Er gilt als einflussreichster Autor der Rumäniendeutschen. Eginald Schlattner, 1933 in Arad (Rumänien) geboren, wuchs in Fogarasch am Fuße der Karpaten auf und studierte bis zu seiner Relegation evangelische Theologie in Klausenburg, anschließend Mathematik und Hydrologie. 1957 wurde er verhaftet und 1959 wegen „Nichtanzeige von Hochverrat“ verurteilt. Nach der Entlassung arbeitete er als Tagelöhner und später als Ingenieur. 1973 nahm Schlattner noch einmal das theologische Studium auf und ist bis heute Seelsorger in dem siebenbürgischen Dorf Rothberg, bei Hermannstadt. Horst Samson porträtiert den 90-jährigen.
Der Schriftsteller Eginald Schlattner wurde 90 Jahre alt
„Wer ein Geheimnis hat, ist einsam.“
Der in der Banater Stadt Arad geborenen und heute in dem siebenbürgischen Dorf Rothberg (rumänisch Rosia) bei Hermannstadt lebenden Schriftsteller Eginald [Norbert] Schlattner feierte am 13. September 2023 seinen 90. Geburtstag. Eginald Schlattner war viele Jahre lang Gefängnisseelsorger für Gefangene in rumänischen Gefängnissen und ist im hohen Alter immer noch als Pfarrer in der zur Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien gehörenden evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Rothberg tätig, wo er sich mit hohem Verständnis, rührender Hingabe und mit väterlicher Geduld als respektierter Pfarrer auch um die seelsorgerischen Nöte der in Rothberg lebenden Sinti und Roma kümmert, sich nicht nur theoretisch, sondern praktisch „für gegenseitiges Verständnis und interkulturellen Dialog“ beispielhaft engagiert.
Eginald Schlattner ist nicht nur ein außergewöhnlicher Mensch, sondern auch ein fulminanter Erzähler, der – einmal in Schwung geraten – seine Leser mit spannenden und farbigen Geschichten zu begeistern weiß. Für seine Lebensleistung wurde er zwar mehrfach geehrt, z.B. als Kulturbotschafter Rumäniens, Ehrendoktor der Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg (2018) oder als Träger des deutschen Bundesverdienstkreuzes am Bande (20219, trotz wiederholter Vorschläge für einen seinem bedeutenden Werk angemessenen literarischen Preis, ist ihm ein solcher unerklärlicherweise bislang verwehrt worden, was vermutlich mit dem Vorwurf des „Verrats“ in jungen Jahren an Schriftstellerkollegen im stalinistischen Rumänien, die angeblich wegen Schlattners Zeugenschaft, wie übrigens er selbst, auch für mehrere Jahre eingekerkert wurden, ein leichtfertiger, aber in literarischen Kulissen scheinbar schwerwiegender Vorwurf, der immer wieder als verblüffend beständiges Hintergrundgemunkel auftaucht, obwohl längst entkräftet.
Der Schriftsteller Eginald Schlattner, unzweifelhaft ein Opfer des stalinistischen Totalitarismus, der für seine nach zweijähriger Einzelhaft, also dezidierter Folter, in den schrecklichen Gefängnissen Rumäniens entstandenen „Schuld“ schwer gebüßt hat, ist ein herausragender Erzähler, dessen literarisch bedeutsames und von der Kritik viel gelobtes schriftstellerisches Werk in vielerlei Sprachen auf fast allen Kontinenten dieser Erde verbreitet ist. Seine gesamte Tätigkeit als wirkungsmächtiger Schriftsteller und auch als Pfarrer war und ist darauf ausgerichtet, breiten Spuren deutscher Kultur im Osten Europas, der Vielvölker-Landschaft und der dort spezifisch ausgeprägten deutschen Sprache ein Denkmal zu setzen. Bis in die geistigen, seelsorgerischen Verästelungen seines außergewöhnlichen Lebens haben wir es bei Schlattner mit einem bemerkenswerten siebenbürgischen Humanisten von traditionellem Zuschnitt und erlesener Bildung zu tun.
