Macron en marche, aber mit wem?

Macron en marche, aber mit wem?

Joseph de Wecks Buch über Macron

Romanfigur für die einen, Diktator für die Massen auf den Straßen und Plätzen, ein „revolutionärer Präsident" für den Buchautor Joseph de Weck. Jutta Roitsch analysiert den jüngsten französischen Präsidenten seit Napoleon acht Monate vor dem Ende seiner ersten Amtsperiode.

Joseph de Weck (über-)zeichnet das Porträt eines revolutionären Präsidenten

Für den französischen Schriftsteller Philippe Besson ist er eine „Romanfigur“, für hunderttausende Demonstranten in diesem Sommer mit gelben Warnwesten oder Hass-Schildern gegen den Impfpass (die beiden „ss“ in den Nazi-Runen) ist er ein Diktator, der das freiheitliche Fundament, die „Liberté“, angreift. Der Buchautor Joseph de Weck sieht in Emmanuel Macron einen Revolutionär, der keine politischen Risiken scheut, den Konflikt sucht und auch vor Brüchen französischer Tabus nicht zurückschreckt. Wenige Monate vor dem Ende der ersten Amtszeit dieses so umstrittenen Mannes lohnt sich ein genauerer Blick: in das Buch und darüber hinaus.

Im kommenden April, am 10. und 22., wird zwischen Straßburg und Marseille gewählt. Die Kampagnen der „Présidentielle“ aber sind bereits von sehr weit links bis sehr weit rechts voll im Gange. Kandidaten ernennen sich selbst oder werden ins Spiel gebracht. Alte Bekannte wie der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon von den Unbeugsamen („Insoumis“) und Marine Le Pen vom rechtsextremen Rassemblement National (früher: Front National) haben bereits ihre Kandidatur erklärt, auch der konservative Republikaner Xavier Bertrand und die Bürgermeisterin von Paris, die Sozialistin Anne Hidalgo. Mit weiteren Kandidatinnen und Kandidaten ist zu rechnen. Präsident Macron hüllt sich noch in Schweigen, lässt aber die Zeit und seine junge „Macronie“ für sich arbeiten: In 80 Städten prangen seit wenigen Tagen Plakate mit „Macron, président des jeunes“. So sahen das bisher diesseits und jenseits des Rheins die wenigsten.

Joseph de Weck, 35-jähriger intellektueller Jungstar (London School of Economics, Sciences Po in Paris, Universität St. Gallen), Handelsdiplomat, international vernetzter Beratungsunternehmer und auch Journalist (Welt, Foreign Policy), bringt nun dem deutschsprachigen Publikum in einem knappen Buch von 160 Seiten seine Faszination für Emmanuel Macron nahe. Der Untertitel könnte hochgeschraubter nicht ausfallen: „Der revolutionäre Präsident“. Der in Paris geborene Schweizer erliegt, wie der Schriftsteller Besson, dem eigenwilligen Jüngling, der bereits mit 15 wusste, welche Frau er für sich erobern wollte, und der heute noch mit figurnahen, grau-blau-gedeckten Anzügen, schmalen Krawatten und auffallenden Manschettenknöpfen an den blütenweißen Hemden aussieht wie ein Konfirmand. De Weck beschreibt mit nur gelegentlich gebremster Bewunderung, wie dieser Eliteschüler, Elitestudent und „Enarch“ (die École Nationale d’Administration ist seit den Zeiten Charles de Gaulles die Beamtenkaderschmiede Frankreichs) seine Karrierewege geplant, vorbereitet und durchgehalten hat.

