Matrix der lebendigen Arbeit, reloaded

Matrix der lebendigen Arbeit, reloaded

Die Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit
Der Nischel von Chemnitz | © wikimedia commons

Als attraktive Arbeit galt lange die selbstgewählte, selbstbestimmte, also unabhängige Arbeit, die im selten erreichten Idealfall bei Künstlern vorstellbar war, – im Gegensatz zur abhängigen, entfremdeten Lohnarbeit, die destruktiv auf die Persönlichkeit und die Gesellschaft einwirkt. Aber es gibt auch Bestrebungen, das eine mit dem anderen in Einklang zu bringen. Zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Arbeit hat das Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit eine umfangreiche Sammlung von Sachtexten herausgebracht, die Peter Kern kritisch gesichtet hat.

Eine der menschlichen Produktivität und dem Gebrauch der Werkzeuge gewidmete siebenbändige Monografie ist anzuzeigen, die mit dem Microchip nicht endet, sondern mit Vorschlägen, die avancierte Technik zu nutzen, um die dreifache Not zu mildern: die reale des Globalen Südens, die metaphorische der entfremdeten Arbeit in den OECD-Ländern des Nordens und die der ausgepowerten, alle Gesellschaften umfassenden äußeren Natur. Eine technokratische Utopie also, Weltverbesserer mit ChatGPT? Die Autorinnen und Autoren des Instituts für die Geschichte und Zukunft der Arbeit haben ihr Mammutbuch in einem der SPD nahestehenden Verlag veröffentlicht. Man sollte es sich nicht leicht machen mit seinem sarkastischen Urteil. Es ist im Gegenteil sehr bemerkenswert, einen solchen Zukunftsentwurf aus sozialdemokratischen Federn zu lesen. Hat man es sich doch beinahe abgewöhnt, dieser einmal reformistisch gescholtenen Partei noch eine Reformprogrammatik zuzutrauen.

Die Urheber der Bände sind erkennbar von Thomas Piketty inspiriert. Sein Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert hat die Gesellschaftskritik auf die Höhe der Zeit gehoben. Er hat das statistische Material, mit dem Marx im ausgehenden 19. Jahrhundert gearbeitet hatte, auf den Stand des beginnenden 21. Jahrhunderts gebracht. Die Autoren von Matrix der Arbeit wetteifern dem französischen Ökonomen und seiner statistischen Vorliebe nach. Es ist eine Statistik mit Hintersinn, die ihre Kontrahenten mit ihren eigenen Mitteln auf die Matte legen will. Denn die Apologeten der freien Marktwirtschaft haben vor nichts so sehr Respekt wie vor Zahlenkolonnen.

In diesem Buch findet man seitenweise Grafiken und Schautafeln. Sie zeigen ein im ständigen Progress befindliches menschliches Arbeitsvermögen. Längst hat es eine historische Stufe erreicht, die die Fortexistenz von Hunger und Durst als eine Schande der Menschheit erscheinen lässt. Wären die Produktivkräfte von dem Zwang befreit, nur dem Tauschwert dienstbar zu sein und stünde ihr Gebrauchswert frei zur Verfügung, käme der schändliche Zustand der Welt rasch zu einem Ende.

Die einzelnen Bände gehen den Epochen der Menschheitsgeschichte nach und gliedern sie nach ihren Produktions- und Herrschaftsverhältnissen. Ganze Meter an Sekundärliteratur sind verarbeitet, und zugearbeitet haben den Ökonomen die Wissenschaftssparten Ethnologie, Anthropologie, Arbeitswissenschaft und Klimaforschung. Bezeichnenderweise ist von den Ingenieurswissenschaften nichts gekommen; ihnen fehlt jeder Begriff ihrer eigenen Geschichte. Dass die lebendige Arbeit als bloßes Anhängsel unter die tote Maschinerie subsumiert ist und dieses Elend als condition humaine gilt, entzieht sich der Reflexion. An keiner technischen Universität dieses Landes wird man einen solchen kritischen Gedanken finden.

