Magische Postmoderne

Magische Postmoderne

Alban Nikolai Herbsts „AEOLIA. GESANG“
Stromboli | © wikimedia commons

Stromboli heißt ein aktiver Vulkan, der um sich herum eine gut 12 Quadratkilometer große Insel angelegt hat; sie gehört zu den äolischen Inseln, die als Heimstatt des Windgottes Aeolus gelten: Aeolia. Der große Gesang, den Alban Nikolai Herbst dazu im hohen Ton angestimmt hat, wurde neu aufgelegt. Und Ute Stefanie Strasser ist seiner Magie erlegen.

AEOLIA wird als „Langgedicht“ bezeichnet; weniger oberflächlich kann man es als eine Ballade auffassen, ihrem dramatischen Geschehen nach dem „Erlkönig“ vergleichbar, auch wenn hier nur der Schatten des Protagonisten zu Tode stürzt. Herbst selbst bezeichnet seinen Text als GESANG, und das trifft es wohl am besten, denn wir haben mit AEOLIA wahrlich ein Stück Musik vor uns. Hier spielt ein Meister auf seinem Instrument, der Sprache, und führt uns mit wechselnden Rhythmen an der Seite eines wenig verbindlichen eigenen Mannes zwei Tage und drei Nächte lang über die Insel Stromboli. Aber was heißt führt? Wir werden getragen gestoßen hochgehoben fallengelassen angerempelt weitergetrieben gezogen …. Wir stolpern durch Nebel und wandern auf lichtüberfluteten Wegen. Hinter dem profanen Tagesgeschehen (seinen Espresso bekam er umsonst an der Bar) und einer gewaltigen Natur (aber der Sturm riss ihn um) flackert Archaisches, flackert die sagenhafte Antike, drängt sich das allgemein Menschliche herein und immer wieder auch das Numinose (Wie an Säuglingen noch / die Sterne saugen / und wollen sie halten). Wir werden auf vielerlei Arten bewegt und bewegen uns durch vielerlei Szenarien. Keine Beschreibung kann dem gerecht werden. Um einen gebräuchlichen Vergleich heranzuziehen (der Autor nimmt ihn mir hoffentlich nicht übel): es hat wenig Sinn, jemandem zu beschreiben, wie Schokolade schmeckt – süß und bitter, ach ja? – derjenige muss sie schon selber kosten.

Meine Empfehlung also: Man lese den Text und, wenn irgend möglich, laut – man erhöre ihn – und am Stück, mit einer Pause in der gut erkennbaren Mitte. Man lasse sich auf die dunklen Passagen ein, man wird oft erleben, wie sie sich plötzlich lichten – ein ästhetischer Genuss! Und man genieße den Wechsel der Themen und den damit stimmig verbundenen Wechsel der Rhythmen – erinnert uns das nicht an Jazz? Die Namen der Metren muss man nicht kennen; ein Wörterbuch (Italienisch-Deutsch) zur Hand zu haben ist von Vorteil. Und wie man ein Musikstück, das einen berührt, immer wieder anhören möchte, so kann es einem auch hier ergehen: Man möchte AEOLIA immer wieder hören, man kann es nicht auslesen bzw. aushören. Und ist es nicht so, dass es sich bei jedem erlesenen Hören verändert? Ein wunderbares Geschenk, nehmen wir es dankbar entgegen!

Ich habe einen Traum: AEOLIA. GESANG wird auf der Bühne vorgetragen, von mehreren Personen, damit die Schichten der Erzählung deutlich werden. Und im Hintergrund auf einer großen Leinwand laufen Bilder von der Terra di dio, wie Roberto Rossellini die magische Insel, auf der AEOLIA verortet ist, nannte. Ein anspruchsvoller Text präsentiert in einem würdigen Rahmen für ein anspruchsvolles Publikum. Das wär’s! Und wird hoffentlich einmal so stattfinden. Und noch etwas: Dank an den ARCO-Verlag für das so edel gestaltete Buch.

Letzte Änderung: 14.04.2024  |  Erstellt am: 14.04.2024

AEOLIA. GESANG | © wikimedia commons

Alban Nikolai Herbst AEOLIA. GESANG

90 S. geb.
ISBN 978-3-938375-90-7
Arco Verlag, Wuppertal 2018

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