Vor 30 Jahren – der Bosnien-Krieg dauerte schon länger als ein Jahr, der PEN-Club, der in Dubrovnik stattfand, wurde wegen seines autoritären Präsidenten boykottiert – kam die Schriftstellerin Susan Sontag (1933–2004) aus Sarajewo nach Frankfurt. Dort ging es im Gespräch mit Marli Feldvoß um den Krieg, die Aufgabe des Schriftstellers und um das Engagement im Roman „Der Liebhaber des Vulkans“, der im Jahr zuvor in den USA erschienen war.
Marli Feldvoß: Susan Sontag, Sie kommen gerade aus der umlagerten Stadt Sarajewo. Was sind Ihre Eindrücke? Warum sind Sie dorthin gefahren?
Susan Sontag: Seit Beginn des Krieges gegen Bosnien habe ich sehr genau die Nachrichten verfolgt. An einem bestimmten Punkt wurde mir klar, daß dieser Krieg ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung war und sich zum dritten großen Genozid dieses Jahrhunderts in Europa entwickelte. Da waren 1915 die Armenier, die europäischen Juden unter Hitler im Zweiten Weltkrieg, und jetzt sind es die bosnischen Moslems. Und da es zu meiner Vorstellung von den Aufgaben eines Schriftstellers gehört, dass er ein Zeuge sein soll, dass er die Stimme des Gewissens darstellen soll, hatte ich das Gefühl, dass ich dorthin gehen sollte. Nicht unbedingt, um etwas darüber zu schreiben, aber, um darüber zu berichten und um besser verstehen zu können, was dort geschieht. Zu meiner großen Überraschung ist bisher kein international bekannter Schriftsteller nach Sarajewo gefahren.
Im Augenblick wird in Athen über den Vance-Owen-Friedensplan verhandelt. Wie schätzen Sie die Friedensbemühungen ein? Besteht überhaupt ein Interesse am Frieden in Ex-Jugoslawien?
Ich glaube nicht, dass die Serben Frieden wollen. Oder sonst jemand. Ich glaube nicht, dass sie den Vance-Owen-Plan akzeptieren. Ich glaube nicht, dass die derzeitigen Anstrengungen ernst gemeint sind, die so aussehen, als ob man sich dem Druck der Amerikaner beugen wolle – denn die Europäer haben sich besonders dadurch hervorgetan, dass sie keinen Druck auf die Serben ausüben. Jetzt sind es ausschließlich die Vereinigten Staaten, die auf Druck der Öffentlichkeit endlich bereit sind, begrenzte Schritte zu unternehmen. Ich glaube nicht, dass sie den Krieg beenden wollen. Was gerade passiert, die Angriffe auf Zepa und auf die anderen umlagerten Enklaven, ist genau das, was ich erwartet habe. Als ich im April zwei Wochen zwei Wochen lang in Sarajewo war, war die erste Woche ein sogenannter Waffenstillstand. Waffenstillstand bei den Serben heißt, dass sie lediglich die Anzahl der Granatenangriffe verringern. Also fliegen weiterhin Granaten in die Stadt und töten Menschen. Genauso geht das Feuer der Heckenschützen weiter, von den Geschützstellungen und Maschinengewehren von den umliegenden Hügeln, die höchstens eintausend Meter von der Innenstadt Sarajewos entfernt sind. Es gab nie einen wirklichen Waffenstillstand, weder in Srebenica, Sarajewo oder Zepa.
Wie lässt sich die zögerliche Haltung des Westens erklären? Was wünschen Sie sich als Amerikanerin?
Ich wünsche mir ein größeres Engagement auf Seiten der USA. Ich hätte mir auch gewünscht, dass Europa, so wie wir einmal gehofft haben, einen politischen Willen, eine eigenständige Außenpolitik beweisen würde, dass es eine Vorstellung davon hätte, wie Staaten sich zu benehmen haben, aber dieses Vereinigte Europa stellt sich stattdessen als ein ökonomisches Arrangement heraus, ein freier Handelsmarkt für die Interessen eines multinationalen Kapitalismus. Ich bin sehr pessimistisch. Für mich ist das nur der erste von vielen Erbfolgekriegen im früheren Sowjetimperium. Ähnliche Entwicklungen sieht man schon in Georgien und Aserbaidschan. Das wird so weitergehen.
Gerade fand der umstrittene PEN-Kongress in Dubrovnik statt. Das diesjährige Motto des Kongresses „Place and Destiny“ (Ort und Schicksal) hätte nachgerade zu einer offensiven Stellungnahme herausfordern können. Warum hat im großen und ganzen das vornehme Prinzip „No politics in the PEN-club under any circumstances“ gesiegt?
