Mystisch und deutsch

Mystisch und deutsch

„Mystik aus Frankfurt. Die Theologia Deutsch“
Jakob Böhme

Frömmigkeit ist ein eigentümliches Empfinden, das eine eigene, mystisch durchwirkte, deutsche Geschichte aufweist. In den Böhme-Studien wird das Werk des Schuhmachers und philosophi teutonici Jakob Böhme mit seiner Wirkung auf Zeitgenossen und die Literatur späterer Generationen untersucht. Der fünfte Band setzt es in Beziehung zur Theologica Deutsch, die 1516/18 anonym in Frankfurt erschien. Jakob Ullmann hat sich mit der Glaubensschrift auseinandergesetzt.

In gewohnt hochwertiger Ausstattung und sorgfältigem Layout präsentiert die Internationale Jacob-Böhme-Gesellschaft unter dem Titel „Mystik aus Frankfurt. Die Theologia Deutsch“ den Ertrag einer Tagung, die am 4. und 5. April 2014 im Haus am Dom in Frankfurt am Main stattgefunden hat.

Das Zentrum des Nachdenkens bildete also ein relativ kurzer spätmittelalterlicher, in der Tradition deutscher Mystik stehender Text, den ein namentlich nicht bekannter Priester der Deutschordenskommende in Frankfurt-Sachsenhausen offenbar als Kritik und Gegenentwurf zu den ihrerseits von Traditionen der Mystik inspirierten Lehren der „Brüder und Schwestern des freien Geistes“ verfasst hat. Obwohl dieser Text erst relativ spät auf den „Index der verbotenen Bücher“ der römischen Kirche kam, wurde er vor allem durch die Druckausgaben von 1516 und – dann vollständig – 1518 Martin Luthers bekannt. Luther hatte die Druckausgaben mit lobenden Vorworten versehen, dennoch blieb die auch unter dem die Anonymität des Verfassers wahrenden Namen „Der Franckforter“ selbst unter protestantischen Theologen nicht unumstritten.

So vielfältig und spannend die Handschriften-, Editions- und Rezeptionsgeschichte dieses Textes bis in die Neuzeit hinein auch sein mag, ein derart offenkundiger Bezug zum Werk Jacob Böhmes, der es nötig erscheinen liesse, ihm eine ganze Tagung zu widmen, fehlt allerdings. Man mag das der ohnehin genaue Quellenangaben eher vermeidenden Textpraxis Jacob Böhmes zurechnen. Zudem lassen sich deutliche Bezüge zur „Theologia Deutsch“ im Werk Böhmes nachweisen, die kaum Zweifel daran gestatten, dass Böhme den Text nicht nur gekannt, sondern sehr aufmerksam gelesen hat. Dennoch ist die Wahl des Textes und die Ausweitung des Nachdenkens und der Beiträge zur Tagung einer Ellipse geschuldet, deren Brennpunkte Anfang und Ende des Titels des Tagungsbandes bilden. „Mystik“ und „Deutsch“ strukturieren ein Areal des Nachdenkens, das nicht nur spannende Bezüge der Geistes-, Philosophie- und Theologiegeschichte vom 13. bis hinein in’s 19. Jahrhundert zulässt und erforderlich macht, sondern immer wieder auch die schwierigen Fragen wissenschaftlichen und dezidiert nicht-wissenschaftlichen Redens sowie Volks- und Gelehrtensprache scheidender Diskurspraxis in den Blick nehmen muss. Schliesslich gilt es zu beachten, dass man es mindestens teilweise mit der Verschriftlichung weniger des Nachdenkens als von Erfahrungen zu tun hat, die schon den Übergang in die Konkretion gesprochener Rede, also noch weniger den von gesprochener Sprache zur geschriebenen nicht ohne Verlust überstehen.

