Manche Erfindungen markieren einen derart großen Schnitt, dass ein Nachdenken über sie unausweichlich wird. Die Generation Smartphone, zwischen 1995 und 2010 geboren, kann sich ein Leben ohne dieses nicht vorstellen, erlebte es niemals anders. Doch wir Älteren, wie ihr Rezensent in quasi väterlicher Attitüde schreiben möchte, erinnern uns noch an Wählscheiben, in denen immer ein Finger hängenblieb.
„Fand man es appetitlich, speckige Telefonbücher durchzublättern, die sich in den gelben, roten oder grauen Häuschen mit einem Quadratmeter Stellfläche befanden, Telefonzelle geheißen, nur um letztlich festzustellen, dass die Seite mit dem richtigen Namen und der passenden Nummer herausgerissen war?“
Das fragt sich, Paul Gruner, neben Andreas Roß einer der beiden Herausgeber von „Smartphone-Storys“, in seinem Vorwort. Gruner publizierte zuletzt den schönen Roman „Drei Frauen“. Im vorliegenden Band widmet er sich der kürzeren Darstellungsform. Siebzehn weitere Autoren der „Literaturgruppe Poseidon“ schließen sich mit eigenen Beiträgen an. Zu erwarten ist keine Lobpreisung, so Gruner, sondern kritische Auseinandersetzung mit dem Medium: „Es ist im Grunde wie in der Medizin oder im Journalismus. Mediziner schauen nicht nach den Gesunden und Starken und Schönen, sondern nach den Geschädigten und Kranken – und nicht zuletzt dem Krankmachenden.“
Portable Telefone, in Italien liebevoll Telefonini genannt, können in der Tat verheerende Auswirkungen haben. Beide Geschichten Gruners handeln davon. Widmen wir uns „Zoes Weg ins Büro“. Jene arbeitet im Bauaufsichtsamt, ist 28 Jahre alt und wie verwachsen mit ihrem Handy. Auch gehend ist sie pausenlos am Quasseln. Ob es Gespräche mit Freundinnen sind oder die Frage an einen Kollegen nach der bereits laufenden Kaffeemaschine. Sogar ihren Vortrag zur „Urination Equality“ liest sie sich laut aus einer Datei vor: „Mehrere Studien ergaben, dass über die Hälfte der befragten Frauen in Europa ein Urinal benutzen würden, wenn es verfügbar wäre.“ All das bedürfte keiner Wertung, würde es nicht zu einem fatalen Unfall führen. Ein Busfahrer muss, um Zoes Unaufmerksamkeit auszugleichen, abrupt das Steuer nach links ziehen und donnert dabei gegen eine Straßenbahn. Diese fällt wie „tödlich getroffenes Großwild in Tansania langsam um, dabei die Oberleitung ein- und mitreißend.“ Der Rest wird nicht verraten, kann gewinnbringender nachgelesen werden.
In Gruners Story „Marillenmutter“ wiederum geht es phantastisch zu. Irgenwann gegen Ende des Jahres bemerkt Katharina, die Protagonistin, ein Jucken unterhalb des rechten Rippenbogens. Sie macht natürlich (…) Photos und stellt sie in ihren Instagram-Account. Unzählige Antworten gehen bei ihr ein, auch Aufnahmen anderer Bäuche. Nichts davon bringt sie weiter. Bis dann im Februar ihre Bauchdecke aufbricht und sie ein Aprikosenbäumchen zur Welt bringt! Noch immer verschwendet sie keinen Gedanken daran, sich außerhalb des World Wide Web beraten zu lassen. Wofür gibt es die immense, virtuelle Community? Das Bäumchen wächst und wächst und unsere Heldin kann bald nicht mehr darüber blicken. „Don´t worry, you´re looking great“, sagt irgendjemand in Australien …
Eine tolle Geschichte, die auf gerade mal sechs Seiten ein breites Panorama vor uns ausbreitet, gut geschrieben ist und zum Nachdenken anregt. Schade, dass sich nur zwei Beiträge Gruners finden. Darüber tröstet man sich mit dem bereits erwähnten Vorwort. Einige kritische Überlegungen packt er hinein, allein indem Fakten sprechen dürfen: Bringt es der internationale Flugverkehr auf 3,5 Prozent aller Treibhausgase, verursacht das Internet stramme vier Prozent. Greta Thunbergs Rede vor den Vereinten Nationen sahen sich 5,4 Millionen Menschen auf You Tube an. Sie erraten, wohin das führte: 422 Tonnen Kohlendioxyd, dem Äquivalent von 97 Transatlantikflügen.
Doch zurück zur Phantastik: Frank Schuster, ebenfalls Autor und Journalist, ist mit zwei solcher Geschichten vertreten. In beiden ist der Ich-Erzähler ein weltweit bekannter Autor: H.G. Wells und George Orwell. Anfang des 20. Jahrhunderts reist Ersterer in sieben Tagen per Schiff in die USA. Nach der strapaziösen Reise wird er umgehend von der Polizei in Gewahrsam genommen. Nicht ob eines mutmaßlichen Verbrechens, sondern weil sich die amerikanischen Behörden Rat von ihm erhoffen. In einem Schließfach der Grand Central Station Chicagos wurde bei Bauarbeiten ein Artefakt gefunden. So wird das iPhone von den Protagonisten durchweg genannt. Man geht von einem Funk- oder Fernsprechgerät aus. Wells vermutet, dass ein Zeitreisender aus der Zukunft dahintersteckt und empfiehlt, das Telefon wieder ins Schließfach zu legen …
Ewart Reder erzählt in seinem nicht nur stilistisch herausragenden Beitrag „Der Spiegel der Doria G.“ wie ein junger Prinz von Analogien im Lande Virtu al Virtus auf Brautsuche geht. Auch bei Reder kann man sich einen ganzen (Smartphone-)Band allein mit solcher Fabulierkunst vorstellen.
Bevor nun ein falscher Eindruck entsteht: Der Band beinhaltet nicht überwiegend phantastische Geschichten, sondern eben auch Realistisches, Gedichte, sogar ein Chatbot „schrieb“ mit. Jeder Leserin und jeder Leser wird seinen persönlichen Liebling, gar mehrere davon finden, nicht verwunderlich in einer Literaturgruppen-Anthologie. Die ästhetische Auseinandersetzung von Gruner, Roß und Kollegen mit dem Medium ist insgesamt gelungen. Abgerundet wird alles mit Autorenbiographien nebst Porträtfotos.
Letzte Änderung: 08.10.2024 | Erstellt am: 08.10.2024
PH Gruner, Andreas Ross Smartphone-Storys: Erkundungen eines Phänomens
Eine Anthologie der Literaturgruppe POSEIDON.
Paperback, 199 Seiten
18,50€, POP Verlag
ISBN-10 : 3863563859