Vergoldeter Niedergang des Rechts

Vergoldeter Niedergang des Rechts

Helmut Ortners „Volk im Wahn“ im Gespräch
„Adolf-Hitler-Straße“ wird abgehängt

Deutschland in den Nachkriegsjahren. Ein „entnazifiziertes" Volk müht sich, das zu vergessen, was es verschwieg: seine Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. So wurde der Nazi-Wahn zur austauschbaren Metapher des Bösen, persönliche Schuld relativiert. Helmut Ortner beschreibt in seinem neuen Buch „Volk im Wahn“ die Lebenslüge der jungen Bundesrepublik – und deren Folgen bis heute. Stephan Viewege sprach mit dem Autor.

Stephan Viewege: Einen breiten Raum nimmt in ihrem neuen Buch die Nazi-Justiz ein und die Tatsache, dass beinahe alle Nazi-Richter und Staatsanwälte nach 1945 von einer Strafverfolgung verschont blieben. Nur wenige wurden angeklagt, noch wenigeren der Prozess gemacht….

Helmut Ortner: Im Februar 1947 fand der Nürnberger Juristenprozess als dritter der zwölf Nürnberger statt. Angeklagt waren 16 hohe Justizbeamte und Richter des NS-Regimes. Gegenstand des Juristenprozesses waren der Erlass und der Vollzug der NS-Terrorgesetze, die Urteile der Nazi-Sondergerichte. Die Urteile fielen mild aus: vier Angeklagte wurden zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, vier weitere wurden freigesprochen. Im Übrigen verhängte das Gericht Freiheitsstrafen von fünf bis zehn Jahren Zuchthaus…

Sehr milde Urteile für die Verantwortlichen einer Terror-Justiz …

In der Tat. Es gehört zu den traurigsten Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass viele Nazi-Juristen nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. In meinem Buch schildere ich die unterbliebenen oder auch gescheiterten Versuche, die Verbrechen der Nazi-Justiz als Teil der Mordmaschinerie des nationalsozialistischen Regimes durch die personell wenig veränderte Justiz der Bundesrepublik zu verfolgen. Es war die Zeit der »Integration der Täter«. Die meisten Ex-Nazi-Juristen – auch jene, die für Todesurteile verantwortlich waren – konnten in der Adenauer-Republik ihre Karrieren fortsetzen und gingen später gut versorgt in Pension, während die Opfer um mickrige Rentenansprüche kämpfen mussten. Kein Volksgerichtshof-Richter wurde nach 1945 verurteilt. Eine unerträgliche Tatsache.

Die Nazi-Richter argumentierten, damals nur geltendes Recht gesprochen zu haben. Ganz nach der Rechtfertigung des ehemaligen NS-Marinerichters und späteren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger, „Was damals Recht gewesen sei, könne heute nicht Unrecht sein.“ …

Ja, die meisten ehemaligen Nazi-Juristen sahen sich lediglich als ganz normale Funktionsträger, die geltendes Gesetz angewandt hatten. Die Formel von der bloßen Pflichterfüllung kursierte unter den ehemaligen NS-Juristen, häufig mit dem Hinweis, damit Schlimmeres verhindert zu haben. Eine Rechtfertigung, die bereits im Nürnberger „Juristenprozess“ nicht ohne Erfolg strapaziert worden war.
Aus der Politik gab es keine zwingenden Gesetzesvorgaben. Unter diesem Eindruck zeigte vor allem die Justiz nur wenig Neigung, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, zumal dort bekanntlich eine besonders starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war. Die Bereitschaft, in NS-Strafsachen zu ermitteln und zu handeln, ging nahezu gegen null.
Und so sprachen in den Gerichtssälen der jungen Bundesrepublik wieder ehemalige Nazi-Richter Urteile und Nazi-Staatsanwälte hielten Plädoyers. Juristen, die sich frei von Schuld fühlten und ihre nationalsozialistische Un-Rechtsprechung für „bewältigt“ hielten. Überdies ging eine ganze NS-Juristengeneration gut versorgt in Pension. So wurde der „Niedergang des Rechts nicht verarbeitet, sondern vergoldet“, wie es der SPIEGEL einmal sarkastisch formulierte …

Der Juristenprozess in Nürnberg | © Foto: United States Holocaust Memorial Museum
Nicht nur die politische Elite, auch die Gesellschaft wollte nichts mehr von dem Nazi-Barbarei wissen. Die kollektive Verdrängung, das große Verleugnen und Vergessen – eine Lebenslüge der jungen Bundesrepublik ?

Die meisten Deutschen wollten von Kriegsverbrechern, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von den NS-Verstrickungen, kurz: vom moralischen und zivilisatorischen Desaster Hitler-Deutschlands, nichts mehr wissen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit fiel lange schwer, sie erinnerte an eigene Versäumnisse und Mitschuld, an Feigheit und Mutlosigkeit. Daraus folgte eine kollektive Verdrängung. Das änderte sich erst ab den 70er Jahren, als die junge Generation wissen wollte, was ihre Väter und Großväter gemacht oder unterlassen hatten. Ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess …

Heute findet dieser Verleugnungs-Reflex vor allem im rechten Politik-Milieu statt. Die AfD nutzt die parlamentarische Bühne als öffentlichkeitswirksames Podium, um mit Tabu-Brüchen und gezielten Provokationen regelmäßig und absichtsvoll Stimmung zu machen. Denken wir nur an Björn Höckes beschämendes Gerede von einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ oder Alexanders Gaulands „Vogelschiss“-Verharmlosung der Nazi-Diktatur ….