Früh zeichnete sich Eginald Schlattners Begabung ab. Bereits im Alter von 23 Jahren galt er als große schriftstellerische Hoffnung, belegt durch seine bei einem Schreib-Wettbewerbs der Bukarester deutschen Tageszeitung „Neuer Weg“ vorgelegte Debüt-Erzählung „Gediegenes Erz“ (1956), die damals als ein literarisches Ereignis seiner Generation betrachtet wurde. Schon dort versuchte Schlattner, die 800jährige siebenbürgisch-sächsische Geschichte in die neuen Bedingungen des Ostblocksozialismus zu retten und ihr ein literarisches Denkmal zu errichten. Kein Geringerer als der damals einflussreichste rumäniendeutsche Germanist und Literaturkritiker, der namhafte Schriftsteller Harald Krasser, Inhaber des Germanistiklehrstuhls in Klausenburg/Cluj, belegte den Autor dieser Erzählung mit dem Schillerzitat „Unter Larven die einzig fühlende Brust“ und würdigte damit Schlattners Erzählung als den mutigsten und zukunftsweisendsten Text. Und Krasser sollte – wie wir heute wissen – Recht behalten. Engagiert setzte sich Schlattner hinfort, wie jedermann nachlesen kann, als Leiter eines Literaturkreises deutscher Studenten der Klausenburger Germanistik für die deutschsprachige Literatur ein. Ins Blickfeld des stalinistischen Geheimdienstes Securitate geraten, wurde er verhaftet und in zweijähriger Haft und Folter zum Kronzeugen der Anklage im Schauprozess gegen die Schriftsteller Andreas Birkner, Wolf von Aichelburg, Georg Scherg, Hans Bergel und Harald Sigmund gewaltsam präpariert.
Monatelang wurde der Student Schlattner in psychiatrischen Anstalten der Securitate „behandelt“, zwei Jahre lang als Gefangener im Kronstädter Securitate-Gefängnis verhört, bis er schließlich in sich zusammenbrach, wehrlos geworden und in einem desolat zerrütteten Zustand das Verlangte unterschrieb. Im Kapitel 26 seines großartigen Romans „Rote Handschuhe“, verfilmt von dem angesehenen, seit 1974 im Exil in Deutschland lebenden und in München verstorbenen rumänischen Regisseur, Drehbuchautor und Produzenten Radu Gabrea (* 20. Juni 1937 in Bukarest, Rumänien; † 9. Februar 2017), beschreibt er unter vielen einprägsamen und, menschlich betrachtet, grausamen Passagen, wie verzweifelt und nervlich aufgeputscht er in seiner Zelle umherirrt vor der Verhandlung der Anklage, buchstäblich wie ein Tier im Käfig. In einem ausführlichen Gespräch, das ich mit Schlattner vor einigen Jahren auf dem Temeswarer Domplatz führte, sagte Eginald Schlattner, dass er aufgrund der unerträglich gewordenen rund zweijährigen Einzelhaft mit regelmäßigen Verhören in einem solch bedrückten Zustand der Zersetzung und Verstörung gewesen sei, dass er ohne zu zögern sein eigenes Todesurteil unterschrieben hätte. Die Folgen jener Zeit … verfolgen ihn bis heute, überschatten inzwischen grundlos sein Leben und sein Werk. Es gehört keine große Phantasie dazu, um es sich vorzustellen, dass sie gewiss auch präsent sind in vielen, schier endlosen Nächten, gab es doch damals bei dem sogenannten „Schriftstellerprozess“ in Kronstadt die unvorstellbaren stalinistischen Einschüchterungsstrafen für die Betroffenen: Andreas Birkner 25 Jahre, Wolf von Aichelburg 25 Jahre, Georg Scherg 20 Jahre, Hans Bergel 15 Jahre und Harald Sigmund 10 Jahre Gefängnis.
Einige der Verurteilten wurden zwar nach drei, andere nach vier Jahren „amnestiert“, Eginald Schlattner hingegen erhielt die beiden Jahre Haft, die er mit der Untersuchungshaft schon abgesessen hatte, wurde von der Universität, wo er Hydrologie studierte, relegiert und – de facto – bis heute nicht frei von jenem Urteil jenes schaurigen 50er-Jahre-Prozesses gegen Unschuldige. Ganz im Gegenteil, Schlattner blieb – meines Erachtens zu Unrecht – bis dato ein in gewissen Kreisen als „präparierter“ und gebrochener Kronzeuge der Anklage ein Geächteter und Erniedrigter, der sich erst als Spätberufener seine Not und innere Verzweiflung von der beschwerten Seele schreiben konnte, in seinem großartigen Roman „Rote Handschuhe“, ein Buch, das zusammen mit seinem nächsten großen im angesehenen Zsolnay-Verlag erschienenen Roman-Würfen, „Der geköpfte Hahn“ und „Das Klavier im Nebel“, für unfassbare Aufmerksamkeit, ja geradezu für Furore in der deutschen literarischen Welt sorgten.