Es ist daher für den Leser von grosser Hilfe, dass Günther Bonheim den Beiträgen in einer Einleitung eine Art Leitfaden für die Lektüre an die Hand gibt, der nicht nur das Interesse an der die Ellipse des Nachdenkens erklärt, sondern – sowohl explizit wie auch implizit – Hintergründe und Herausforderungen dieses Nachdenkens deutlich gemacht werden. Es wird sich in den folgenden Beiträgen nämlich sogleich mehr oder minder klar erweisen, dass die beiden jeweils als Opposition zu denkenden Begriffspaare „mystisch“ versus „wissenschaftlich“ und Volkssprache („deutsch“) versus Wissenschaftssprache („Latein“) keineswegs und schon gar nicht eindeutig so aufeinander beziehbar wären, dass der „mystischen“ Rede die Volkssprache entspräche, der wissenschaftlichen Rede das Latein. Dies kann schon deshalb nicht der Fall sein, weil der Begriff ‚deutsch’ zur Zeit der Abfassung der Theologia Deutsch etwas anderes bedeutete als zur Zeit Luthers, zur Zeit Böhmes nach der Reformation, ganz zu schweigen von der Zeit nach dem Sieg über Napoleon. Deshalb gilt dasselbe auch hinsichtlich der Bezeichnung Böhmes als „philosophus teutonicus“ auch wenn schon zu seinen Lebzeiten der Begriff ‚deutsch’ und seine Konnotationen im ethnischen wie „nationalen“ Sinn eine lange und gewundene Geschichte hinter sich haben. Nicht anders verhält es sich mit dem Wort ‚mystisch’. Der volkssprachliche Diskurs theologischer Inhalte vollzog sich ja keineswegs nur im stillen Kämmerlein von mit besonderen Erfahrungen, gar Visionen häufig eher geplagten als gesegneten Autoren, sondern vor allem in Form von Predigten, die nicht selten vor grossem Publikum (meist weit grösserem als bei Messfeiern!) gehalten wurden, das den akademisch gebildeten Teil der Gesellschaft häufig einschloss. Nicht selten waren diese Predigten sogar ausdrücklich an eine universitär verortete Zuhörerschaft adressiert. Die gegenseitige Durchdringung soziologisch und diskurssystematisch völlig unterschiedlich geprägter Soziotope der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft liesse sich vermutlich recht instruktiv an sprachlichen wie musikalischen Elementen und Strukturen spätmittelalterlicher Musik und ihrer Differenzierung in von Reformation und Lied geprägter, von Choral und Liturgie weit stärker geprägter römischer Polyphonie zeigen. Aber das wäre allenfalls Anlass eines weit ausgreifenderen Nachdenkens.

Die Reihenfolge der einzelnen Beiträge ist nun aber nicht an solchen systematischen Überlegungen orientiert, die zur Rechtfertigung bestimmte grundsätzliche Klärungen vorausgesetzt hätte, sondern folgt dem Gang der Geschichte und beleuchtet auf diese Weise verschiedene Aspekte der beschriebenen Ellipse auf je eigene und – was ein unstreitiger Vorteil ist – sehr konkrete Weise.

Der Franckforter, Meister Eckhart und Martin Luther

Der erste Beitrag, Rainer Manstettens Gegenüberstellung des Menschen- und Gottesbildes Meister Eckharts mit dem der Theologia Deutsch zeigt eindrucksvoll, wie mit Hilfe präzise gestellter Fragen, auf die die beiden Autoren in ihren Texten antworten, die Klippen unklaren und gleichsam amorphen Sprechens umgangen werden können. Der mehrstufige Prozess von der Versprachlichung besonderer Erfahrungen und Einsichten (im Mittelalter hätte man vielleicht von „Erleuchtungen“ gesprochen) über die Verschriftlichung tatsächlich gesprochener oder vorgestellter Rede bis zur Erschliessung und Interpretation der verschriftlichten Inhalte wird hier auf eine Weise greifbar, dass auch Leser, denen die vier Fragen, die Rainer Manstetten zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung macht, eher fern liegen, durchaus einen Kenntniszuwachs verzeichnen können, der über historische und sachliche Informationen deutlich hinausgeht. Natürlich ist dies nicht zuletzt deshalb möglich, weil Meister Eckhart selbst ja gewissermassen am Kreuzungspunkt zwischen wissenschaftlicher Lehre und Predigt einerseits, ethnisch begrenzter Volkssprache und international frei verfügbarem Wissenschaftsidiom andererseits dachte, lehrte und sprach.

Wenn Alois Maria Haas, Herausgeber der neuhochdeutschen Übersetzung der Theologia Deutsch von 1993, diesen Text nun mit Lehre und Denken des Herausgebers von 1516 bzw. 1518, also Martin Luther vergleicht, so hat er es mit einer historischen Gestalt zu tun, für die die Frage nach dem „deutschen“ und der Volkssprache in der Verkündigung in gewisser Weise noch weit vordringlicher war, als für den Autor der Theologia Deutsch oder gar Meister Eckhard.

