München ist die Stadt so vieler Schriftsteller und Dichter, dass sie sich ihrer vielleicht nicht mehr erinnern kann. So ist es mit größeren Schwierigkeiten verbunden, etwa das Haus von Paul Heyse aufzufinden. Das ist die Ausgangssituation für drei Damen und zwei Herren im Roman „Am Götterbaum“ von Hans Pleschinski. Otto A. Böhmer ist von dem klugen Buch angetan.
Der Schriftsteller Paul Heyse war, spätestens seitdem man ihm 1910 als erstem deutschem Autor den Literatur-Nobelpreis zusprach, eine Berühmtheit, wenngleich der Glanz seines Schaffens zuletzt etwas abgeblättert war. Man kennt das; im Kulturbetrieb geht’s nicht fair zu, abgehangene Verdienste zählen nicht mehr, und dass es in der Nachwelt, die ihre Unzugänglichkeit pflegt, besser wird, kann nicht als ausgemacht gelten. Das soll wohl so sein, und es ist, damals wie heute, müßig, dagegen anzustänkern. Paul Heyse (1830 – 1910) geriet in sanfte Vergessenheit, und vereinzelte Stimmen, die das zu ändern vorgaben, hatten es schwer. Auch im umtriebigen München, wo bis auf den heutigen Tag viel gefördert und noch mehr übersehen wird, ist der Dichter nicht mehr wirklich präsent; man hat ihn, ohne ausdrücklich bösen Willen, zur randständigen Figur befördert, an die vor allem eine unansehnliche Unterführung erinnert. Auch die seinerzeit berühmte Heyse-Villa, die es noch gibt, wurde an die Ränder des Unauffindbaren verschoben; man muss gut zu Fuß sein und einen Lageplan bei sich haben, um sie zu entdecken.
Der vergängliche Ruhm des Nobelpreisträgers Paul Heyse ist Ausgangspunkt für Hans Pleschinskis klugen Roman „Am Götterbaum“, der drei Damen zusammenbringt, die sich, kulturamtlich beauftragt, auf die Suche nach Heyses ehemaligem Domizil machen: die Stadträtin Antonia Silberstein, nicht mehr ganz jung und bereits mit Überlegungen hinsichtlich der Ausgestaltung des bevorstehenden Ruhestandes befasst; ihre Freundin Therese Flößer, eine patente Bibliothekarin, sowie die Schriftstellerin Ortrud Vandervelt, die gerade in Russland, genauer: in Sibirien eine Lesereise absolviert hat und von Heyse, den man an seinem früheren Wohnsitz zu neuen Ehren verhelfen will, nichts hält; das Geld, das für ein „Heyse-Zentrum“ ausgegeben werde, meint sie, fehle an anderer Stelle.
Andererseits laufe die Literaturförderung ohnehin in die falsche Richtung: „Es gibt, ganz allgemein, den Migrantenbonus. Und ich sage es ohne Ranküne. Eine Kollegin, die aus dem Iran, aus Algerien, ihr Leben nach Deutschland gerettet hat und einen Bericht über ihr Schicksal verfasst, zum Beispiel Damaskus gestern, genießt von herein die größere Aufmerksamkeit als ich zum Beispiel mit … Kaltes Herz Harzburg. Sie können noch so subtil die Seele des Deutschen erforschen (…), gegen einen Tatsachenbericht aus Mali haben Sie wenig Chancen. Deutschland saugt den Kummer der Welt ein. ‚Wir helfen, wie wir können‘, ergänzte die Stadträtin.“
Der lange Marsch zu Heyse geht beschwerlich los, was auch daran liegt, dass in München unentwegt gebaut wird. Die Damen kommen nicht recht voran, bewegen sich im Kreisgang und müssen öfter Pause machen. Außerdem fehlt noch ein echter Heyse-Spezialist, der angekündigt ist, sich aber nicht zeigt. Schließlich kommt er doch noch: Professor Harald Bradford von der Universität Erlangen, der praktischerweise auch gleich seinen Mann, einen noch jungen, bemerkenswert biegsamen Chinesen namens Deng Long mitgebracht hat, der die Damen auf andere Gedanken bringt. Bradford „lächelte charmant. ‚Leider fehlen mir einige von Heyses Eigenschaften. Denn wie hielt eine Zeitgenossin fest? Wer damals dem jugendschönen Mann mit den geistreich-heiteren Zügen, den hellen Augen und beredten Lippen nahe kam, der empfing den Eindruck einer ganz überlegenen Persönlichkeit von wundervoll hohem Gleichmaß der künstlerischen und menschlichen Eigenschaften, die sich einzigartig von allen Mitstrebenden abhob. – So war er‘.