Nützliche Philosophie statt metaphysischer Mumpitz

Nützliche Philosophie statt metaphysischer Mumpitz

Richard Rortys „Pragmatismus als Antiautoritarismus“
Richard Rorty | © Screenshot

Der 2007 gestorbene, amerikanische Philosoph und Komparatist Richard Rorty hatte sich nach eingehender Beschäftigung mit der Metaphysik dem Pragmatismus zugewandt. Nun ist in deutscher Übersetzung ein Band mit Vorlesungen erschienen, in denen Rorty den Pragmatismus für einen liberalen Staat empfiehlt. Peter Kern hat dagegen seine kritischen Einwände formuliert.

Im deutschsprachigen Raum galt der Autor als ein verlässlicher Kritiker der US-amerikanischen Verhältnisse, soweit sie unter den Einfluss des Trumpismus und der evangelikalen Rechten stehen. Zehn Jahre, bevor Trump die Präsidentschaft eroberte, konnte man bei Rorty die Warnung vor einer Entwicklung lesen, die dahin geht, dass Gewerkschaftsmitglieder und nichtorganisierte ungelernte Arbeiter…erkennen werden, dass ihre Regierung nicht einmal versucht, etwas gegen sinkende Löhne oder den Export von Arbeitsplätzen zu tun…Die ärmeren Wähler würden zu dem Schluß kommen, dass das System versagt habe, und einen starken Mann wählen wollen, der ihnen verspricht, dass unter ihm die feinen Bürokraten, raffinierten Anwälte, überbezahlten Anlageberater und postmodernistischen Professoren nicht mehr das Sagen haben werden. Richard Rorty hatte sich in seinem damaligen Buch (Stolz auf unser Land) als Prognostiker erwiesen. Das alte Buch enthält einige beiläufige Bemerkungen über Philosophie, die im neuen Buch nun im Mittelpunkt steht.

Rorty war ein angelsächsischer analytischer Philosoph und politisch ein Vertreter eines liberalen Sozialismus. Das klingt im Kontext der Vereinigten Staaten nicht so verquer wie im deutschen, wo man eine Mischung aus Christian Lindner und Oskar Lafontaine assoziieren würde. Wer demokratische Institutionen und soziale Wohlfahrt, das unabhängige Verfassungsgericht und eine staatskritische Öffentlichkeit verteidigt, der gilt in den USA beinahe schon als Linksaußen. So erging es dem in 2007 verstorbenen Richard Rorty.

Dieses Buch, eine deutsche Erstveröffentlichung, fasst eine vor 25 Jahren gehaltene Vorlesungsreihe zusammen. Rorty stellt seine Philosophie in die Tradition des Pragmatismus. Er hat ein starkes Votum für demokratische, nicht autoritäre Gesellschaften geschrieben. In ihnen besitzt jeder substantielle Rechte, unabhängig von seiner sozialen, ethnischen, religiösen oder geschlechtlichen Zugehörigkeit. Man mag diese bürgerlichen Rechte für den gar nicht mehr strittigen Wertekanon halten, verfehlt aber dann die politische Wirklichkeit in großen Teilen der Welt. Und mit der chinesischen Führung ist eine Weltmacht auf dem politischen Schachbrett, die sich langsam zutraut, die westlichen, in ihren Augen erschöpften formalen Demokratien matt zu setzen. Xi Jinping und die Seinen verfügen über eine veritable exportstarke Industrie und mit Tiktok endlich auch über eine richtige Kulturindustrie. Eine bürgerlich-liberale politische Philosophie, wie sie Rorty geschrieben hat, wird es vielleicht noch einmal brauchen; das ist bei aller angebrachten Kritik zu bedenken.

Rorty kann seine republikanischen Rechte von den Voraussetzungen seiner Philosophie her nicht begründen. Demokratische und liberale Prinzipien (sind) nur ein mögliches Sprachspiel unter anderen, zitiert er einen ihm nahestehenden Sprachpragmatiker. Demnach haben in der Kultur westlicher Gesellschaften entstandene Prinzipien für eben diesen Kulturkreis Geltung, aber ihre abendländische Genesis verbiete es, eine universalistische Geltung zu behaupten. Ein solches relativierendes Argument wird das chinesische Politbüro gerne hören.