In dieser Monografie ist das mit Herrschaft amalgamierte Verhältnis von geistiger und körperlicher Arbeit plötzlich wieder ein Thema. Es ist eins dieser hässlichen Themen, die die bundesrepublikanische Gesellschaft gerne verdrängt und die als verdrängte dann wiederkehren. Fachkräftemangel ist die Chiffre der Angestelltengesellschaft, womit ihr zu Bewusstsein kommt, dass Handwerks- und Industriearbeit für die Funktionsweise der Gesellschaft unverzichtbar sind. Man rät den eigenen Kindern davon ab; sie sollen was Ordentliches lernen, was heute heißt, sie sollen studieren. Ihr künftiges Berufsleben sollen sie im Büro und nicht auf der Baustelle oder auf dem Shopfloor der Fabrik verbringen. Und plötzlich wird man gewahr: Da fehlt doch wer. Also müssen Arbeiter her, die man eigentlich nur noch vom Geschichtsbuch her kennt. Am besten wäre es, sie kämen quasi als ausgebildete Klempner angesegelt. Stattdessen kommen unausgebildete junge Männer, Frauen und Kinder mit dem Schlauchboot. Aber für die hat man keine Verwendung.

Gute sozialwissenschaftliche Bücher verzuckern keine gesellschaftliche Realität. Man erkennt sie am fehlenden Begriffsklimbim. Nach den süßen Surrogaten ist der Hunger groß, und die angesagte Soziologie gibt den verlangten Zucker. Dieses Buch bleibt im Zustand der Nüchternheit. Man könnte auch sagen, es stellt sich der Realität der globalisierten Welt. 20 Prozent der jungen Bevölkerung in den Ländern der Subsahara wollen, so liest man, ihrer Verelendung entfliehen. Das Buch zitiert eine Untersuchung der Vereinten Nationen. Die Flüchtlinge orten mit ihren Smartphones das gelobte Land und die dorthin führenden Fluchtrouten. Wer will es ihnen verdenken? Zehn Prozent der Menschheit leben mit vier Dollar am Tag; darunter fängt gleich das Sterben an. 36 Prozent verfügen gerade mal über acht Dollar, was zum Sterben zu viel ist. Solange sich diese Verhältnisse fortschreiben, wird es das gegenwärtige Ausmaß an Migration geben. Vor dem Hintergrund solcher Zahlen lässt sich ermessen, wie verlogen es ist, zu suggerieren, mit einer anderen Bundesregierung käme die Lösung des Flüchtlingsproblems.

Solche Statistik zu bieten, ist das große Verdienst dieser umfänglichen Materialsammlung. Die Materialien sind eingefügt in eine Geschichte der Werkzeuge, der Maschinen und der von den jeweiligen Produktionsweisen charakterisierten Epochen. Das Berliner Institut hat ein lexikalisches Werk mit einem sehr nützlichen Schlagwortverzeichnis geliefert. Der pädagogische Zweck der Bände ist unübersehbar. In der gewerkschaftlichen Bildung, in der gymnasialen Oberstufen, im Grundstudium wären sie wunderbar einzusetzen.
Man erfährt etwas über die neolithische Revolution, die den Homo sapiens auf den Geschmack der Sesshaftigkeit brachte, über die sogenannten Hydraulischen Gesellschaften Mesopotamiens, über die aus den wasserführenden Kanalbauten hervorgehende frühe staatliche Organisation, die Ökonomie des Sklavenhandels, die sogenannten Satanic Mills des Manchesterkapitalismus. All dies vermittelt richtige Bildung und nicht Info und Bildungsabhub. So sind sich die Autorinnen und Autoren nicht zu schade, dem Leser zu erklären, wie ein Computerprogramm funktioniert, das in einem Chip steckt, der wiederum eine automatische Fertigungsanlage steuert. Wieviel Bluff steckt dagegen in manchem sich mit Fachjargon über Deep Learning und Algorithmus auslassenden journalistischen Text, der doch nur hingeschludert ist, weil der Chefredakteur endlich auch mal einen Artikel zum Thema haben will.