Ich war an der Entscheidung des amerikanischen PEN beteiligt, nicht nach Dubrovnik zu gehen. Ich will dazu zwei Dinge sagen. Ich verstehe nicht, warum der deutsche PEN dafür angegriffen wurde, dass er nicht dort war. Ich habe gehört, dass Frank Schirrmacher in der FAZ die Entscheidung des deutschen PEN angegriffen hat. Ich stehe voll hinter dem Boykott, denn es war gar kein Kongress im eigentlichen Sinne, der sich auch durch die Delegiertenversammlung definiert; nur ein halbes Dutzend von über achtzig Zentren war in Dubrovnik überhaupt anwesend.
Wie kam es zu der weltweiten Entscheidung gegen Dubrovnik?
Wir haben die Teilnahme verweigert, weil wir erfahren haben, dass der Präsident des kroatischen PEN in Angriffe auf Schriftsteller in Kroatien verwickelt war. Man hat sie als politische Verräter bezeichnet. Er hat die schlimmsten Beschuldigungen unterschrieben und unterstützt, praktisch Aufrufe zum Mord, unter Angabe von Adresse und Telefonnummer der Schriftsteller. Außerdem hat Kroatien einen sehr schlechten Ruf, was die Behandlung von Schriftstellern anbelangt; es herrscht strenge Zensur. Mich hat Herr Nowak, der Präsident des kroatischen PEN, persönlich als Ehrengast eingeladen. Das war für mich der letzte ausschlaggebende Punkt dafür, nicht nach Dubrovnik zu fahren, sondern nach Sarajewo.
Hätten nicht gerade die Deutschen mit ihrer Geschichte die Gelegenheit ergreifen müssen, die moralische Autorität des PEN zu erneuern? Man hat hier in diesem Zusammenhang an die flammende Rede Ernst Tollers 1933 erinnert, der die Nazi-Delegation aus dem Saal vertrieb. Wie steht es heute mit der moralischen Autorität des Schriftstellers?
Schriftsteller gibt es in allen Variationen und in den verschiedensten Bewusstseinsformen. Manche sind gute, manche schlechte Menschen, wie alle anderen auch. Ich würde nie verlangen, dass Schriftsteller bessere Menschen sind oder mehr politische Einsichten haben sollten als andere. Trotzdem denke ich, dass ein Schriftsteller eine bestimmte moralische Autorität haben kann, weil er oder sie sich in eine große Schriftsteller-Tradition stellen kann, die bis Voltaire zurückgeht. Das bedeutet: für Gerechtigkeit zu protestieren und für die individuellen Rechte einzustehen und für die Rechte derjenigen, die zum Opfer gemacht werden.
Es gibt diese Tradition, aber es gibt auch die Schurken, nicht nur die Konformisten, sondern auch die, die sich auf die Seite der Staatsmacht stellen, wie wir es bei den Nazis gesehen haben, wie wir es immer wieder sehen. Es gab da einen russischen Schriftsteller, Edward Lemonov, der, zu seiner ewigen Schande, die serbischen Stellungen oberhalb von Sarajewo besuchte und dabei gefilmt wurde, wie er selbst auf die Leute geschossen hat. Man kann dort jeden Augenblick getroffen werden. Und nicht nur auf der Straße.
Wie wird man eine moralische Autorität?
Ich glaube, man muss sich diese moralische Autorität erst verdienen. Ich würde auch lieber von „moralischer Glaubwürdigkeit“ sprechen. Dass die Leute einem zuhören wollen und etwas ernstnehmen, weil man mit Bedacht die richtige Meinung zu einer Reihe von öffentlichen Fragen vertritt. Wenn man allerdings zu allem und jedem Stellung nimmt, wie es einige deutsche Schriftsteller getan haben, dann verschenkt man seine Glaubwürdigkeit. Ich habe das immer wieder gehört, dass heute ein solches Schweigen in Deutschland herrsche, weil die Schriftsteller zuviel geredet hätten, dass ihnen deshalb heute keiner mehr glaube … Es müssen Stimmen in der Öffentlichkeit laut werden, um die Leute aufzurütteln. Gar nichts zu tun, ist eine Katastrophe, darin zeigt sich auch eine furchtbare Gleichgültigkeit.
In Ihrem neuen Roman, dem „Liebhaber des Vulkans“, hat man es etwas schwer, die Susan Sontag wiederzufinden, die sich so überzeugend in der Zeitgeschichte engagiert.
