Poetik der Scham

Poetik der Scham

Sigrid Behrens’ Roman „Gute Menschen"
Sigrid Behrens | © Inga Seevers

Ohne Gedächtnis wäre ein Neuanfang möglich. Das eigene biografische Bewusstsein aber kontaminiert den Entschluss, ins Freie zu treten, führt zu Täuschungen und Enttäuschungen, zu Fluchten hinter neue Gitter, zur Erforschung der eigenen Fähigkeiten und Unfähigkeiten. Sigrid Behrens hat daraus ein ästhetisches Kunstwerk gemacht, und Alban Nikolai Herbst hat sich von ihrem Roman „Gute Menschen“ begeistern lassen.

(…) dessen einzigartiges Muster zum Vorschein kommt,
wenn man das Schreibpapier des Lebens mit der Lampe
der Kunst durchleuchtet.
Nabokov, Erinnerung, sprich, S.28
(Deutsch von Dieter E. Zimmer)

Die Grundgeschichte ist, wie die fast aller großen Romane, banal – von jener Art aber Banalität, die als Tarnung den Abgrund unsrer Existenzen verbirgt, ihre Bodenlosigkeiten. Was nicht selten Verdrängungsleistung ist und daß jemand, in diesem Fall Claire, neben ihrem Mann die Haupt-Protagonistin in Sigrid Behrens’ Roman, unversehens da herausfällt, sie nicht mehr hinbekommt. Denn schleichend, wiewohl es sich angekündigt hatte, ist plötzlich ein Bewußtsein der Wirklichkeit da. Wir müssen von einer derart moralisch-ontologischen Evidenz sprechen, daß wir uns ihr entziehen nicht mehr können.

Ich erinnere mich gut, wie es mir erging, nachdem ich von meiner ersten Indienreise nach Deutschland zurückgekommen war: Zwei Wochen lang hatte ich das beklemmende Gefühl, durch eine permanente Fernsehshow zu gehen; die Wirklichkeit war woanders. Bei Claire werden es nicht nur zwei Wochen sein, sondern wird möglicherweise ihr ganzes weiteres Leben währen. Sie, die es ereilt, kann nicht länger bleiben oder wäre, was sie bislang immer war (und wofür sie sich hielt), nicht länger gut.
Mehr ist über den Titel dieses außergewöhnlichen Romanes nicht zu sagen.
Der außergewöhnlich aber eben nicht seines Plots wegen ist, erst recht nicht, legen wir eine andere mögliche Lesart an, die einer ungewöhnlichen Emanzipation, einem sozusagen neuen Ausbruch Noras aus dem in diesem Fall „grünen‟, nachpostmodern-veganen Puppenheim, das sich die neorousseausche Welt eines wohlstandsgefütterten Mitleids geschaffen hat, auch der durchaus tätigen Solidarität mit Geflohenen, Migrantinnen und Migranten, um die sich gemeinschaftlich gekümmert wird. Weil nämlich zwar

sie ihn – ihren Mann Andreas – immer noch liebe, ihn und ihre Kinder und dieses Leben, das sich schon gar nicht mehr wie das ihre anfühle; daß sie dankbar ist, es gehabt zu haben, gelebt und ausgekostet, in vollen Zügen, dieses geliebte Leben mit ihm; aber daß nun die Zeit gekommen sei für etwas Neues, etwas, das sie nicht mehr sicher und warm in seiner Mitte trage, sondern das unverständlich und grausam sei und eines vor allem: gänzlich fremd.