Rorty hält es für geboten, uns offen ethnozentrisch (zu) gerieren, statt angeblich universalistisch. Ein solcher Satz klingt gut in den Ohren von Gewaltherrschern. Man höre sich Putin an, wie er gegen den „kollektiven Westen“ hetzt und bei den Staaten der ehemaligen Dritten Welt damit punkten will. Die Nato-Staaten würden so tun, als redeten sie für die ganze Menschheit, dabei verfolgten sie nur ihre eigennützigen ökonomischen Interessen. Putins Rhetorik verfängt, denn mit der Durchsetzung solcher Interessen haben die ehemaligen Kolonialvölker ihre bittere Erfahrung gemacht.

Rortys‘ Pragmatismus gemäß gilt Nützlichkeit als oberstes Kriterium sowohl der technischen wie der ethisch-praktischen Vernunft. Eine Theorie sei gerechtfertigt, soweit sie einen nützlichen Beitrag zur Erfüllung von Zwecken leiste, die sich nationalstaatlich organisierte Menschen gäben. Diese tun sich, so Rorty, zusammen, um bestimmte Projekte durch Kooperation voranzubringen. Wer setzt diese Zwecke? Rorty hat ein ganz ungebrochenes Vertrauen in die Naturwissenschaften. Ihm eignet der Glauben an die Parallelität von wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Fortschritt. Was Resultat des wissenschaftlichen Prozesses ist, ist demnach für die Gesamtgesellschaft nützlich, Punktum. Rorty ist ein Vertreter der (von Horkheimer so bezeichneten) traditionellen Theorie. Diese Theorie suggeriert, wissenschaftliche Arbeit gehe den offenen Fragen ihres jeweiligen Forschungsgebiets nach und resultiere in gesellschaftlich nützlichen Produkten. Was als nützlich gilt, muss sich jedoch als profitabel erwiesen haben, eine bei Rorty völlig fehlende Reflexion. Das Kriterium Nützlichkeit unterstellt eine als Einheit zu verstehende, keine Klassen und unterschiedliche Interessen kennende Gesellschaft.

Politische Theorien seien im Alltag auszuprobieren, und dann sei nachzuprüfen, ob man selbst und die Seinen dadurch glücklicher werden. Wer sind die Seinen? Rorty erwägt den Satz, alle Menschen seien Brüder, und er ironisiert diesen Satz keineswegs. Das Positive an ihm sei, dass er als Grundsatz eines gesellschaftlichen Verbandes funktioniere. Warum seine Geltung, und die von Freiheit und Gleichheit, nicht in Richtung der Weltgemeinschaft erweitern? Rortys Liberalismus kollidiert mit seinem Relativismus. Jede Kultur bilde ihre eigenen politischen Werte aus, und keine könne ihren Wertekanon als universell gültigen ausgeben; wir erinnern uns.

Ist man…von ganzem Herzen Demokrat, wird man die utilitaristische und pragmatische These begrüßen, schreibt Rorty. Und wenn man kein Demokrat ist, sondern, sagen wir, ein aus seinem Kulturkreis organisch hervorgegangener russischer Nationalist? Dann kann man es als sehr nützlich erachten, sich auch den Donbass anzueignen, nachdem die überfallene Krim den nützlichen Zugang zum Schwarzen Meer geöffnet hat. Aber das sei völkerrechtswidrig, und den entsprechenden Passus der UN-Charta habe Russland unterschrieben, könnte der Pragmatiker antworten. Dort steht: Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.

In der Charta des Pragmatismus steht aber ein höherrangiger Artikel, und der heißt Nützlichkeit. Warum soll die Verletzung von Völkerrecht nicht nützlich sein? Weil sich dann kein Staat vor der Aggression eines anderen sicher fühlen kann? Das kann einen mächtigen Zaren, der einen noch mächtigeren Großen Bruder hat, nicht schrecken. Dass er sich laut Kants kategorischem Imperativ in einen Selbstwiderspruch verwickelt, wird ihm keine schlaflosen Nächte machen.

Den Begriff der Nützlichkeit nimmt Rorty von Nietzsche. Er zitiert ihn: Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die ‚Wahrheit‘: wir wissen…gerade so viel als es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung nützlich sein mag. Die Wahrheit erkennen wollen, sei ein Haschen nach einer Chimäre. Nachdem der Begriff der Wahrheit verworfen ist, bleibt nur noch Nützlichkeit übrig. Rorty gibt der Lebensphilosophie einen gleichsam antiautoritären Dreh: Wer Wahrheitsfanatiker sei oder gar religiös denke, sei in einem autoritären Syndrom befangen. Nur der sich mit dem Nützlichen zufriedengebende Mensch könne als ein Nichtneurotiker und gesunder Liberaler gelten.