Dies hat sicherlich mit Luthers Lehre vom „Wort Gottes“ zu tun, nach der jedem Menschen in den Texten der Heiligen Schrift dieses Wort frei und unverstellt zugänglich sei. Hier geht es aber nicht in erster Linie um eine Frage des Übersetzens, sondern darum, dass – und daher rührt Luthers offen gezeigte Begeisterung für die Theologia Deutsch – auch Lehrinhalte und Theologoumena nicht an die lateinische Sprache der westlichen kirchlichen Tradition gebunden, sondern auch auf „deutsch“ explizierbar und diskursfähig seien. Haas nimmt sich erfreulicherweise Raum und Zeit, die Diskussion um die Inkulturation der christlichen Botschaft im frühkarolingischen Raum von Herrschaft und Sprache ausführlich vorzustellen. Mit ihrer anfänglichen Zurückweisung der Lehre von den „drei heiligen Sprachen“ (hebräisch – griechisch – lateinisch) zielte diese Inkulturation zunächst darauf, die christliche Botschaft der fränkisch/germanischen Bevölkerung in ihrer, d.h. der Volkssprache zugänglich zu machen. Dass dieses Bildungsprogramm relativ rasch zugunsten eines gänzlich anderen, nämlich der alleinigen Herrschaft der lateinischen Sprache in Kult, Herrschaft und Wissenschaft, aufgegeben wurde, hängt meines Erachtens mit der Begegnung mit einer ganz anderen Welt, nämlich der schon teilweise von Byzanz christianisierten Welt der Slawen zusammen. Die Ausführungen von Haas könnten also noch durch einen Hinweis auf die geradezu wütende Verurteilung der Einführung eigener Buchstaben(!) für Slawen, die die Bedeutsamkeit, ja Heiligkeit des Lateinischen herabzuwürdigen in der Lage sei (vgl. Conversio bagoariorum et carantanorum) ergänzt werden. Das Verbot slawischer Liturgie wird nun eindeutig an den Vorrang des lateinischen Schreibens gebunden, der es erleichterte, dass die Kenntnis des Griechischen und Hebräischen (letzteres natürlich abgesehen von den Juden) im Westen immer mehr verschwand. Luther, für den die Kenntnis nicht nur des Griechischen, sondern inzwischen auch des Hebräischen selbstverständlich war, konnte die Frage der theologischen Diskursfähigkeit der Volkssprache deshalb vor dem Hintergrund selbstverständlich gewordener Mehrsprachigkeit auch in der theologischen Wissenschaft ganz neu bewerten und beantworten.

Haas weist darauf hin, dass dies aber keineswegs der einzige Grund für die Begeisterung Luthers für das schmale Buch aus Frankfurt ist. Die Frage nach der „vita passiva“ und dem „Gott-Leiden“ (einem in der mystischen Tradition des Spätmittelalters keineswegs ungewöhnlichen Konzepts) eröffnet für Luther einen neuen Zugang zur Frage nach der Rechtfertigung („iusitificatio“), die sicher nicht zu unrecht als eine der zentralen Fragen der Reformation angesehen wird. Gerade im Umfeld der Entwicklung seiner eigenen Lehre zwischen der Römerbrief-Vorlesung von 1515/16, den Wittenberger Thesen von 1517, den Probationes zu den philosophischen(!) Thesen der Heidelberger Disputation bis zu seinem grossen Werk über den „unfreien Willen“ von 1525 gibt ihm der Text des Frankfurter Autors Gelegenheit, seine eigenen Antworten auf die (schon das ganze Spätmittelalter umtreibende) Frage „wie bekomme ich einen gnädigen Gott“ mit der Frage danach zu verknüpfen, wie der „gefallene Mensch“ sich dennoch mit Gott „einigen“ („henosis“), ja selbst gottgemäss („theosis“) werden könne. Dass hier von Luther tatsächlich neues Terrain beschritten wurde, sieht man leicht an zwei Détails, die häufig übersehen werden: Der Begriff der „Rechtfertigung“ ist so ungewöhnlich und neu im theologischen Diskurs, dass im Briefwechsel zweier Tübinger Theologen mit dem ökumenischen Patriarchen Jeremias von Konstantinopel noch gegen Ende des 16. Jahrhunderts für diesen Kernbegriff protestantischer Lehre ein griechisches Wort neu erfunden werden musste (vgl. Acta et Scripta von 1584). Zum zweiten weist Luther am Schluss seines Werkes „De servo arbitrio“ ausdrücklich darauf hin, dass nur einer, nämlich Erasmus, den Kern des gesamten reformatorischen Disputes begriffen habe, der in der Frage nach dem Willen besteht. Ist es also verwunderlich, dass diese Frage sich ca. 300 Jahre später auf der Agenda der Philosophie wiederfand?

