Schleichende Zerstörung

Schleichende Zerstörung

Yanick Lahens: „Sanfte Debakel"
Yanick Lahens | © Andrea Pollmeier

In Haiti nehmen Schriftsteller engagiert Teil am politischen Diskurs ihrer Gesellschaft. Sie sind es, die manipulativen Narrativen entgegensteuern, im Innern wie auch im internationalen Raum. Yanick Lahens, vielfach ausgezeichnet für ihre Werke und im Jahr 2019 erste Gastdozentin am Frankophonie-Lehrstuhl des College de France in Paris, hat in ihrem Roman „Sanfte Debakel“ die Extreme sichtbar gemacht, die jeden Bewohner von Port-au-Prince täglich massiv gefährden, die aber auch den Keim des Wandels in sich bergen. Andrea Pollmeier hat das Buch gelesen.

Existenzbedrohliche Erlebnisse gehören in Haiti fast zum täglichen Leben. Grund hierfür sind nicht ausschließlich Naturkatastrophen, die die Karibikinsel in immer dichteren Abständen und mit immer größerer Wucht heimsuchen. Verursacht wird die tägliche Bedrohung, die jeden treffen kann, auch durch eine von Außen und Innen betriebene, tiefgreifende Verrohung des politischen Systems, in dem nach Gerechtigkeit strebende zivilgesellschaftliche Kräfte und Institutionen zunehmend ausgegrenzt werden.

Die haitianische Autorin Yanick Lahens hat auf der Basis einer soziologisch weit gespannten Analyse diesen Prozess der Verrohung in ihrem von Peter Trier aus dem Französischen übersetzten Roman „Sanfte Debakel” (Litradukt 2021) frappierend vorausschauend sichtbar gemacht. In dem im Herbst 2018 auf dem Höhepunkt der Protestbewegung gegen den damaligen Präsidenten Jovenel Moise in Frankreich publizierten Roman nimmt sie in fiktiver Form brisante Ereignisse vorweg und schildert ein Milieu, in dem Attentate wie das auf den Präsidenten (7.7.2021) oder die Ermordung des Verfassungsexperten und Vorsitzenden der Anwaltskammer Monferrier Dorval (28.8.2020) nachvollziehbar werden. Der Text könnte heute nicht aktueller geschrieben sein. Er zeigt die schleichende Zerstörung einer an demokratischen und humanitären Werten orientierten Gesellschaft.

Der Erzählung ist ein Abschiedsbrief vorangestellt. Darin verabschiedet sich der Richter Raymond Berthier von seiner Frau, da er ahnt, dass sein Leben aufgrund seiner Recherchen im korrupten Milieu unmittelbar bedroht ist. Die Erzählung, die folgt, setzt zu einem Zeitpunkt ein, als diese vorhersehbare Ermordung bereits erfolgt ist. Im Roman geht es jedoch nicht wie in einem Krimi darum, den Täter zu finden und den Fall zu lösen, die Tat wird vielmehr zum Ausgangspunkt für eine Analyse, die sichtbar macht, in welchem Umfeld eine solche Tat entsteht.

Als prägende Erlebnisse beschreibt Yanick Lahens schon die alltägliche Lage auf den Strassen von Port-au-Prince. Dort reihen sich seit dem Erdbeben 2010 zahllose luxuriöse SUVs hintereinander. Cyprien Novelius, der junge Praktikant einer Rechtsanwaltskanzlei, Schüler des ermordeten Richters Berthier und Geliebter von dessen Tochter Brune, sitzt am Steuer seines kleinen Wagens und träumt davon, sich einmal per Audi in der als „kochender Kessel“ bezeichneten Stadt zu behaupten. „ Du bist Audi! Du bist Haiti!“ tönt die Werbung aus dem Radio. Momente später drängt mit Warnsignal ein Konvoi durch den Stau. Die, die hinter den getönten und schusssicheren Fenstern sitzen, verbreiten eine Aura von Allmacht, sind „zum Warten zu mächtig.“ Wer Pech hat, und an einer Kurve an die Seite gezwungen wird, riskiert es, in den Abgrund gestoßen zu werden.

Lahens beschreibt anhand mosaikartig ineinander gefügter Szenen das Leben von Personen unterschiedlicher Generation und sozialer Herkunft. Sie nutzt hierfür eine Erzählweise, die schnell und manchmal abrupt die Erzählperspektive wechselt. So erzählt ein „Ich“ von den eigenen Träumen, während im nächsten Satz ein allwissender Erzähler die subjektive, innere Gefühlswelt aus der Vogelperspektive analysiert und in einen größeren Zusammenhang einfügt. Der Erzählfaden wird also nicht linear ausgerollt, sondern stets in eine mehrdimensionale Vielschichtigkeit eingewoben. So entsteht ein Erzählton, der viele Stimmen zusammenzuführen vermag und die komplexe Lage einer vielseitig manipulierten Gesellschaft spiegelt.