Für Nietzsche und für den ihm folgenden Autor ist die Wahrheit also ein alter Hut. Wer nach der Wahrheit hinter der erscheinenden Welt suche, mache sich lächerlich. Das von Kant so genannte Ding an sich gilt, so Nietzsche, als Hinterwelt, und die mit ihr befasste Metaphysik ist demnach eine Sache von Hinterweltlern. Hinter den Dingen sei nun mal nichts. Wenn Rorty die Metaphysik attackiert – und diese Attacke ist gleichsam der Halteapparat dieses Buchs – wird man das Gefühl nicht los, er trete einen toten Löwen.

Die Metaphysik spürt dem Wesen der Naturstoffe nach. Das Wesen sei der Sinneswahrnehmung der Menschen entzogen, aber unserer Vernunft könne die Erkenntnis des Wesens gelingen, heißt es seit Platon. Diesem herkömmlichen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff hat Rorty förmlich den Krieg erklärt. Ist das nicht ein Problem von der Art, womit man dem lieben Gott den Tag stiehlt? So ist es, sagt Rorty. Über das Wesen der Dinge nachzudenken, sei völlig unnütz. Sein Pragmatismus dagegen sei reelle Ware. Universelle Ideen? Darunter kann sich doch niemand was vorstellen. Der Pragmatist benutzt die philosophische Kategorie umgangssprachlich: Lass uns mal vernünftig sein…

Die Beschaffenheit des Naturgegenstandes, die Frage, ob er noch etwas anderes sei als technisch verfügbar, sei eine ganz unnütze Frage. Rorty benutzt ein Heidegger-Wort und polt es von minus auf plus um: Seinsvergessenheit…halte ich…für eine prächtige Sache…Das Bedürfnis nach Weltgerichtetheit halte ich für ein Relikt des Bedürfnisses nach autoritärer Führung, also jenes Bedürfnisses, gegen das Nietzsche und seine pragmatistischen Mitstreiter revoltiert haben.

Nietzsches Mitstreiter waren die Nominalisten des Spätmittelalters, und in dieser Tradition bewegt sich Rortys Denken. Der Nominalismus trifft einen Punkt, denn er rechnet dem Platonismus einen grundlegenden Irrtum vor: Der will nicht wahrhaben, dass die Ideen hinter den Dingen, denen die Dingwelt ihre Wirklichkeit verdanken soll, abgezogene menschliche Begriffe sind und keine Selbstenthüllung der Ideen. Der Platonismus glaubt, seine immer abstrakter werdenden Begriffe seien eine zunehmende Annäherung an das Wesen der Dinge, und mit seinem höchsten Begriff – dem des reinen Seins – werde er des höchsten Wesens habhaft. Im Umkehrschluss gilt ihm das singuläre Ding (sagen wir die Butterblume im Vorgarten) als ein Abdruck der höchsten Idee auf der untersten, weil mit Materie versetzten Hierarchiestufe. An dem Problem, wie das Einzelding zu denken sei, ist der Platonismus gescheitert, und seit diesem Scheitern gilt der nominalistische Lehrsatz, nur Einzeldinge seien wirklich, und der Begriff des Wesens sei nichts mehr als ein flatus vocis, ein von der menschlichen Stimme erzeugter Hauch.

Der Nominalismus rechnet der Metaphysik ihren Denkfehler vor, aber er unterliegt selbst einem Denkfehler, und den kann Rorty nicht fassen. Das Einzelne muss an einem Allgemeinen partizipieren; denn gäbe es dieses Allgemeine nicht, wären Naturgesetze und sprachliche Verständigung unmöglich. Wer die Existenz des Allgemeinen bestreitet, behauptet, die Welt der Naturstoffe sei ein Chaos der Singularitäten. Woher aber dann die Naturgesetze? Jeder Naturstoff wäre ein Einzelding, und seine chemischen oder physikalischen Eigenschaften kämen nur ihm zu. Ein Babylon: Denn jedes menschliche Individuum wäre bloß Individuum, und spräche eine für die anderen Individuen unverständliche Privatsprache.