Später wird es noch deutlicher gesagt: Gefahr herrscht, wenn keine in Aussicht – herrscht im geheimen, untergründig und – ecco – verdrängt. Sie wird zwar gesehen, berührt aber nur an der Oberfläche. Zum ersten Mal wird dieses, ich schreibe einmal, Erkenntnismotiv am Beispiel des Eßtisches der vierköpfigen heilen Familie klar,

aus der heraus Claire das Einnehmende ihres Tisches plötzlich wie eine Farce vorgekommen war, und schlimmer noch, wie eine Falle, eine Stimmung, die für sie in dem Moment kulminierte, als Henner sie fragte, wie sie das denn sähe, sie habe schließlich

als festangestellte Mitarbeiterin von ZEIT online

jeden Tag, in aller Ausführlichkeit obendrein, die neuesten Entwicklungen

vor Augen: Kriege, Hungersnöte, jeden sonstigen Schrecken,

das frischeste Bild, die letzten Zahlen –

Und doch riß die Selbstverständlichkeit früher schon ein, was Claire bloß allmählich merkte, in dem es sich in ihr vorbereitete sozusagen subkutan und schleichend zu einem Entschluß zusammenzog, der dann, für alle unbegreifbar, zumal nach einem – „gelungen‟ wie seit langem nicht mehr – innig-intensiven ehelichen Beischlaf,

verdammt noch mal, Himmel, ja!, so sollte es sein, sie hatten es beide so nötig gehabt, so bitter-, bittersüß, so süß,

ins Wort findet, aus dem er herausplatzt, als er, Andreas,

ihr hinterhergegangen, später, danach, erst Arm in Arm, war (,) ihr in die nachthelle Küche gefolgt, auf weichen Sohlen, wie schwebend, wie himmlisch, warum, sie hatte trinken wollen, warum auch nicht, sie hatte Durst, sie hatte, das Wasserglas in der Hand, nackt und schön am Küchenblock, sich ihm so sanft entgegengelehnt, im falben Licht, nach ihm gelangt – / und dann diese hanebüchenen Sätze, ich habe gebucht, ich fliege am Mittwoch, ich muß das jetzt tun, es hilft alles nichts.

Um sich endlich frei zu fühlen, freizufühlen. Was nur scheinbar paradox

damit zu tun

hat,

daß sie dieser Freiheit, das zu empfinden, was sie empfinden will, ein für alle Mal entronnen ist.

So daß wir nicht hier erst spüren, was Kunst ist in Literatur. Denn die „Botschaft‟ selbst – ob wahr oder unwahr, naiv oder höchst komplex durchdacht – b l e i b t banal, weil anderswo tausendfach schon ausgedrückt und bis zu „In diese Welt setze ich kein Kind” lebensfeindlich durchgespielt, zumindest „theoretisch”. Weil es in der Kunst aber nicht so sehr auf das ankommt, was ausgedrückt wird, sondern wie, darum schreitet Claire am Schluß ins Offene, k o n k r e t:

Die Schonfrist ist vobei, jetzt beginnt sie, die neue Realität.

Die notwendigerweise für uns utopisch bleiben muß, weil sie andernfalls, pragmatisch weitererzählt, für eine zumal westliche ungebundene Frau in einem arabischen Land, dessen Sprache sie nicht einmal kann, in tiefster Depression, wenn nicht schlimmer enden müßte. Doch steht der Ausbruch Claires in doppeltem Sinn für den Aufbruch: sich endlich eben nicht

wieder so zu verhalten, wie es von einer Frau wie ihr erwartet wurde, das heißt: so, wie sie es selbst von sich erwartet hätte, wäre sie noch die gewesen, die sie vielleicht nie gewesen ist.

Und | das begeisternde Handwerk dieses schmalen Romans – seine Maniera – bezeugen die Gleichzeitigkeiten der Erzählung, ihre Konstruktion, die simultanperspektivisch sowohl die Gefühle der Verlassenden (Claires) als auch der Verlassenen (Andreas und der Kinder) schildert und, abermals, wie Sigrid Behrens es tut, etwa vermittels welcher Satzbaufolgen, die notwendigerweise hypotaktisch, aber mit dem präzisen Gespür für Dramaturgie parataktisch immer wieder durchsetzt sind. Das geht schon gleich fast am Buchanfang los:

Sie nimmt einen großen Schluck, der Kaffee verbrennt ihr die Zunge und Claire ist zufrieden. Bis sie angekommen sein wird, dort, wo das Gefühl der Verbundenheit sie endlich aus seinen Fängen läßt, gilt es, denkt sie, jede Papierserviette mit besonderer Hingabe an den Mund zu führen, mit dem Finger über jede saubere Oberfläche zu fahren, und jeden Wasseranschluß zu begrüßen: auch die Worte all jener, die man ohne weiteres verstehen kann. Es gilt, den Gedanken nichts in den Weg zu stellen, sie durch sich hindurchfließen zu lassen,

Aufbruch, aufbrechen, eingefahrene Strukturen zerschlagen,

ungehindert, unbedacht, all diese Bilder in ihrem Kopf, die Köpfe all derer, die sie zu Hause, in ihrem alten Zuhause weiß, die Körper ihrer Kinder, die plötzlich wieder so schnell gewachsen sind, und Andreas’ Körper, der sich seit ihren letzten Jahren (Andreas, letzter Sommer: Von wegen, guck mal hier! Claire: Ja eben, genau da guck ich hin. ) — Schluck für Schluck, denkt Claire, und: ich werde versuchen, mich auszutrinken.

Das ist selbst noch bei Andreas’ brachialem Wutverzweiflungsausbruch (seine Frau ist schon weg), der ihn das Badezimmer zertrümmern läßt, hochelegant, ja geradezu klassizistisch (was die Szene wirklich tragisch macht) durchrhythmisiert:

Dieser Hammer war schon immer mein Freund, hat Andreas gedacht, das Ding ist doch viel klüger als ich, fast so klug wie meine Hände, als er damit die Kellertreppe wieder hinaufstieg, zunächst ins Erdgeschoß und dann gleich weiter in den ersten Stock, wo er ins Badezimmer getreten ist und, ohne innezuhalten, geradezu geübt, routiniert, begonnen hat, zunächst immer auf den Badezimmerspiegel (immer rein da, in die Fresse) und dann auf die beiden Waschbecken (immer den Sprüngen hinterher) einzudreschen, dem Gewicht des Hammers folgend, voll des Vertrauens in jeden Schlag, wie es sich eben so ergab, es ließ sich wohl einfach nicht mehr vermeiden. Andreas hämmert, daß die Scherben fliegen (…), am Ende trifft es seine Stirn: es kratzt ihn nicht, wenn da jetzt eine Wunde prangt (…). Stattdessen kratzt es ihn, daß jeder Schlag einen Satz gebiert, anstatt ihn zum Schweigen zu bringen, daß jedes Wort, das in ihrer letzten Nacht (…) gefallen ist, jede Geste, die geführt, und jeder Blick, der geworfen wurde (und sei es hinter geschlossenen Lidern), wieder und wieder vor ihm steht, züngelnd, lockend, schallend lachend, eine Hydra aus Erinnerungen, deren Köpfe abzuhacken nur immer neue in Erscheinung bringt, Kopfgeburten

vielleicht eine Spur zu abstrakt, zu wenig sinnlich, dieses „in Erscheinung bringt‟, indes gleich nachgezogen wird (Behrens spürte es wohl selbst):

mit reichlich spitzen Zähnen (…).

Dazwischen immer wieder kurze Dialoge der Freunde und eigenen Eltern montiert, dazu hier und da einzelne Wörter Umgangssprache eingestreut, die aber nicht wie Fremdkörper wirken, sondern als gleichsam natürliche Klanghöfe (krass etwa und KLONG und „Fand ich immer super”), mitunter geradezu onomatopoetisch – eine wirklich hohe Kunst, so etwas zu können. Wobei es aber nicht bleibt, sondern Behrens versteht’s, auch aphoristisch-zugespitzt zu formulieren, wenn zum Beispiel das Badezimmer das

Museum seines Geburtsjahrgangs

ist, dem von Andreas. Oder die Bitterkeit solch eines, eben weil derart fein in Worte gesetzt, bodenlos schlimmen Befunds:

Claire und Andreas, das schöne Paar; was sie so lange gewesen sind. Und, was sehen wir? Ein Haus.