In den Blick tritt so vor allem Pierre, der Schwager des ermordeten Richters. Er gehört zur einst wohlhabenden Bourgeoisie, die noch unter der Diktatur gekämpft, in der als homosexueller Mann jedoch Außenseiter blieb. Seine Freunde und deren Kontaktkreise formen das Porträt, das Lahens von der haitianischen Gesellschaft zeichnet. Es zeigt, wie sich in Kreisen, „die trotz der Ängste, der Diktatur und der Verstörung der Glaube an etwas Besseres bewohnte“, heute die Bereitschaft zu Korruption und zum Töten einschleicht.

Ungewöhnlich ist, dass auch der Blick auf eine Gruppe von Oligarchen gelenkt wird, die gegenwärtig die Irrwege im Innern Haitis entscheidend steuern. Es sind „…als Geschäftsleute getarnte Schmuggler, die das Blut des Volkes aussagen, genau das Profil von Monsieur Sami Hamid“ heißt es im Roman. Sami Hamid importiert Zement aus Kolumbien. Ihm ist es als Mann syrisch-libanesischer Herkunft gelungen, die „soziale Schranke“ zu durchbrechen und eine Frau zu heiraten, die zur Gruppe der an Frankreich und den USA orientierten Bourgeoisie gehört. „Heute tragen alle dieselbe Maske“ kommentiert die allwissende Erzählerin. „Man arbeitet aktiv auf das Unglück hin und sieht zu, dass man ihm entkommt.“

Auch eine Kamera ist Teil des Erzählfiguren-Ensembles. Sie gehört dem aus Frankreich eingereisten Journalisten „Francis“ und repräsentiert die Perspektive der westlichen Medien auf Haiti. Im Roman zitiert Yanick Lahens stereotype Zuweisungen, die für eine sich steigernde Herablassung des westlichen Blicks auf die Karibikinsel charakteristisch sind und von Haiti beispielsweise als „Hinterhof“ Amerikas ( Bill Clinton) oder „shithole country“ (Donald Trump) sprechen. In Medienbeiträgen wie jüngst in Le Monde (8.8.2021) hat sich Yanick Lahens mehrfach gegen diese Art der „Exotisierung von Unglück“ zur Wehr gesetzt. Todesumstände und ihre Verzweigungen werden immer näher kommen, „hier und anderso“, heißt es im Roman. Denn es würden sich immer Leute finden, die die Ängste der Menschen steuern können. So entstehe eine „Synchronisierung der Angst“, die weltweit stattfindet. Francis war nach dem Attentat auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ nach Haiti gereist, um dort nach Erklärungen zu suchen, die den Hass geschaffen haben. Als er von seiner Recherche zurückkehrt, laufen am Flughafen Bilder von der blutigen Nacht am Bataclan in Paris über die Bildschirme.

Es gibt jedoch auch Zeichen der Hoffnung, die der in der Entwicklungspolitik dominierenden Vorstellung von einem „failed state“ (unfähigen Staat) entgegenwirken. In Haiti gibt es eine breite Bewegung der Zivilbevölkerung, die gegen die durch „internationale Einmischung und lokale Komplizenschaft“ entstandenen, korrupten Strukturen, welche das Land in einem schleichenden Prozess auf immer tiefere Abwege lenken, ankämpft. Lahens führte diese Stimmen über Radiobeiträge und die Proteste der Studentenbewegung in ihr Werk ein. Sie beschreibt, wie durch diesen Widerstand ein von Präsident Moise angestrebtes Verfassungsreferendum, das diktatorische Vollmachten der Regierung verstärken sollte, zunächst verhindert wurde.

Dieses Thema ist hoch aktuell. Denn bis heute steht das angesprochene Verfassungsreferendum auf der Agenda der von der internationalen Gemeinschaft unterstützten Interimsregierung. „Man baut an einer Ordnung, die den eigenen Interessen zupass kommt“, heißt es im Buch. Diese Ordnung werde jedoch nicht im Einklang mit der Zivilgesellschaft entwickelt. Bereits 2019 haben sich zahlreiche haitianische Schriftsteller, zu denen auch Yanick Lahens gehört, in einem öffentlichen Protestschreiben gegen diesen Weg zur Wehr gesetzt.

Mit Hilfe von Musik und Literatur könne die Vision von einer gerechten und humanitären Ordnung lebendig gehalten werden. Musik habe ihn in alle Häfen der Welt geführt, schreibt Richter Raymond Berthier in seinem Abschiedsbrief. Den „Traum von der großen Weite“ lebt seine Tochter Brune als Sängerin weiter. Denn, so heißt es bei einem ihrer Auftritte: „Der poetische Zustand ist der einzige Zustand des Lebens, in dem man mit bloßen Füßen kilometerweit über glühende Kohlen und Scherben gehen kann.“

Siehe auch Anita Djafaris Rezension

Letzte Änderung: 12.09.2021  |  Erstellt am: 09.09.2021

Siehe Kulturtipp:
Yanick Lahens liest am 4.10.2021 aus „Sanfte Debakel“ bei medico international in Frankfurt.

Sanfte Debakel | © Andrea Pollmeier

Yanick Lahens Sanfte Debakel

Litradukt Literatureditionen, Trier 2021
ISBN 9783940435378
Kartoniert, 160 Seiten

Hier bestellen
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