“ Ortrud Vandervelt kann das nicht beeindrucken: „‚Ich muss doch sehr bitten‘, verwahrte sich die Schriftstellerin, ‚mein Leben ist dem Unvergänglichen und dem Fortschritt geweiht. Also nicht Paul Heyse‘.“ Langsam aber sicher wird es dunkel. Die Heyse-Villa ist nicht in Sicht; man muss sich stärken. Drei Damen und zwei Herren kehren in einem Szenelokal ein, das überwiegend von jüngerem Publikum frequentiert wird. Das Essen ist gut, die Bedienung nett, was nichts daran ändert, dass die Schriftstellerin Vandervelt erneut von Zweifelsanmutungen befallen wird, die ihr in letzter Zeit öfter zusetzen:
„Die Autorin von Stuckaturen der Emotion nahm plötzlich die jungen Menschen um sich herum wahr. Sie mochten sich beim Wein austauschen, amüsieren, sollten studieren, Länder bereisen, ihrem Beruf nachgehen. Aber wer brauchte diese Generation und die Nachwachsenden? (…) Alles, was jemand benötigte, schien bereits erfunden und vorhanden zu sein. Die Welt war abgeschritten, gründlich ausgelaugt. Die Vorräte wurden verzehrt.“ Schließlich, da ist es dann schon Nacht, kommt man doch noch ans Ziel. Ob man aber richtig liegt? Alles, was gedacht worden war, an einem weiteren denkwürdigen Tag, der, wie seine Vorgänger, kaum Spuren hinterließ, landete in der Ablage; mehr ging nicht. Nun aber. Nun aber „lag die Villa da. Aber nun auch herausfordernd, still drohend. Wo seit Jahrzehnten der Efeu rankte, Nacktschnecken ungestört ihre Bahn zogen, von den Bewohnern im Winter vielleicht Meisenringe aufgehängt würde, dort würde sich ein glanzvolles, intellektuelles Leben entfalten. Zu Vorträgen würden Menschen herbeiströmen, zu Kursen für den Heyse-Kulturschein müsste man sich am Empfang anmelden. – Der Dornröschenschlaf wäre schlagartig beendet. Anscheinend ohne Grund tappten die fünf leiser, Zweige knackten unter ihren Schuhen. ‚Die Heyse-Villa‘, sprach Therese Flößer es deutlich für alle aus, und so etwas wie Ehrfurcht vor einem historischen Ort beschlich einige, ‚wir küssen sie wach.‘“
Sogar Ortrud Vandervelt, zuvor noch durchweg wehrhaft, möchte da nicht mehr stören; außerdem hat sie genug Wein getrunken, um, leicht verschwommen, das Versöhnliche wahrzunehmen, an dem ihr Berufsstand, zu dem jetzt auch der Kollege Heyse gehört, seit Menschengedenken teilhat: „Ohne Literatur wäre die Welt bestenfalls halbwegs sortierter Staub. (…) So wurde auch dieser lastvolle Abend vielleicht zu einem Gewinn, der sich jetzt noch nicht erkennen ließ. Stolz auf ihren Beruf, ihre Berufung hob Vandervelt den Kopf. Im Geröll, in der Sternenspreu der Menschheit, gehörte sie zu den leicht blinkenden Elementen … Bereits ein Leser war ein Lohn … Noch war nichts, gar nichts verloren.“
Hans Pleschinski hat einen amüsanten, nachdenklich stimmenden Roman geschrieben, der zum Schluss sogar noch mit einer feinen Überraschung aufwartet, aus der zu entnehmen ist, dass wir zwar groß denken dürfen, dabei jedoch auf das Kleingedruckte achten sollten, dem wir, wiederkehrend, eine altbewährte, philosophiegeschichtlich allerdings nicht beglaubigte Einsicht verdanken, welche da lautet: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.
Letzte Änderung: 19.07.2021
Roman
Hardcover, 280 Seiten
ISBN: 978-3-406-76631-2
Verlag C.H. Beck, München 2021
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