Massen ziehen sich an

Massen ziehen sich an

Neue Bücher zum Komponistendoyen Wolfgang Rihm
Wofgang Rihm | © Screenshot

Auf der Höhe der Zeit zu sein, galt in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts als Bedingung, als Komponist ernst genommen zu werden. Die „avancierte“ Musik hatte in der Tradition der 2. Wiener Schule zu stehen; und Komponisten wie Wolfgang Rihm, die andere Wege einschlugen, galten als konservativ, wenn nicht reaktionär. Zwei Bücher, die dem Karlsruher Komponisten gewidmet sind, wurden geschrieben, um das Werk und Leben Rihms differenziert darzustellen. Achim Heidenreich hat sie gelesen.

„Der Fortschritt ist seiner Natur gemäß immer fort. Nie dort, wo man ihn weiß.“ Mit diesem vor knapp 25 Jahren wortwitzig formulierten, dabei tief schauenden Statement führte der Karlsruher Komponist Wolfgang Rihm, Jahrgang 1952, jede geschichtsdynamische Be- und ihn ganz persönlich betreffend auch geschehene Verurteilung von Kunstwerken und Künstlern im gewissermaßen Kalten Krieg der Materi-alästhetik Neuer Musik ad absurdum.

Gegen die als junger Komponist erfahrenen Kränkungen verteidigte er sich und damit zugleich viele Komponisten seiner Generation, die um 1980 als „Neue Einfachheit“ von der Kritik über einen Kamm geschoren wurden, weil sie sich trauten, nicht nur vernehmlich „Ich“ zu sagen, sondern ihre Subjektivität in ihrem Schaffen dialektisch aufhoben, ebenso geistreich wie wortmächtig. Mit zahlreichen Essays weit über die Fachzeitschriften hinaus und ständigen Diskussionsteilnahmen an den einschlägigen Orten wie den Donaueschinger Musiktagen oder den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik wurden Rihms Auftritte zu vielbeachteten Medienereignissen. Gleichwohl konnte er dort auch frühe Publikumserfolge feiern. Erfolg als kompositorisches Kriterium war manchem aber wieder schon „verdächtig.“

Das alles und noch viel mehr erfährt die geneigte Leserschaft in der jetzt von Eleonore Büning enzyklopädisch angelegten Biographie „Wolfgang Rihm. Über die Linie.“ Tatsächlich kann diese gleichermaßen arbeitsintensive Fleiß- wie komplexe Interpretationsarbeit zum Komponistendasein des kürzlich seinen 70. Geburtstag gefeiert habenden Karlsruher Komponisten als ein Kompendium der Neuen Musik der letzten fünfzig Jahre gelesen werden. Mit der Neuen Musik verhält es sich allerdings genauso wie mit der Musik des 19. Jahrhunderts, von der der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus, ebenfalls um 1980, nicht wusste, ob sie schon vorbei sei. Das im Zeichen der Aufklärung vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg vorangestellte große „N“ der Neuen Musik wollen wir mal nicht so voreilig ad acta legen, wie es die Autorin empfiehlt. Möglicherweise konnte es durch die Postmodernediskussion hindurch überwintern und ist gerade jetzt aktueller denn je?

Die Gretchenfrage, wie es Rihm mit der Religion hält, erläutert Büning direktemang vorneweg. Aha! Wird Büning weiter bei ihrer durchaus erfrischend unsystematischen Erzählung von Rihms oft auch großen Werkgruppen wie dem „Chiffre“-Zyklus, den „Séraphin“-Mutationen oder den „Symphonie fleuve“-Fortschreibungen aufmerksam gefolgt, dann entsteht vor dem geistigen Auge ein großformatiges, vielfarbig schillerndes Panorama unseres deutschen und europäischen Musiklebens mit seinen – möchte man nach den coronabedingten Entbehrungen sagen – fast schon unbegrenzten Möglichkeiten, in denen jeder seine Chance bekommt: Das sorgfältig angelegte Personenregister als ein „who is who“ folgt dem Nucleus Wolfgang Rihm durch die Jahrzehnte.

