischen Erzählungen über herausragende Wohltäter unter den Herrscherpersönlichkeiten sowohl seiner Zeit als auch der Antike zu verallgemeinerungsfähigen Schlussfolgerungen über Menschenwürde und Toleranz gelangt. Es ist ebenso originell wie faszinierend, wie es Hankins gelingt, eminente Figuren höchst unterschiedlicher kultureller Tätigkeitsfelder dieser Zeit – der Poesie, der im Entstehen begriffenen humanistischen Geschichtsschreibung, der Sittengemälde, der bildenden Künste und natürlich der studia humanitatis – plausibel unter dem Thema des Buches zu bündeln: Die betreffenden Akteure sind allesamt durch eine erkennbare und freilich unterschiedlich ausgeprägte politische Motivation miteinander verbunden. Im Einzelnen stellt Hankins eine Reihe subtiler und aufschlussreicher Untersuchungen des jeweiligen Gesamtwerks repräsentativer Figuren der Epoche – verteilt auf knapp 300 Jahre – an und bietet den Leserinnen und Lesern auf diese Weise eine Synopse der für die Renaissance charakteristischen Heterogenität kultureller Innovationen und künstlerischer Vielfalt. Der Begriff Politik löst dabei offensichtlich den Begriff der Kultur, wie er noch bei Jacob Burckhardt mit Epochen-integrierendem Anspruch versehen war, ab. Jede dieser Figuren steht auf ihre Weise für den politischen Kerngehalt des Renaissance-Humanismus. Es sind Namen, die dafür teilweise durchaus eine gewisse Evidenz beanspruchen können, und denen jeweils mindestens ein ganzes Kapitel gewidmet ist: Außer Francesco Petrarca ist u. a. Giovanni Boccaccio zu finden, dessen Aufnahme in die Humanistengilde Hankins verteidigen muss – spricht doch sein beharrlicher und tief sitzender Pessimismus gegen die konstruktive und optimistische Sicht auf Welt, Mensch und Politik, wie sie die humanistische Einstellung auszeichnet: „Working toward a virtuous republic of the ancient type, powerful and free, happy and glorious, ruled by the best men – the agenda of the later humanists – would for Boccaccio be unrealistic.“ (S. 216) Leonardo Bruni hingegen steht für das exakte Gegenteil. Mit Hans Baron würdigt Hankins dessen „Laudatio Florentine urbis“ als einen grundlegenden Text des Bürgerhumanismus (S. 219). Und mit Flavio Biondo, Cyriacus von Ancona, Leon Battista Alberti, Georg von Trapezunt, Francesco Filelfo wird eine Auswahl von spannungsreicher Diversität getroffen, die überraschender Weise nicht in Francesco Patrizi da Cherso, sondern in Francesco Patrizi da Siena kulminiert, mit dessen Profil offensichtlich werden soll, dass auch ein Zweifler an der politischen Stabilität einer Republik, ein Anhänger der Monarchie und Verehrer von Herrschergestalten wie Cyrus II. oder Heinrich VIII. als lupenreiner Humanist gelten kann. Nur einer ist nicht zugelassen im Zirkel der humanistischen Eliten: Niccolò Machiavelli.

Die humanistische Politik ist der Kitt, der die historisch und kulturell weit auseinanderliegenden Profile, Professionen und Wirkungsfelder dieser Figuren miteinander verbindet und verbündet: die Politik der virtue politics. Die Humanisten übernehmen damit die ehrgeizige Aufgabe, das politische Handeln zu einem moralischen Handeln zu machen, und zwar indem sie mit angemessenen Methoden ihre spezifischen Kompetenzen auf den Gebieten der historischen Wissenschaft, der Philologie, der Künste (und ihrer Theorien) und der Philosophie einsetzen, um aus der mit solchen Kompetenzen ausgestatteten „soulcraft“ der Menschen eine optimale „statecraft“ entstehen zu lassen, so wie etwa Platon das in seiner Lehre von der Seele als Quelle und Ursprung einer gerechten Polis präfiguriert hat.

An Machiavelli aber – er ist die eigentliche Herausforderung des Buches – arbeitet sich der Autor unter spürbarem Einsatz seiner gesamten wissenschaftlichen Kompetenz ab. An der zu Beginn des Buches (S. XXII; auch S. XIV) angedeuteten These, Machiavellis Politikverständnis sei untypisch für die Humanisten, hält er nicht nur fest – er forciert sie. Die Humanisten fordern die stabile und anhaltende Geltung eines moralischen Kompasses, und so erziehen sie die Fürsten. Machiavelli aber stehe für das exakte Gegenteil, wenn er dem Fürsten empfiehlt: „He must learn moral flexibility, strategic inconsistency, selective clemency and cruelty.“ (S. 452) Das ansonsten mit bestechender Textgenauigkeit geschriebene Buch bleibt hier allerdings den Beleg schuldig. Der Grund dafür ist, dass es keinen gibt. Es ist ein feiner, aber doch markanter Unterschied, ob Machiavelli den Fürsten Grausamkeit lehrt, oder ob er rät, grausam sein zu können! Heute wissen wir mehr denn je, dass besondere Umstände die politischen Akteure zwingen können (necessità), grausam zu sein – z. B. gegenüber denen, für die ein wirtschaftlicher Lock-down eine existentielle Katastrophe bedeutet. Es gibt Grausamkeiten, zu denen jeder humanistisch gesonnene Politiker im Interesse der Erhaltung des „bene comune“ in der Lage sein muss. Hätte Machiavelli hingegen Grausamkeit als politische Tugend bewertet, dann hätte er an Cesare Borgia als Idol festhalten können, von dessen mangelnder Eignung als Befreier und Einiger Italiens er sich am Schluss seines „Principe“ aber ebenso überzeugt zeigt, wie er sich ausdrücklich und uneingeschränkt in die Nachfolge Petrarcas stellt. Machiavellis virtù also könnte sich doch am Ende als hinreichend humanistisch erweisen, um den Ausschlußkriterien des Autors zu genügen.
Bedauerlich bleibt daher, dass Hankins seine herausragende Kompetenz als Analytiker der Texte dieser Zeit nicht einsetzt, um zu prüfen, ob nicht Machiavelli doch eine mögliche, wenngleich vom Mainstream abweichende Version des Renaissancehumanismus authentisch vertritt: Zu denken ist dabei besonders an den Historiker Machiavelli, der wie ein Paradigma für die Methodiken der „Humanistischen Geschichtsschreibung“ – darin ebenfalls auf Petrarcas Spuren! – historisches Wissen pragmatisiert, indem er es gegebenenfalls politisch bzw. militärisch in aktuell analogen Fällen zur Anwendung bringt: Machiavelli, der wichtigste Quellen des Humanismus – Cicero, Livius, auch Thukydides etc. – in seine Gegenwart hineintrug – so wie ein humanista das in seiner Lehrtätigkeit vorführte; und Machiavelli, ein Politiker, der nicht die Politik humanisierte, sondern der den Humanismus politisch modernisierte.

Letzte Änderung: 26.01.2024  |  Erstellt am: 26.01.2024

Virtue Politics | © wikimedia commons

James Hankins Virtue Politics

Soulcraft and Statecraft in Renaissance Italy
736 pages, hardcover
ISBN: 9780674237551
Harvard University Press, Cambridge 2019

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