Die bedeutendsten Zeitungen des deutschen Sprachraums von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über die „Süddeutsche Zeitung, von „Die ZEIT“ bis hin zur „Neuen Züricher Zeitung“, vom „Standard“ bis zur „Frankfurter Rundschau“ zollten dem Autor und gefeierten Erzähler Eginald Schlattner höchsten Respekt in hervorragenden Buchkritiken und in beispielhaftem Lob für dessen literarische Leistungen, die sich fortsetzten in seinen neueren, im Pop Verlag Ludwigsburg erschienenen Werken „Wasserzeichen“, „Drachenköpfe“, „Schattenspiele toter Mädchen“ sowie in dem fulminanten geisteswissenschaftlichen Interview-Buch „Gott weiß mich hier“, ein mit Universitätsprofessor Dr. Radu Carp geführtes Gespräch zu philosophisch-religiösen Themen des Seins, Daseins und über die Sprache als metaphysisches Vehikel, um schlussendlich weltanschauliche Fragen über deren Grenzen hinaus zu tragen.
In einer präzisen Beschreibung hat der siebenbürgische Schriftsteller Ingmar Brantsch (1940 – 2013) Schlattners Dilemma geschildert: „Obwohl bekanntlich im Stalinismus die Urteile in Schauprozessen von vornherein feststanden und in die Zeugen der Anklage das hineingefoltert wurde, was schon vorher beschlossene Sache war, tun sich hinter dieser unmenschlichen Bürokratie Abgründe von menschlichem Leid und Elend auf, die wahrscheinlich letztlich in ihrer Tiefendimension doch unbeschreibbar bleiben. Jedenfalls ist Schlattners Buch „Rote Handschuhe“ ein mutiger Versuch, sich im Eingeständnis der eigenen Schwäche vom schrecklichen Schicksal des eigenen Lebens und dem der Landsleute nicht endgültig niederdrücken zu lassen, sondern sich ihm zu stellen. Als Pfarrer in Siebenbürgen, der sich vorgenommen hat, in den „Sielen zu sterben“, d.h. als Pfarrer zu wirken, bis allein der Tod ihm dies verwehren kann, leistet Eginald Schlattner zudem tätige Reue für seine schuldlos schuldige Einbeziehung in den Terror des stalinistischen Totalitarismus, indem er als Gefangenenseelsorger, als Beauftragter der evangelischen Kirche Rumäniens für die Gefängnisseelsorge wirkt. Diese bezieht Eginald Schlattner aber nicht nur auf die deutschsprachigen Siebenbürger, sondern auch auf die rumänischen und ungarischen – denn, so Schlattner, Gott habe ihn, wenn auch auf Umwegen, „als Pfarrer in Siebenbürgen berufen, für alle, die ihn brauchen.“
Im Zuge einer dringend notwendigen Entlastung des lebenslänglich Angeklagten möchte ich noch den aus dem rumänischen Banat stammenden Schriftstellerkollegen und begnadeten Lyriker Werner Söllner (1951-2019) in den Zeugenstand rufen. In der „Neuen Zürcher Zeitung“, vom 12.04.2001, schreibt er nämlich über den Roman „Rote Handschuhe“. Für Söllner handelt es sich bei diesem Buch, „nicht nur um Belletristik, sondern ein hochbrisantes Dokument“. Das liege zum einen daran, dass der Protagonist, der nach Jahren der Folter in Securitate-Haft zum Verräter an mehreren Schriftstellern wird, identisch mit dem Autor ist, wie Söllner vermutet. Zum anderen erhalte dieses Buch nach Ansicht des Rezensenten seine Brisanz dadurch, dass Schlattner (nicht zuletzt durch die Verwendung leicht durchschaubarer Pseudonyme) ein präzises Porträt Rumäniens unter dem Diktator Ceausescu zeichnet – mit all der vorherrschenden Paranoia und der Bandbreite von „Opfern, Tätern, Mitläufern, Autoren, Redaktoren, Pressefunktionären“. Söllner rechnet es dem Autor hoch an, dass an keiner Stelle in „Rechtfertigungspathos“ verfalle, um sich von eigener Schuld rein zu waschen. Zwar werde die eigene Haftzeit und Folter detailliert geschildert, doch missbrauche Schlattner seine „real erlebte Hölle nicht als mildernden Umstand für den Verrat“. Natürlich gehe es in dem Buch auch um Schuld. Doch Söllner weiß es überaus zu schätzen, dass der Autor sich gnadenlos selbst den Prozess macht, „aufrechtstehend vor der strengen Instanz des eigenen Gewissens“.