Aber der „Volcano Lover“ ist doch voll davon. Der „Volcano Lover“ ist ein dickes, ein sehr ambitioniertes Buch, und es beginnt so, wie es einmal in meinem Kopf angefangen hat, mit der Psychologie und mit der Figur des Sammlers. Dann kam der Roman, die Story hinzu und viele andere Themen, und schließlich heißt das Thema des Romans: die Lage der Frauen und andere Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit, die Französische Revolution, die Neapolitanische Revolution. Das ist ein Roman, der auf moderne Art viele traditionelle Aufgaben des Romans zu erfüllen versucht, wie sie im 19. Jahrhundert formuliert wurden.
Und warum haben Sie dafür den Essay aufgegeben? Sie haben den Essay ja auch einmal für eine „tote Form“ erklärt.
Der Essay ist für mich keinesfalls eine „tote Form“. Nur, ich habe jetzt gelernt, Fiktion so zu schreiben, dass ich die Essay-Elemente einbeziehen kann. Das ist mir früher nicht gelungen. Erst der „Volcano Lover“, obwohl der schon mein dritter Roman ist, hat mir endlich den Weg gezeigt. Jeder, der die Literatur des 19. Jahrhunderts kennt, weiß, dass alle großen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts Essay-Elemente verwendet haben, denken Sie an Tolstoi, Dostojewski, Balzac oder auch an Proust, den man vielleicht als den letzten Romancier des 19. Jahrhunderts bezeichnen kann, obwohl er Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb. Da gibt es Themenausflüge, und dann kommt man wieder zum Ausgangspunkt zurück. Ein Roman ist in erster Linie eine Erziehung des Herzens und der Gefühle. Er sollte unbedingt lesbar sein, er soll gefallen, wenn nicht, soll der Leser ihn weglegen. Aber ein Roman kann auch denken.
Im vierten Teil Ihres „Volcano Lover“ kommen die Frauen ganz speziell zu Wort, ganz zuletzt die neapolitanische Revolutionärin Eleonora de Fonseca Pimentel, ein Wunderkind, das Ihnen sehr ähnlich sieht.
Wenn man einen Roman schreibt, dann weiß man am Anfang nicht so genau, warum man über diese Leute schreibt, man mag sie auch nicht unbedingt. So fängt es an. Das ist jetzt genauso bei meinem neuen Roman. Ich bin mir sehr im Zweifel über meine Figuren, aber das war beim „Volcano Lover“ genauso. Aber an einem bestimmten Punkt identifiziert man sich mit allen. Außer mit Scarpia, dem Bösewicht, den ich mir von Puccinis „Tosca“ ausgeborgt habe. Ich brauchte einfach eine Person, in der ich mich nicht wiederfinde. Ganz sicher identifiziere ich mich mit allen vier Frauen, die am Ende sprechen. Der Roman endet ja mit vier weiblichen Monologen, Arien oder Selbstgesprächen; sie sprechen alle aus dem Grab, um erzählen zu können, wie sie gestorben sind. Diese Monologe zu schreiben, war für mich sehr bewegend. Und ich war jede von ihnen, als ist das schrieb. Aber wie Sie sagen, habe ich ans Ende Eleonora de Fonseca Pimentel gesetzt. Sie war ein Wunderkind, eine Sympathisantin und eine Anführerin der republikanischen Bewegung in Neapel, die so grausam von den Bourbonen und von meinen Helden, den Hamiltons und von Nelson, unterdrückt wurde. Sie ist eine wirkliche Person, sie hat aber auch andere Züge, etwa von Simone Weil und von anderen Frauen, die ich bewundere, Personen mit Bewusstsein.
Es ist merkwürdig, wenn Sie von „Wunderkind“ sprechen. Ja, ich war ein Wunderkind, ich war glücklich darüber, ich habe diese beschleunigte Lebensweise sehr genossen. Mit 14 oder 16 ist man schon wer, mit 17 habe ich geheiratet, bald hatte ich ein Kind. Jetzt, mit 60, gefällt es mir, dass ich in Wirklichkeit doch sehr langsam bin. Ich bin wirklich langsam. Ich habe dreißig Jahre lang geschrieben und veröffentlicht, aber erst jetzt mache ich die Arbeit, die ich wirklich machen will. Jetzt bin ich glücklich darüber, dass ich mich als ein falsches Wunderkind entpuppt habe.
Das Gespräch wurde am 5. Mai 1993 in Frankfurt geführt und erschien zuerst am 4. Juni 1993 im „Journal Frankfurt“.
Letzte Änderung: 26.05.2022 | Erstellt am: 25.05.2022
Die deutsche Ausgabe des Romans „Der Liebhaber des Vulkans” erschien 1993 und lag Marli Feldvoß bereits auf Deutsch vor.
Susan Sontag Der Liebhaber des Vulkans
Roman
548 S., brosch.
ISBN-13: 9783596106684
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1996
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