Die hinter den erscheinenden Dingen liegende Sphäre gibt es nicht, beteuert Rorty unablässig. Es gäbe nur ein empirisches Ungefähr, weil sich das Denken an etwas reiben muss, das außerhalb des Denkens liegt. Unsere Sprache sei ein bloßes Zeichensystem, ohne Bezug auf wahrnehmbare, identische Qualitäten körperlicher Dinge. In dieser nihilistischen Weltauffassung treffen sich die einmal als fortgeschrittenste Philosophie gefeierte Sprachpragmatik und die um die äußere Natur völlig unbesorgte kapitalistische Ökonomie.

Der Nominalismus hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Sein Ziehsohn, der Pragmatismus, begeht den Fehlschluss, aus der Unmöglichkeit, das Wesen begrifflich erfassen zu können, dessen Nichtexistenz zu folgern. Was sich nicht in klaren Sätzen ausdrücken lasse, sei Mumpitz. Rorty zieht die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung ein. Der als Verkäufer seiner Arbeitskraft erscheinende Mensch ist demnach der ganze Mensch, und dass er seine Haut zu Markte trägt, ist nicht zu ändern.

Wir können aus unserem sprachlich verfassten Bewusstsein nicht aussteigen, das ist wohl wahr. Die Vogelperspektive, aus der die Schau des Wesens möglich wäre, lässt sich nicht einnehmen. Der in diesem Buch oft zitierte (und kritisierte) Habermas spricht von dem nicht einnehmbaren view of nowhere. Beide, Rorty und Habermas haben den metaphysischen Begriff der Wahrheit, der Entsprechung von subjektivem Begriff und objektiven Gegenstand, aufgegeben und durch die sprachliche Verständigung zwischen Subjekten ersetzt; der berühmte linguistic turn.

Wenn der Eindruck nicht täuscht: Der Hype um den turn ist vorbei. Was abschätzig Bewusstseinsphilosophie genannt wird, ist zurück. Es ist die gleichsam am Tropf hängende Natur, die dieses Revival verursacht. Eine bloß um Intersubjektivität kreisende Philosophie hat an Überzeugungskraft massiv verloren. Der Pragmatiker Rorty argumentiert in einer für heutige Ohren nach Zynismus klingenden Weise, denn er bezweifelt, dass das von uns gespielte(n) Sprachspiel in irgendeinem spezifischen Zusammenhang stehen sollte mit dem Sosein der übrigen Welt.

Das Sosein ist die Welt in ihrer tiefen Beschädigung. Die kommunikative Wendung ist nicht die einzig mögliche der Kritischen Theorie. Die Namen Bulthaup, Haag, Mensching, Tiedemann stehen für eine andere Wendung. Die ontologische Entkernung der ersten Natur theoretisch zu destruieren, um die Verdinglichung der Individuen in der zweiten Natur zu attackieren, ist das Telos dieser Theoretiker.
 
 
 
 
Dieser Beitrag erschien zuerst in Glanz & Elend.

Letzte Änderung: 26.04.2023  |  Erstellt am: 25.04.2023

Pragmatismus als Antiautoritarismus  | © Screenshot

Richard Rorty Pragmatismus als Antiautoritarismus

Hrsg. von Eduardo Mendieta
Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte
ISBN 978 3 518 58794 2
454 S., geb.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023

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Kommentare

Matthias Schulze-Böing schreibt
Schöner Artikel! Gut gebrüllt, Löwe.
Ralf Rath schreibt
Der promovierte Philosoph Robert Habeck, der gegenwärtig das Wort "konkret" bei jeder sich bietenden Gelegenheit verwendet, ohne dabei aber jemals zu sagen, was im Einzelnen darunter zu verstehen ist, begeht einen niemals wieder gutzumachenden Fehler, falls der zugleiche Wirtschaftsminister und Vizekanzler so tut, als ob das Konkrete im Unmittelbaren aufginge. Karl Heinz Haag kritisiert solch ein Unterfangen längst als "kurzschlüssig" (ders., 2018: 181, 2. Aufl.). Angesichts dessen hätte das dadurch philosophisch völlig verfehlte Denken sozioökonomisch verheerende Konsequenzen für die nahe Zukunft. Solch eine Wendung der Kritischen Theorie, derer sich allen voran Jürgen Habermas als auch Richard Rorty als Vertreter des so genannten "linguistic turn" befleißigen, verbietet sich demnach von vornherein, wenn nicht die freie Marktwirtschaft ad absurdum geführt sein soll, wie Max Horkheimer als der Spiritus Rector der Frankfurter Schule bereits früh im Winter 1941/1942 in einem Aufsatz für einen nicht publizierten Band zum Gedächtnis an Walter Benjamin damals ausdrücklich reklamiert hat.

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