Schlucke nur ich, wenn ich so etwas lese? – :

Als es plötzlich anfing, daß er die Stille zwischen ihnen nicht mehr ertrug, weil sie nicht mehr verband, sondern entzweite.

Zugleich ist das Buch perfide leitmotivisch konstruiert – indem wir diese Motive erst spät als zueinandergehörig begreifen, etwa, daß Clair sich nie, auch als Kind nicht, übergeben konnte, daß ihr zwar schlecht wurde, aber sie nie und zwar genauso wenig spuckte, wie sie sich in der Zeitungsredaktion von den Schreckensbildern anrühren ließ – was sich zu ihrem zunehmenden Entsetzen (dem beklemmenderweise eine ihr noch gar nicht bewußte Entfremdung einhergeht) in ihrer Tochter wiederholt:

Wie sehr es sie (Claire) erschüttert hat, daß sie (Dalia) so ungebrochen über den Tod sprechen konnte, so, wie sie sonst über Bücher sprach, Fotos, Filme, das, was ihr gefiel. Ein rein ästhetischer Zugriff.

So daß wir endlich zur Scham kommen müßten, dem tiefsten Beweggrund des Romans, seinem eigentlichen Antrieb, einem, dessen dräuendes Brummen wir nur untergründig vernehmen, dann, wenn wir schon bewußt auf ihn lauschen. Das aber würd’ hier zuviel, Sie sollen ja Ihr eigenes Buch lesen (und vielleicht sogar von der eigenen Scham) –,
             – was ich mich aber frage, ist, weshalb dieser ästhetisch nahezu vollendete Text (nun gut, ich könnte noch an ein paar Konjunktiven mäkeln, aber … – geschenkt) – weshalb er nicht bei Hanser erschien, wo Behrens’ Debüt herausgekommen ist, Diskrete Momente, 2007? Wie dumm muß man sein (oder korrupt dem Markt verfallen), um solch ein Kunstwerk abzulehnen (denn sicher hat sie’s angeboten) – kein grandios gewaltiges wie Christopher Eckers Fahlmann war, Helmut Kraussers Melodien oder Marianne Fritz’ens Sterne der Romani, nein, aber ein literarisches Kabinettstück allerhöchsten Rangs? Das zudem, was selten ist, eine gut definierbare Zielgruppe hat, die sehr wohl kennt, was Behrens erzählt?

Vielleicht darum? Mochte Hanser seine (die genau nämlich ist’s) – zahlungskräftige – Leserschaft nicht düpieren, vor allem nicht mit Wahrheit? Ich kann nur spekulieren. Jedenfalls kommen wir auch hier nun zur Scham, wenn auch mehr zum Schämen (Fremdschämen leider) – doch gratulieren dem kleinen Hamburger Verlag Minimal Trash Art (MTA) zu dieser Autorin. Sie ist nicht die erste, die von einem großen Haus zu einem Independent wechselt und leider lernen muß, warum. Dem Buch selber macht das nichts aus, sofern Sie es denn lesen.

Genau das sollten Sie tun. Denn nicht eine zweite Bachmann hat hier die Stimme erhoben oder zweite Reinig, sondern – eine Behrens. Die nämlich künftige „die”. Da tut es gut, es schon beizeit gespürt zu haben. Auch wenn die Nase etwas schmerzt, an die sie uns gefaßt.

Letzte Änderung: 08.06.2023  |  Erstellt am: 07.06.2023

Gute Menschen | © Inga Seevers

Sigrid Behrens Gute Menschen

Roman
180 S., geb.
ISBN-13: 9783981417562
Minimal Trash Art (MTA), Hamburg 2022

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