Und in einer Rezensionsnotiz in der Hamburger Wochenzeitschrift „Die Zeit“, vom 16.03.2006, wird festgehalten, dass Eginald Schlattner in den Augen der Rezensentin Ursula März ein klassischer Chronist von der Art eines Erwin Strittmatters oder Walter Kempowskis sei, der die Kultur einer bestimmten Region, die Geschehnisse einer bestimmten Epoche mit archivarischem Fleiß aufschreibt, nachzeichnet. Aber Schlattner ist längst nicht so berühmt wie seine beiden Kollegen, und das liegt daran, meint März, dass Schlattner aus Siebenbürgen stammt, jener multikulturellen Region im heutigen Rumänien, wo auch viele Deutschstämmige lebten, einer aus Sicht der Rezensentin doch recht abgelegen Gegend Europas.
Gerade unter all diesen, in meiner Empfehlung hier aufgeblätterten Aspekten wäre es endlich an der Zeit, dass dem in vielen Ländern geschätzten, ja verehrten Schriftsteller Eginald Schlattner kulturelle Gerechtigkeit widerfährt. Es ist zwar spät, aber doch noch nicht zu spät, den bedeutenden Erzähler Eginald Schlattner und sein Werk gebührend zu würdigen und die über seinen Seiten schwebende Verbannung aufzulösen im Lichte der Kultur, der Literatur und des europäisch-deutschen Geisteslebens, ganz im Sinne Georg Dehios, von dem wir Maßgebliches gelernt haben: „Wir finden in der deutschen Kunst etwas, was keine fremde, auch die vollkommenste nicht, uns bieten kann: uns selbst.“ Und genau davon zeugen auf vielfältigste Weise die Bücher des Siebenbürgers Eginald Norbert Schlattner. In seinem jüngsten Buch „Brunnentore“, pünktlich zur Leipziger Buchmesse 2023 im Pop Verlag Ludwigsburg erschienen, steigt Eginald noch einmal erzählerisch tief wie auch tiefsinnig in die Vergangenheit ein, um sein Jahrhundertpanorama der siebenbürgischen Lebenswelt und Landschaft mit Kindheitserinnerungen zu vollenden, wo sich sein Welt- und Menschenbild geformt hat. Von den Eltern und dem Bruder, dem „Grenztraktoristen“ Kurtfelix, über Dienstboten, Nachbarn, Gassenjungen bis zum angehimmelten Mädchen erweckt er allerlei Gestalten, die sich detailfreudig beschrieben durch die Buchseiten bewegen und die letzte autofiktionale Lücke einer reichen Biographie schließen – ein vollendetes Leben akribisch in Buchstaben gegossen.
„Dass ich früh an den Tod dachte, an meinen Tod, ohne den Weg meines Bruders zur Frau Holle wählen zu wollen, hing mit einem Geheimnis zusammen, das mich der Welt entzog. Wer ein Geheimnis hat, ist einsam. Einsam sein heißt, Sehnsucht haben nach niemandem. Das ist der Tod“, sinniert der 89-Jährige auf Seite 131 seines 320 Seiten starken, biographisch geprägten Wälzers „Brunnentore“. Ein schweres, ein großes Buch.
Biographischer Link:
https://de.wikipedia.org/wiki/Eginald_Schlattner
Letzte Änderung: 13.09.2023 | Erstellt am: 13.09.2023
Eginald Schlattner Brunnentore
Roman
320 S., brosch.
ISBN: 978-3-86356-399-8
Reihe Epik Bd. 138
Pop Verlag, Ludwigsburg 2023
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