Das Werk mit seinen sieben Bänden muss als ein Manifest gelten. Ein Manifest mit 4.000 Seiten Umfang? Das bekannteste, das kommunistische, weist gerade mal 40 Seiten auf und hat Epoche gemacht. Und doch ist die Assoziation gerechtfertigt. Denn diese Bände teilen dieselbe Hoffnung auf das den Produktivkräften innewohnende Vermögen, ein Weltalter ohne Hunger, Ausbeutung, Herrschaftsverhältnisse, Ressourcenknappheit und Raubbau an der Natur freizusetzen. Die alte Ausbeutung gibt es doch gar nicht mehr, sagen die Einverstandenen und machen aus der Feier der Technologien eine Feier des sie anwendenden Kapitalismus. Das dem Kapital zugeschriebene Vermögen ist aber eines der lebendigen Arbeit, das sich in den Werkzeugen vergegenständlicht hat. Das ist die Analysis, die Rechenart dieses Buchs. Was der Seite der Lohnarbeit zugehört, soll nicht fetischisierend der Gegenseite zugeschrieben sein.
Das Manifest holt langen Anlauf, bis es in der Gegenwart ankommt. Es endet mit sehr handfesten Vorschlägen. Wie ist die lebendige Arbeit zu organisieren, damit sie den Produktionsprozessen nicht als Restgröße einverleibt bleibt? Was befähigt die Individuen, sich der Technik als Werkzeug zu bedienen? Die Frage lässt sich beantworten, aber nicht mit New Work-Phraseologie. Befriedigende Arbeit ist abwechslungsreich, hat Einfluss auf die ihr zugrunde liegenden Organisation, ist ordentlich entlohnt und kommt der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten entgegen; sie vergegenständlicht sich in einem nützlichen Gut, bietet Beschäftigungssicherheit und ist mit mäßigem Zeitaufwand zu erledigen. In der Tradition der kosmopolitischen Arbeiterbewegung war einmal von der travail attractif die Rede.

Solche Arbeitsweise anzustreben, sei ein Gedanke von vorgestern, würden die Hymnen auf die Künstliche Intelligenz Schreibenden sagen. Die KI schließe zur menschlichen Intelligenz auf, schreiben sie, und die technokratische Utopie mache die soziale überflüssig. Der Mensch ist also in Analogie mit einem humanoiden Roboter zu sehen. Der Roboter rechnet, speichert Daten und führt mit Sensorik und Aktorik Handlungen aus, deren Zweck dem dummen Ding vorgegeben sind. Freiheit, Würde, Selbstbestimmung, all die Begriffe der großen Philosophie, müssen demnach als Symptome übergeschnappten Größenwahns gelten.

Letzte Änderung: 09.10.2023  |  Erstellt am: 09.10.2023

Matrix der Arbeit | © wikimedia commons

Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit
Hrsg. Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit
7 Bände im Schuber, 1.000 farbige Abb.
2388 S., flex.
ISBN-13: 9783801242862
Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger, Bonn 2023

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Kommentare

Ralf Rath schreibt
Als der mehr als augenfällige Ausdruck der Einzigartigkeit eines Menschen bleibt die Seele jedwedem Zugriff von außen stets entzogen. Auf diese Realität machte Gottfried Wilhelm Leibniz schon im Jahr 1714 aufmerksam. Dennoch werden noch immer Unsummen nicht nur an öffentlichen, sondern vor allem privater Gelder dafür mobilisiert, das sich unter allen Umständen jeweils Entziehende als das Positive in den Griff zu bekommen. Zwar plädierte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der ihm am 14. Juni 2005 von der Georg-August-Universität Göttingen verliehenen Ehrendoktorwürde dafür, endlich die an solch ein äußerst kontrafaktisches Handeln gebundenen Ressourcen frei werden zu lassen, damit Investitionen in zukunftsträchtige Vorhaben möglich sind. Aber auch die Forderung von Edzard Reuter als dem früheren Vorstandsvorsitzenden der Daimler-Benz AG, der erklärtermaßen noch jüngst im historischen und sozialen Kontext des 40-jährigen Bestehens der Wissenschaftsstadt Ulm auf den Versuch eines dadurch integrierten Technologiekonzerns abstellte, verhallt weiterhin ungehört. Insofern reproduziert insbesondere Künstliche Intelligenz bis auf die Gegenwart fortgesetzt bloß ein Gebaren, das von Immanuel Kant längst als "vernunftwidrig" kritisiert ist. Es nimmt dann nicht wunder, wenn hierzulande inzwischen fast jeder Fünfte sich mit Macht gezwungen sieht, einen zusätzlichen Tod zu sterben; was allerdings je individuell von vornherein vermeidbar gewesen wäre.

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