Für die Mehrheit hierzulande aber gilt das Bekenntnis „Nie wieder!“, ein Diktum, das die einfache moralische Botschaft vermittelt, die heutige Generation müsse die „Lehren“ aus der NS-Diktatur ziehen und dafür sorgen, das sich diese Menschheits-Katastrophe nie wiederholt. Wir leben heute in einem Rechtsstaat, den sollten wir schützen und verteidigen: gegen Feinde der Demokratie, gegen rechte Geschichtsleugner und wirre Verschwörungstheoretiker …

Es gibt eine Verantwortung für die heutige Generation?

Die Frage, die bleibt: Ist die heutige, die politisch und moralisch schuldlose Generation, nun endgültig entlassen aus der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur und seinem Erbe? Oder: Beginnt nicht die Verantwortung nachfolgender Generationen bei der Frage, ob sie sich erinnern will? An das, was ihr Eltern und Großeltern getan, zugelassen und bejubelt haben … Mein Buch versteht sich als Aufklärungs-Lektüre, als ein Plädoyer gegen jede Verharmlosung und Relativierung der NS-Vergangenheit. Nazi-Vergangenheit verjährt nicht. Je weniger man von ihr weiß, desto mehr verstellt es den Blick auf die Gegenwart.
 
 
 
Das Gespräch führte ein Journalist pseudonymisiert unter dem Namen Stephan Viewege.

Letzte Änderung: 04.04.2022  |  Erstellt am: 04.04.2022

Volk im Wahn

Helmut Ortner Volk im Wahn

Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit
Dreizehn Erkundungen
296 S., geb.
ISBN-13: 9783949774041
Edition Faust, Frankfurt am Main 2022