Der Bruch mit seinem politischen Ziehvater, dem Sozialisten Francois Hollande, dem der einstige Investmentbanker bei den Rothschilds erst als Berater, dann als Wirtschaftsminister diente, wird bei de Weck zu einem sorgfältig kalkulierten Schritt, um die Bewegung „La République en Marche“ anzustoßen. Seltsam uninteressiert bleibt der Buchautor, wie diese Bewegung aus dem vorwiegend jungen akademischen Milieu zunächst Straßen und Plätze in Paris erobern konnte, die politischen Parteien der linken und rechten Mitte aufmischte und Emmanuel Macron 2017 in die Stichwahl mit Marine Le Pen trug, nachdem der eigentlich aussichtsreiche Kandidat der rechten Republikaner, François Fillon, über selbstverschuldete Affären wie die Begünstigungen seiner Familie im Politikbetrieb, schon in der ersten Wahlrunde stolperte.

Mit „En Marche“ (es sind die Initialen des Präsidenten) beginnt aber für Frankreich etwas Neues: Das Verhalten der politischen Klasse, ihr sorgfältig bewahrtes System der Selbstrekrutierung in den „Grandes Écoles“ oder „Sciences Po“ wird zum öffentlichen Thema. Sexuelle Ausschweifungen, über die bis dahin unter den Schönen, Reichen und Einflussreichen eisern geschwiegen wurde, beenden politische Karrieren. Persönliche Bereicherungen zu Lasten der Steuerzahler oder Geldzuwendungen von Potentaten landen vor den Gerichten. Das politische System nebst seinen Trägern, „grauen Eminenzen“ und Finanziers steht unter Beobachtung, öffentlicher Kritik und wissenschaftlicher Durchleuchtung.

Dieser tiefgreifenden Veränderung, zu der nicht nur „En Marche“ in den Großstädten beigetragen hat, sondern auch die Gelbwestenbewegung aus der Provinz und der aus den USA herüber geschwappte Protest von „Black Lives Matter“ gegen Polizeigewalt und Diskriminierung, widmet sich de Weck nur oberflächlich. Auch die islamistischen Terroranschläge, die grausige Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty im vorigen Jahr haben in de Wecks Erzählung (zeitgeistig: „Narrativ“) nicht den Stellenwert, den sie in der Gesellschaft haben. Er bleibt bei der in den Medien, aber auch in der Literatur immer wieder beliebten Beschreibung der Französinnen und Franzosen als träumerischen Anarchisten, die sich in trübsinniger und misstrauischer Grundstimmung ständig als Opfer von irgendetwas oder irgendwem sehen. In dieser nach de Weck frustrierten Nation im permanenten Ausnahmezustand und ohne „Kompromisskultur“ wirkt ein Mann wie Macron optimistisch und strahlend, ein „jupiterhafter Präsident“ (de Weck). Dieser europäische Schweizer überhöht den Präsidenten, dessen Wahlkampfmanifest 2016 „Révolution“ hieß. Er blendet Verschiebungen, Verwerfungen und tiefgreifende Veränderungen in Frankreich selbst aus. Ihm ist eine andere Botschaft wichtiger. Und die richtet sich mit Blick auf den hiesigen Wahltermin an die Deutschen im allgemeinen, die politisch Verantwortlichen in Berlin im besonderen. Sie lautet kurz und knapp: Unter Macrons Führung werden sein Land und Europa umgekrempelt.

Wie aber wird aus dem Mann mit seiner klassischen französischen Elite-Karriere, der oft mit dem Volk fremdelt und arrogante Bemerkungen zu Arbeitslosen fallen lässt, ein Revolutionär? Macron, so schreibt de Weck (S.120) „ist der erste europäische Staatschef, der seine Innen-und Europapolitik nicht nur gesamtheitlich denkt, sondern dies auch ausformuliert und danach handelt.“ Ein Intellektueller im Élysée-Palast mit klaren Machtansprüchen und Visionen? Er weiß sich seit dem Beginn seiner Präsidentschaft zu inszenieren, als er mit wehendem tiefblauen Mantel zu den Klängen der Europa-Hymne den langen roten Teppich vor dem Louvre entlangschritt. Er setzt, so de Weck, auf eine „royalistische Bildsprache“.