Das Böse und heftige Fehden

Der Beitrag von Sybille Rusterholz geht nun auf den Zusammenhang zwischen Böhmes Denken und Schreiben und der Theologia Deutsch selbst ein. Indem die Autorin die Schmähkritik an Böhmes Werk, das zu Lebzeiten mit einer einzigen Ausnahme nur handschriftlich verfügbar war, durch den Görlitzer Pfarrer Gregor Richter, aber auch durch Peter Widmann untersucht, wird sie schnell fündig, was nach Meinung der Kritiker die Quellen für Böhmes Irrtümer und Abweichungen von der reinen lutherischen Lehre seien. Paracelsus wird genannt, Valentin Weigel findet Erwähnung, aber auch „mystische“ Schriften wie diejenigen Taulers und eben die Theologia Deutsch werden als Ursache für Böhmes „Schwärmerei“ namhaft gemacht. Dieser Teil des Beitrages wirft einen interessanten Blick auf die Vielschichtigkeit theologischer Diskussionen nicht nur zwischen den neu entstandenen Konfessionen, sondern auch innerhalb derer, zwischen universitärem Lehranspruch und Laientheologie, sowie zwischen den inzwischen ausgebildeten durchaus unterschiedlichen Formen protestantischer Lehre, die über den Gegensatz zwischen süddeutsch-schweizerisch-reformierter Tradition und den Nachfolgern und Interpreten Luthers insofern hinausgingen, als auch Letztere sich in heftige Fehden verwickelt hatten. Im zweiten Teil ihres Beitrages geht die Autorin dezidiert auf Einflüsse, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Theologia Deutsch und Böhmes Denken ein. Es ist wenig verwunderlich, dass dabei die Begriffe ‚Sünde’, ‚Wille’ und die Frage nach dem ‚Bösen’ im Mittelpunkt stehen. Es ist erstaunlich, in welchem Masse der Leser beim Nachvollzug der Darstellung von Sybille Rusterholz – gerade was die Frage nach dem ‚Bösen’ angeht – sich auf philosophischen Pfaden vom Ende des 18. und dem Beginn bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wähnen kann. Die Fragen nach „Grund“ und „Ungrund“, nach „Sein“ oder „Seinslosigkeit“ des Bösen, die Zulassung von gewissen Kräften und ihren Gegenkräften in Gott selbst lassen jeden mit kabbalistischen Texten einigermassen vertrauten Leser häufiger als es vermutlich tunlich ist, an jüdische Quellen denken, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts durch verschiedene (christliche!) Autoren zwar schon in gewisser Weise popularisiert waren, aber in ihren wahren Gehalten und inhaltlichen Zusammenhängen kaum erschlossen werden konnten. Dass hier aber womöglich eine gewisse „Sympathie der Seelen“, wie Gershom Scholem das nennt, vorliegen könnte, sieht man nicht zuletzt an der merkwürdigen Bemerkung, die F. W. J. Schelling zur vor Schluss seiner Abhandlung „Über das Wesen der menschlichen Freiheit“ gemacht hat. Auch dort wird ja ein solcher Zusammenhang hergestellt, ohne dass Schelling genaue Belege angegeben hätte. Die Passagen, die die Autorin den Einlassungen Böhmes hinsichtlich der „steinernen (also statt einer lebendigen, einer versteinerten) Kirche” widmet, lassen sich in der Gegenwart kaum anders als prophetisch lesen.

Sie machen den Leser aber, wie jene instruktiven Erläuterungen zur Rezeption von Böhmes Denken gerade im Pietismus (also bei Spener und Oetinger) einmal mehr mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass alles nostalgische Schielen nach einer vermeintlich „guten alten Zeit“ auch und vor allem in den Kirchen nichts als reines Wunschdenken ist.