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Kommentare

Joachim Petrick schreibt
Danke für das Interview. Wie das so mit unsichtbarem Elefanten im Gerichtssaal geht, der da sitzt, alle sehen, spüren ihn im Nacken, tun aber so als wäre er nicht da, wenn es um Spruchkammer Blockaden, Verschleppung von Fällen in die Verjährung, Rückbau von Klagerechten geht; Das war gravierend nach abgeblasener NS Juristen*nnen Entnazifizierung mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland am Rat Deutschen Juristentag 1953 zu ermessen, als Bundesregierung Konrad Adenauer, NS Kommentator Nürnberger Rassengesetze 1935 Kanzleramtschef Hans-Maria Globke dessen Rat wie bestellt und abgeholt folgten, von Westalliierten nach 1945 in TriZone eingeführtes Unternehmenstrafrecht, Verbandsklagerecht auszusetzen, etwaigen Entschädigungsforderungen von 12 Millionen in-und ausländischer Zwangsarbeiter*nnen, darunter Kriegsgefangene, vor allem Rotarmisten, entgegen Haager Landkriegsordnung, an kommunale. kirchliche, private, staatliche Unternehmen wg.deren Angriffe auf ihre körperliche Unversehrtheit, Vorenthalten von Löhnen, Arbeitgeberbeiträgen zur Rentenversicherung 1933-45. Wind aus den Segeln zu nehmen. Weiter gravieredner fFall unsichtbaren Elefanten im Raum trug sich 1969 im Deutschen Bundestag zu: Ministerialdirektor Dr. Eduard Dreher (1907-1996), ein Jurist, der für Todestrafen aus mehr oder wenig nichtigem Grund in der NS Zeit verantwortlich zeichnete, verfasste Vorlage Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG) das führte 1969 im Ergebnis dazu, dass alle Taten, in denen dem Täter niedrige Beweggründe nicht in eigener Person nachgewiesen werden konnten, bereits verjährt waren. Jeder, dem also fast 25 Jahre nach dem Ende des Krieges nicht bewiesen werden konnte, dass er damals aus Rassenhass gehandelt habe, war de facto amnestiert. SPD Justizminister Großer Koalition CDU/CSU/SPD Gustav Heinemann (1899-1976) war es, der dieser Vorlage durch Unterschrift Gesetzeskraft verlieh, um sowohl Union, FDP, SPD Fraktion, deren Vorsitz späterer Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918-2015) innehatte im Deutschen Bundestag dafür zu gewinnen, drohende Verjährung 1969 von NS Morden abzuwenden,, dafür in Kauf zu nehmen, sog. hundertausende Mordgehilfen*nnen auf adminstrativ kaltem Wege ohne Anklage, ohne Urteil zu amnestieren. Statt nun sofort poitisch zu handeln, das abuzuändern, ging es im BUndestag darum, genau das zu unterlassen, so zu tun als ob der Elefant nicht im Bundestag Raume sitzt, um FDP in der Opposition, in deren Reihen, neben Ritterkreuzträger wie Erich Mende (1916-1998) als Vorsitzender, Walter Scheel (1919-2016) NSDAP Gliederung Mitglied, späterer sozialliberaler Außenminister, dann Bundespräsident 1974-1979, viele nachwievor national rechtsgewirkte Personen mit NS Vergangenheit saßen, bei Bundespräsidentenwahl Frühjahr 1969 für SPD Kandaten Gustav Heinemann statt für Unions Kandaten Gerhard Schröder (1910-1989) zu stimmen, Testlauf mit Teilen der FDP Option auf sozialliberale Koalition September 1969 gegen Union nach Bundestagswahl aufzubauen. https://www.freitag.de/autoren/joachim-petrick/auschwitz-prozess-1963-2013 Dabei geht es, neben Juristen*nnen bei Gerichten in wechselnden Rollen als Richter*nnen, Staatsanwälte*nnen in Bund, Ländern, Kommunen, Rechtspflegern*nnen auf Ämtern, um Juristen, die hierzulande nach 1945 bis heute überwiegend als Mitglieder Deutschen Bundestages, in Gremien, Vorständen, Aufsichtsräten privater, staatlicher Unternehmen, Medien, öffentlich-rechtlicher Fernseh-Rundfunkansatlen, Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, Stftungen tonangebend sitzen. Mit dem Ergebnis, dass, ungeachtet politischer Skandale wie Cum Ex Steuerbetrug mithilfe Banken, Finanzdienstleistern im In- und Ausland seit 2007, BMW, Daimler, VW, Bosch Dieselabgasgate seit 2015, Bafin Wirecard AG Skandal 2020, entgegen Vorhaben in Groko Koalitionsverträgen 2013, prolongiert auf Groko Koalitionsvertrag 2018, Gesetzesvorlage damaliger SPD Justizministerin Christine Lambrecht für ein Untermehmensstrafrecht Juli 2019 bis heute nicht einmal zur 1. Lesung im Bundestag einzureichen Dazu ein Kommentar von mir 2020 zu einem dlf Beitrag: Joachim Petrick 28.12.2020, 12.26  Antworten Herta Däubler-Gmelins (*1943) Vater Hans Gmelin (1911-1991) Jurist hat sich als Botschaftsgesandter SA Standartenführer im NS Satellitenstaat Slowakei 1941-45 und danach als Tübinger Oberbürgermeister darauf verstanden, Macht uneingestanden auszuüben, ohne das kenntlich zu machen, z. B. seine Holocaust Beteiligung 59 000 Juden aus der Slowakei erst auszubürgern, zu enteignen dann nach Auschwitz in Zyklon B Gaskammern zu deportieren. Angeklagt wurde er deshalb nie. Als Tübinger Oberbürgermeister übte er 1969 uneingestanden Macht aus, 15jährigen Verwaltungslehrling wg eines unter Postbriefgeheiminis Verstoß bekanntgewordenen Liebesbriefes an seinen Freund wg. Verstoß § 175 Homosexualität hinter Gitter zu bringen. Schriftstellerin Petra Morsbach bringt das in ihrem Essayband auf den Begriff “Der Elefant im Zimmer“ Der Elefant besteht in der Tatsache, dass Macht uneingestanden ausgeübt wird. Was zerstört dieser Elefant? Morsbach:“Er zerstört nichts. Das ist eine Metapher. Er bestimmt das Geschehen im Raum, aber alle tun so, als wäre er nicht da. Nicht der Elefant ist das Problem, sondern seine Verleugnung“. Herta Däubler Gmelin hat sich zur NS Verstrickung ihres Vaters nie äußern wollen, bis heute verleugnet sie ihre Macht als SPD Justizministerin 1998-2002, politisches Weisungsrecht von Ministern*nnen in Bund, Ländern gegenüber Staatsanwaltschaften, Verfassungsschutzämtern, BND, MAD, BKA, Generalbundesanwalt zu suspendieren, wie es von Interpol u. a. internationalen Organisationen lange gefordert wird. Das hätte das Tor für Staatsanwaltschaften weit aufgestoßen, nach dem Weltgesetz mutmaßliche Kriegsverbrechen von US GIs, Bundeswehrangehörigen u. a. in Deutschland beim internationalen Strafgerichtshof Den Haag zur Anklage zu bringen, damit Whistleblower Dokumente wie von Julian Assange Wikileak 2010 nicht im Papierkorb landen, Julian Assange, Edward Snowden in Deutschland begründet politisches Asyl bekommen können. Dass Herta Däubler-Gmelin sich jetzt in erlesen schönen Worten für „Free Assange“ stark macht, wirkt auf mich, als wasche sie sich wie Pontius Pilatus im Fall eines gewissen Jesus ihre Hände im Nachherein in Unschuld uneingestandener Macht durch Unterlassung. https://www.deutschlandfunk.de/schriftstellerin-petra-morsbach-dass-bischoefe-um-ihr-amt.886.de.html?dram:article_id=489845

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