Das ist in Frankreich, wo der republikanische Geist immer wieder beschworen wird, heftig, zumal Macrons Regierungsstil herrschend, wenn nicht sogar autoritär ist. Wie keiner seiner unmittelbaren Vorgänger regiert der Präsident mit Anordnungen und schwächt damit die parlamentarische Kontrolle und Gesetzgebung. Und dies sei nicht nur eine Folge der Pandemie und des Ausnahmezustands, belegte kürzlich „Le Monde“ in einer Analyse zum Parlamentarismus in Frankreich (28. Juli). Er will damit forsche Entschlossenheit und Führungsstärke demonstrieren. Nach US-amerikanischem Muster fördert er eine „Frankreich-First-Politik“: Er weist seinen Wirtschaftsminister an, eine Übernahme der Supermarktkette „Carrefour“ durch einen kanadischen Investor zu stoppen (sie ist allerdings noch nicht endgültig vom Tisch), wirbt mit Geld und Liberalisierungen am Arbeitsmarkt um Industrieansiedlungen (sogar erfolgreich), erhöht gleichzeitig den sozialen Schutz der Beschäftigten, allerdings nur vorsichtig. In der Klimapolitik sieht seine Bilanz bisher wenig revolutionär aus. Für zwei umstrittene Projekte verfügte Macron das Aus: Der Flugplatz bei Nanterre wird nicht gebaut, ebenso wenig ein riesiges Einkaufszentrum namens „EuroCity“. Ein Ausstieg aus der Atomwirtschaft ist für den Präsidenten kein Thema, Windräder begeistern ihn wenig, zumal die Rechtsextremen gegen sie mit tiefbraunem Heimat- und Bodentremolo mobilisieren, auf dem Land wie in der bretonischen See.

Erstaunlich sind allerdings seine Eingriffe in das Bildungssystem. Entgegen den Anwürfen seiner innenpolitischen Gegner und Gegnerinnen von rechts bis links, er sei ein Präsident der Reichen, setzte er kleine Schritte gegen die extreme Ungleichheit von der Vorschule (École Maternelle) bis zur Universität um: Es gilt eine Schulpflicht ab dem dritten Lebensjahr in republikanischen und laizistischen Institutionen, um die zunehmende private Beschulung von Kindern einzugrenzen, nicht nur in katholischen, sondern vor allem in muslimischen Einrichtungen. In der Pandemie verfügte er, die Schulen offen zu halten, nicht zuletzt, um Kindern aus den sozialen Brennpunkten und den Banlieues ein kostenloses Mittagessen zu sichern. In den Kantinen der Universitäten können die Studenten und Studentinnen für einen Euro essen. Zu den weitgehend geschlossenen Welten der politischen Kaderschmieden öffnete Macron Zugänge für junge Menschen aus anderen Milieus und der Provinz; erstaunlich für einen Mann, der die alten Eliten und die einflussreichen Familienclans kennt, wenn auch nicht besonders pflegt. Aber als „revolutionärer“ Macher, der Frankreich nach Innen und Außen zum europäischen Vorzeigestaat entwickeln will, hat er keine andere Wahl.

Zum ersten Mal legten in diesem Frühjahr Forschergruppen offen, wie schlecht es um den republikanischen Universalismus, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bestellt ist. Ein Gesetz aus dem Jahr 1978 untersagt zwar Fragen nach Religion oder ethnischer Herkunft und nach dem Geburtsland der Eltern, aber die in Frankreich ausgefächerte und spezialisierte Befragungsforschung hat Wege gegen die Mythen und Lebenslügen gefunden, alle Französinnen und Franzosen seien gleich, weil sie Franzosen und Französinnen seien.