Auch der Beitrag von Günther Bonheim beschäftigt sich mit dem Einfluss der Theologia Deutsch auf Böhme, allerdings hier im konkreten Zusammenhang mit Fragen, die an Böhme in Hinsicht der Lehre von Esajas Stiefel gestellt wurden. Die zwei Antworten unterschieden sich vor allem im Stil: Die erste ist durchaus freundlich im Stil, aber dennoch klar ablehnend in der Sache. In der zweiten gibt Böhme seine anfängliche Zurückhaltung auch im Stil weithin auf. In der Sache geht es um die Frage, ob der Mensch in seinem irdischen Leben schon völlig gottgleich werden könne (eine Frage, die auch der „neubegeisterte“ Jünger Böhmes, Quirinus Kuhlmann bekanntlich ganz anders als Böhme beantwortet hat). Die vergleichende Gegenüberstellung über den Gegensatz zwischen wahrem und falschen Licht, die Bonheim dem Leser bereitstellt, kann als Einübung in die Lektüre von Schriften und die Einübung in ein Einflüsse durchaus integrierendes, ohne auf Zitatebene stehenbleibendes Denken gelesen haben, das nebenbei den Leser auch in für ihn vermutlich eher ungewöhnliche Gefilde des Denkens und Argumentierens einführt.

Das deutsche Denken und die kranke Nonne

Susanne Gruber, die in Ihrem Beitrag zur noch wenig erforschten Frage der Rezeption der Theologia Deutsch bei den Romantikern nachgeht, spannt den Bogen zwischen zwei in gewisser Weise massstabsetzenden Editionen des spätmittelalterlichen Textes. Zum einen die Edition, die der Berliner Pfarrer Karl Grell 1817 zum Reformationsgedenken vorlegte, zum anderen die Edition von Franz Pfeiffer, die sich erstmals seit Luther und früheren Editionen auf einen von ihm selbst 1843 im Kloster Bronnbach gemachten Handschriftenfund stützen konnte (ein Faksimile der Handschrift ziert den Einband des Buches). Die erstgenannte Ausgabe stand kurz nach dem Sieg über Napoleon ganz im Zeichen der Erinnerung an die Reformation als wesentlich deutsches Ereignis, sah die Theologia Deutsch also als den Beweis eines schon vor Luther sich artikulierenden deutschen Denkens und Sprechens. Letztere markiert den Übergang zu einem vorzüglich quellengestützten und daher weniger am vom Inhalt des Textes seiner Interpretation bestimmten Editionspraxis. Dazwischen liegt eine Entwicklung, die die Theologia Deutsch mehr und mehr aus der nicht zuletzt durch die Editionen Luthers beeinflussten konfessionellen Enge befreit und auch für schweizerisch-reformierte Kreise erschliesst. Auch von römisch-katholischer Seite gibt es ein neues Interesse an diesem Text, das die Autorin vor allem an der literarischen Verarbeitung, die Clemens Brentano seinem langandauernden Besuch bei der kranken Nonne Anna Katharina Emmerick in Dülmen und ihren Visionen angedeihen liess (sie enthalten sehr viel mehr Brentano als Emmerick). Damit war Mitte des 19. Jahrhunderts also jener Stand der Rezeption erreicht, der eine von konfessionellen Rücksichten und Interessen weithin befreite Lektüre der Theologia Deutsch und ihre Einordnung in den Vielfalt der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des späten Mittelalters ermöglichte.

Der junge Schopenhauer und die Morgenröthe

Im letzten Beitrag beschäftigt sich Thomas Regehly ausgehend von einem dokumentierten Gespräch mit Carl Georg Bähr mit dem Einfluss der Theologia Deutsch auf die Entwicklung von Denken und Werk Arthur Schopenhauers. Er tut dies nicht nur aus zugegebenermassen lokalpatriotischem Interesse und um einige Lücken und Unklarheiten in der gängigen Schopenhauer-Literatur kenntlich zu machen. Er nutzt das Thema vor allem, um einmal den jungen Schopenhauer gegenüber dem alten zu seinem Recht zu verhelfen. Dass Schopenhauer schon als junger Mann offensichtlich tief ergriffen davon war, dass schon fast ein halbes Jahrhundert vor ihm Gedanken zu Papier gebracht wurden, die seinen Einsichten weithin zu gleichen schienen, ist gut belegt. Dass er die Theologia Deutsch natürlich auf dem Hintergrund einer auch indische religiöse Traditionen in sein Gedankengebäude, um nicht zu sagen in sein „Weltbild“ integrierende Wahrnehmung las, ist für einen philosophischen Autor der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wenig verwunderlich. Der spezifisch religiöse und frömmigkeitliche Aspekt des spätmittelalterlichen Textes konnte für einen Autor, für den das überkommene Christentum längst ein Faktum gelebter Geschichte geworden, also überwunden war, nur noch als Ornament einer geistesgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit sein, zu der neben ihren religiösen Traditionen auch ebenso die philosophischen gehörten, weshalb Schopenhauer in seinen Randnotizen im ihm vorliegenden Text nicht zögert, der geistigen und geistlichen Umwelt der Theologia Deutsch völlig fremde Bezüge herzustellen oder zu „entdecken“.

