Wann ist ein Mann ein Mann? Oder, ketzerisch gefragt: Warum erziehen Mütter ihre Knaben zu Männern? Jetzt, da sich täglich die Gewaltfrage im Alltag stellt, ist eine damit verbundene Männlichkeit verpönter als sie ohnehin war. Ein neues Buch unternimmt eine Bestandsaufnahme dessen, was Männer darunter verstehen. Leon Joskowitz hat einen kritischen Kommentar dazu geschrieben.
Wenn die beiden Herausgeber Valentin Moritz und Donat Blum den Anspruch ihres Buches „Oh Boy“ nicht schon im Vorwort relativieren würden, könnte man von dieser Textsammlung enttäuscht sein. Ein Debattenbuch soll es sein, ein Anfang. Als wäre das Nachdenken über Männlichkeit ein neues, unbestelltes Feld der Literatur.
So fragt auch Mithu Sanyal in ihrem Nachwort, ob nicht 99% aller Literatur Texte von Männern seien, die über Männer schreiben, um dann den Finger in die Wunde dieses Buches zu legen: Männer werden gemacht – und wie Männlichkeit hergestellt wird, wäre das spannende Thema gewesen. Doch Oh Boy trägt dazu nur wenig Neues zusammen. Ein paar bekannte Bilder (Kleinstadt, Jungsumkleide, Homophobie, kalte, abweisende und abwesende Väter) werden zitiert, aber ein echtes Nachdenken über Männlichkeit*en heute und welche „Spielarten möglich wären“ – wie im Vorwort heißt, wird nur in manchen Texten versucht. Joris Backers Comic, Thomas Köcks innerer Gedankenstrom und auch Ozan Keskinkilic Short Story sind dabei zu nennen.
Woran das Buch scheitert, ahne ich früh, und der Verdacht wird manifest als Jayrome Robinet aus der King King Theorie von Virginie Despentes zitiert. Sie schreibt dort, dass die stets drohende Vergewaltigung eine Frau zur Frau mache. Es ist dieser zentrale Aspekt in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern, der nicht richtig scharf gestellt wird. Das Problem herrschender Männlichkeit ist klar: Gewalt. Daraus resultiert alles weitere: die Drohung mit Vergewaltigung, Taubheit (im Text von Daniel Schreiber gut illustriert), Isolation und die Unfähigkeit, damit reflexiv umzugehen. Letzteres ist ein strukturelles Problem und bedingt die Tatsache, dass gegenwärtige Formen patriarchaler Männlichkeit als normal verklärt, ausgelebt und unhinterfragt an die nächste Generation weitergegeben werden.
Allein Thomas Köck gelingt es, der Zärtlichkeit, die sich an den Platz von Gewalt zu setzen hätte, sprachlich auf die Schliche zu kommen. Sein Text – als Flut inneren Denkens verfasst – spricht nicht über etwas, sondern zeigt, was Sprache kann: „stellungen verunklaren, die hierarchien upside down drehen, den körpern ihre lust zurückgeben und in endlosen kontraktionen und pulsierungen verlorengehen.“
Diese gelassene Ungenauigkeit, die sich an eine mündige Leserschaft wendet, hätte ich mir für das ganze Buch gewünscht. Insgesamt hätte etwas mehr Vertrauen in die Leser und Leserinnen dem Buch gut zu Gesicht gestanden. Ein Buch über Männlichkeit herauszugeben, das offensichtlich eine kritische Absicht verfolgt (das Cover ist rosa), und das Nachwort mit Triggerwarnungen wie „Misogynie, sexualisierte Gewalt, Homo- und Transfeindlichkeit oder Bodyshaming“ zu versehen, scheint mir widersinnig. So neu ist das Thema nicht. So viel Anfang erträgt das Thema einfach nicht. Die Texte und Gedanken von Despentes gehören ebenso zum Kanon wie bell hooks, die Männerphantasien oder die Schriften von Erich Fromm. Sie müssen vorausgesetzt werden, weil das Reflexionsniveau sonst hinter den bereits erklommenen Stand des Geistes zurückfällt – und man wirklich wieder am Anfang stünde.
Woher dieses geistige Ping-Pong: ein Thema anzudeuten und sich dann dahinter verstecken, rührt, wird bei der Lektüre des Textes des Herausgebers Moritz deutlich. Dort ergeht sich ein glücklicher Mensch in einer schwer erträglichen Beichte. Er outet sich als Täter, mag seine Tat gleichwohl nicht im Detail benennen und achtet doch sehr akkurat darauf klarzustellen, dass es sich nicht um eine strafrechtlich verfolgbare Tat gehandelt hat. Sein Vergehen führt nicht zur rechtwirksamen Selbstanzeige, sondern wird – nolens volens – als bloßes Sittenvergehen („boys will be boys“) relativiert. Solcherart von jeder Sorge entlastet, kann sein Text mit einem „Huiiiiii“ – dem Geräusch eines Frisbee – enden. Er hat es geschafft, er hat sich reingewaschen.
Mir reicht dieser Band nicht. Das zentrale Thema: die Beziehung zwischen Mann und Frau kommt zu kurz. Kein einziger Texte handelt von einer Mutter! Wenn von einer Mutter die Rede ist, dann taucht sie als Beleidigung auf. Solange aber Männlichkeit als Angelegenheit zwischen Männern (Väter-Söhne, Jungsgruppen, Militär) verhandelt wird, tritt das Nachdenken auf der Stelle. Nur in der Beziehung der Geschlechter lässt sich Männlichkeit neu codieren. Weg von der Gewalt, hin zur Zärtlichkeit.
Vielleicht hält „Oh Boy“ sein Versprechen noch, und dies ist wirklich ein neuer Anlauf. Der nächste Band könnte dann zweifarbig sein und frei nach Billy Wilder „Boy meets Girl“ heißen.
Letzte Änderung: 18.07.2023 | Erstellt am: 18.07.2023
Donat Blum, Valentin Moritz (Hrsg.) Oh Boy: Männlichkeit*en heute
Mit Beiträgen von Dinçer Güçyeter,
Kim de l’Horizon, Daniel Schreiber,
Mithu M. Sanyal u.v.m.
Mit einem Nachwort von Mithu M. Sanyal
238 S., geb.
ISBN-13: 978-3985680665
Kanon Verlag, Berlin 2023
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