Der Schweizer Musikpsychologe Ernst Kurth fehlt darin allerdings. Aus dessen „Grundlagen des linearen Kontrapunkts“ (Bern 1917) leitete und leitet Wolfgang Rihm seinen klanglichen Energieerhaltungssatz für das eigene Schaffen ab. Wenn es eine, frei nach Stockhausen, Superformel in Rihms Komponieren gäbe, könnte sie anhand von Kurths musikpsychologischen Erkenntnissen so formuliert werden: Erhalte die vom gesetzten Impuls aufgebaute Spannung unter allen Umständen, auch im Stillen, bis zum nächsten Impuls unbedingt aufrecht. Darin ist Wolfgang Rihm so diesseitig wie kein anderer Komponist, denn auch flüchtige Massen ziehen sich an. In einem Komponistengespräch 2011 mit dem Autor dieser Rezension an der Schumann Hochschule Düsseldorf bezeichnete er sich ganz explizit als „Kurthianer.“

Kurth ist es auch, den Rihm seinen Schülern zur Lektüre empfiehlt. Das berichtet jedenfalls Birke Bertelsmeier, die mit ihrer 2009 vorgelegten Karlsruher Masterarbeit „Übermalung und Werkfamilie“ eine bisher seltene, direkt am Notentext gearbeitet, erhellende Analyse von Rihms instrumentalem Komponieren vorlegte und in der Eleonore Büning brauchbare Erklärungsansätze für einige der aufgeführten Werke findet. Wie virtuos Büning hier auch das Liebesleben von Rihm mit den jeweils entstandenen Werkkommentaren vom Meister verknüpft und um internationale Pressestimmen ergänzt, das hat dann tatsächlich auch einen gewissen Unterhaltungswert für den, der von dieser Machart unterhalten werden möchte.

Wie stets aber ist und bleibt es Rihm selbst, der in der direkten Gesprächssituation eine Brücke zum wahrnehmen seiner Kunst gar nicht erst bauen muss, sondern sie selbst ist. „Material?! Das bin auch immer ich selber,“ lautet da eine Antwort auf eine von Bünings angehangenen „25 Fragen zum Alltag des Komponierens“, in denen Rihm auch über Blockaden und Krisen spricht – alles also ganz normal.

Die Rihm-erfahrene Journalistin Lotte Thaler, die vor gut 30 Jahren die „Neue Zeitschrift für Musik“ zu neuer Blüte führte, die Paul Bekker-Rezeption in Deutschland mit in Gang brachte und ganz nebenbei aufstrebenden Musikrezensenten ein Forum gab, hat sich in ihrer Veröffentlichung „Alles kommt ans Licht. Gespräche mit Wolfgang Rihm“ ebenfalls nach Karlsruhe aufgemacht und nachgefragt. Ganz offen geht Rihm hier in den einfühlsam geführten Gesprächen mit seiner Krebserkrankung um, berichtet vom sorgfältigen Umgang mit seinen Kräften und dem verlangsamten, aber nicht abbrechenden Komponieren. „Warum sagst du, ein Werk wie „Jagden und Formen“ schreibt man später nicht mehr?“ fragt Lotte Thaler, deren Geburtsname übrigens bei Eleonore Büning nachgelesen werden kann, in ihrem Interviewband. Rihms Antwort: “Weil es ein Vertrauen in den élan vital darstellt, das man mit der Zeit durchaus in gesundem Maße zu relativieren lernt.“

Letzte Änderung: 06.07.2022  |  Erstellt am: 06.07.2022

Alles kommt ans Licht | © Screenshot

Lotte Thaler Alles kommt ans Licht

Gespräche mit Wolfgang Rihm
72 S., brosch.
ISBN-13: 9783955933159
Wolke Verlag, Hofheim am Taunus 2022

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Wolfgang Rihm – Über die Linie | © Screenshot

Eleonore Büning Wolfgang Rihm – Über die Linie

Die Biographie
344 S., geb.
ISBN-13: 9783710901478
Benevento, Elsbethen 2022

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