Ergänzt wird der Band durch einen der mit dem zweiten Jacob-Böhme-Preis 2015 ausgezeichneten Essays; der zweite ausgezeichnete Text wurde bereits an anderer Stelle publiziert. Filips Defoort beschäftigt sich in „Between Unfathomable Freedom and Determinism: a Tentative Approach to Boehme`s Compatibilist View on Predestination and Human Freedom“ mit Böhmes Beitrag zur Prädestinationslehre insbesondere in der Auseinandersetzung mit der calivinistischen Position und ihrer Implikationen.

Die unter die Überschrift „Neues zur Böhme-Philologie“ gestellten Artikel – die deutsche Übersetzung eines englischen Artikels von Leigh T. I. Penman, der die Schwierigkeiten der Lektüre und Interpretation jener Texte Böhmes, die noch einer verlässlichen Edition harren und die Vorstellung einer Neuedition aller Texte Böhmes auf der Basis des inzwischen erreichten Standes von Handschriften und Drucken durch Günther Bonheim – stellen auf je ihre Weise die Notwendigkeit, aber auch den beträchtlichen Umfang einer historisch-kritischen Edition der Werke Böhmes eindringlich vor Augen.

Es folgen noch vier Rezensionen, auf deren dritte besonders hingewiesen zu werden verdient. Unter dem Böhme-Titel „Aurora – Morgenröthe im Aufgang“ hat der Kunstkeller Annaberg (schon auf diese Unternehmung hingewiesen zu werden, verdient den unstreitigen Dank des Lesers!) ein Büchlein veröffentlicht, das in bester osteuropäischer Samisdat-Tradition verschiedene Texte unterschiedlicher Genres mit graphischen Arbeiten kombiniert. Die Sammlung, in der so unterschiedliche Autoren wie Quirinus Kuhlmann, Nikolai Berdjajev und Béla Hamvas vorgestellt werden, die Arbeit von Carlfriedrich Claus (einem immer noch zu wenig bekannten Schrift- und Textkünstler) und des merkwürdigen (Proto-)Dadaisten RRH von Jägersdorf gewürdigt und mit Photos des abgebrannten Anwesens, auf dem Böhmes Geburtshaus gestanden hat, kombiniert werden (es folgt noch ein – wiederum neue Bezüge herstellender – Text von Jörg Seidel) steht unter der programmatischen Aussage: „Die Morgenröthe im Aufgange, die auch Privatinquisitoren gebar“. Als Rezensent bin ich Günther Bonheim nicht nur für den Hinweis auf diese Veröffentlichung äusserst dankbar, sondern auch für die von ihm – in freundlicher aber deutlicher Form – geübte Kritik an einem einzige Satz dieser Publikation, der den Tod Ossip Mandelstams betrifft. Die brutalen Verfolger Mandelstams waren in der Lage, ihn auf schreckliche Weise zu töten, ihnen zuzugestehen, Mandelstam verrecken zu lassen – da hat Günther Bonheim völlig recht – würde ihnen eine Fähigkeit attestieren, die niemand haben kann und darf.

Mit einem Anhang, der Neuerscheinungen zwischen 2014 und 2018 auflistet, Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren, sowie Informationen zur Internationalen Jacob-Böhme-Gesellschaft enthält, wird eine Veröffentlichung komplettiert, die weitere Bände dieser Reihe mit Spannung erwarten lassen.

Letzte Änderung: 29.04.2022  |  Erstellt am: 29.04.2022

Mystik aus Frankfurt

Günther Bonheim, Thomas Regehly (Hrsg.) Mystik aus Frankfurt – Die Theologica Deutsch

Böhme Studien, Beiträge zu Philosophie und Philologie, Bd. 5
Herausgegeben im Auftrag der Internationalen Jacob-Böhme-Gesellschaft
254 S., brosch.
ISBN: 978-3-89998-335-7
Weißensee Verlag, Berlin 2020

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