„Noch einmal Unendlichkeit, bitte. Groß!“
Von Absinth und Abseits, vom Blau des Unbekannten, von der Autorität des Ausatmens und weiteren Phänomenen des Denkens berichtet der portugiesische Schriftsteller Gonçalos M. Tavares in „Das Viertel“, das man selbst gern bewohnen möchte. Der auf zehn Bände angelegte Prosazyklus lässt vor allem einen Wunsch in Erfüllung gehen, der an die unabhängige Literatur der Gegenwart zu richten ist: dass sie sich ihrer eigenen Sprache bemächtigt. Elvira M. Gross ist den attraktiven Texten verfallen.
Manchmal ist es Liebe auf den ersten Blick. Wenn Form und Inhalt so ineins gehen, einander zufallen, dann ist es Liebe. Die Bücher von Gonçalo M. Tavares drängen sich nicht in den Blick. Sie verharren selbstbewusst in Linnen. Und doch waren sie mein erster Griff auf der Leipziger Buchmesse, während ich Reto Ziegler von der Edition Korrespondenzen begrüßte, der uns, Tavares’ Bücher und mich, prompt verkuppelte. Ich wollte nicht gleich zu viel davon aufnehmen, nicht schlingen, sondern mich erst ersten Vorstellungen zu diesen so überaus schön gestalteten Büchern hingeben.
Worum geht es? Es ist ein in Summe zehnteiliger Zyklus, verortet als ein „Viertel“, dessen Häuser – Bücher – Denkbewegungen bekannter Intellektueller nachzeichnen. Ein widerspenstiges gallisches Dorf aus Büchern, nicht so ganz der Literaturwelt einzugliedern. Die Herren – richtig: alte weiße, noch dazu verstorbene Männer – wohnen gedanklich nachbarschaftlich voneinander getrennt eng beieinander. Jeder Einzelne, freilich, wohnt ganz für sich, ist ganz bei sich. Wie es im Kapitel „Ballon“ von Herr Calvino zu ebendiesem Objekt heißt: „Dieses im Sprachgebrauch als Ballon bezeichnete System umschloss mit einer sehr dünnen Latexschicht einen winzigen Teil der gesamten Luftmenge der Welt.“ Eine Monade also? Geoliterarisch schwer zu sagen, in welcher Landschaft – welchem Genre – man lesend hier unterwegs ist. Kurzprosa oder Kürzestprosa? Der längste Aphorismus der Welt? Was besagt es schon: Wesentlich und zweckdienlich ist, sich einzulassen, gedanklich mitzugehen, das Verstehen zu hinterfragen, das Vertraute, das Fremde – letztlich auch zu lachen über das/dem Denken. Sich etwas aneignen, einen Stil, eine Sprache, die einem nicht gehört, paraphrasieren: „Konzept Auftrümmern“, wie es bei Herrn Kraus heißt: „Wir zertrümmern die alten Gebäude, trümmern dann neue Gebäude auf; schließlich fällt alles irgendwann einmal sozusagen in Trümmer.“ Themen, Räume, selbst das Neolithikum kann sich im Absinth auflösen, im eigenen Viertel, das die Welt bedeutet. Es sind Hommagen an das Wollen, das denkt, sich sorgt, in Unruhe verfällt, zeichnet, irrt, sich verirrt, das in Wellen einen Raum bezeichnet, der offen, aber konsequent der Bewegung folgt.
Im Verlag Edition Korrespondenzen sind in der Übersetzung von Michael Kegler bisher folgende Bände des zehnteiligen Zyklus „Das Viertel“ von Gonçalo M. Tavares erschienen:
Herr Valéry und die Logik, 2020
Herr Henri und die Enzyklopädie, 2020
Herr Brecht und der Erfolg, 2020
Herr Juarroz und das Denken, 2020
Herr Kraus und die Politik, 2021
Herr Calvino und der Spaziergang, 2023
Herr Walser und der Wald, 2023
Alle Bücher liebevoll ausgestattet mit Lesebändchen und den unvergleichlichen Zeichnungen von Rachel Caiano, die für sich so anregend sind, dass sie auch unabhängig vom Text funktionieren: eigenwillige kleine Kunstwerke zum Räumlichen des Denkens.
Gonçalo M. Tavares, geb. 1970 in Luanda, Angola, wuchs in Aveiro im Norden von Portugal auf. Er unterrichtet Erkenntnistheorie an der Universität in Lissabon. Seit seinem Debüt im Jahr 2001 gilt er als eine der großen Überraschungen der jüngeren portugiesischen Literatur. Sein Werk, das neben Lyrik, Dramen, Romanen und Erzählungen auch Kinderbücher und Essays umfasst, wurde weltweit in über 30 Sprachen übersetzt und binnen kurzer Zeit mit einer beeindruckenden Zahl an hohen internationalen Auszeichnungen beehrt, darunter der Prémio Literário José Saramago 2005 und der Prix du Meilleur Livre étranger 2010 in Frankreich. Für »O Senhor Valéry« erhielt Tavares den Prémio Branquinho da Fonseca der Fundação Calouste Gulbenkian und der Wochenzeitung Expresso, für »O Senhor Kraus« wurde er mit dem Prix Littéraire Européen 2011 ausgezeichnet. In Frankreich wurde die Gesamtausgabe des zehnbändigen Zyklus »Das Viertel« mit dem renommierten Prix Laure-Bataillon für die beste Übersetzung 2021 gewürdigt.
Rachel Caiano, geb. 1977, ist bildende Künstlerin und Illustratorin mit Ausbildung in darstellender Kunst und Architektur. Sie illustriert Bücher unterschiedlicher literarischer Gattungen und arbeitet regelmäßig für Zeitschriften. Mehrere von ihr illustrierte Kinderbücher wurden in die jährlich erscheinende internationale Bestenliste „The White Ravens“ aufgenommen.
https://korrespondenzen.at/goncalo-m-tavares/
Letzte Änderung: 17.07.2023 | Erstellt am: 17.07.2023
Das jüngste Buch des Zyklus’ Das Viertel
Gonçalo M. Tavares Herr Walser und der Wald
41 S., geb.
ISBN-13: 9783902951595
Edition Korrespondenzen, Wien 2023
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