Auf zwei Seiten im Wirtschaftsteil breitete die linksliberale Zeitung „Le Monde“ die Befunde aus (am 23. April): Sie sind ernüchternd, da sie erstmals umfangreich belegen, wie groß die Diskriminierungen nach Hautfarbe und ethnischer Herkunft im Land sind, in der Schule, auf dem privaten und öffentlichen Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche. Die Jugendarbeitslosigkeit trifft vor allem 16- bis 24-Jährige, deren Mütter oder Väter aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara gekommen sind. Die soziale und kulturelle Herkunft, die wirtschaftliche Lage der Familie und nicht zuletzt der Name und die Wohnadresse bestimmen, welche Chancen die Jungen und Mädchen haben. Ob diese Analysen, in und für Deutschland spätestens seit den Ergebnissen der PISA-Studien seit über zwanzig Jahren bekannt, zu größeren Reformschritten führen, als sie Macron wagte? Es wird zumindest eines der beherrschenden innenpolitischen Themen werden, auch wenn die Widerstände in diesem doch sehr beharrungsfesten und veränderungsunwilligen Land mit einem starken Rechtsdrall groß sind. Aber es gibt Bruchlinien.

Doch der Buchautor de Weck interessiert sich mehr für die Außen-und Europapolitik seines revolutionären Präsidenten. Dessen erklärtes Ziel sei es, Frankreich wieder zu einer Führungsmacht auf der „geopolitischen Landkarte“ zu machen. Macron will auf der Weltbühne mitspielen, forsch und mit wenig Rücksicht zum Beispiel auf die Befindlichkeiten einer Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich nicht durch europapolitische Visionen ausgezeichnet hat. „Der selbstbewusste Franzose,“ schreibt de Weck, „geht Merkel gekonnt auf die Nerven.“ Doch nicht nur das: Er pflegt im Hintergrund die politischen Beziehungen zu den kleineren Ländern der EU, knüpft an einem Netzwerk um Deutschland herum und versucht, selbst die sperrigen Ungarn und Polen einzubinden. Ungewöhnlich fiel jüngst ein demonstrativer Besuch des italienischen Regierungschefs Mario Draghi aus: An seinem 74. Geburtstag am 3. September flog er zu Macron nach Marseille, um mit ihm bei einem feinen Abendessen zu feiern. Zwei Ex-Banker und überzeugte Europäer unter sich.

Für de Weck macht Macron „ganz praktisch vor, wie sich europäisches Klein-Klein auf der Weltbühne überwinden lässt.“ Sein Elan dazu ist beeindruckend. Er griff in seiner Amtszeit nahezu alle außenpolitischen Tabuthemen der Franzosen an: die Aussöhnung mit Algerien, die französische Mitschuld an dem Völkermord in Ruanda, die verheerenden Atomtests auf fernen französischen Kolonialinseln, die Raubkunst in den Museen des Hexagone, wie das geografische Sechseck des Landes gerne genannt wird. Diesen außen-und europapolitischen Furor kann er nur mit einer zweiten Amtszeit durchhalten. Er strebt sie an. Doch wo sind seine Wählerinnen und Wähler? Wer gehört noch zur „Macronie“?

In den letzten fünf Jahren ist aus der Bewegung „EM“ keine politisch strukturierte Partei geworden und sie hat viele Mitbewegte aus dem akademischen Milieu verloren. Macrons harte Abgrenzung und seine Politik gegen einen muslimischen Separatismus, gegen linke Islam-Versteher vom „Islamo-Gauchisme“ und gegen eine gezielte Politik für Minderheiten erzürnten linke Aktivistinnen und Aktivisten in den Universitäten. Der Bewegung fehlt ferner ein lokales Fundament, wie nicht zuletzt die Regional- und Départementswahlen in diesem Jahr gezeigt haben. „En Marche“ stellt kaum eine „le“ oder „la“ Maire, obwohl Bürgermeisterposten traditionell zum Karriereweg gehören. Aber gerade diese Wahlen zeigen umgekehrt Macrons Chancen: Zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler haben nicht gewählt, unter den unter 30-Jährigen waren es bis zu 70 Prozent. Ernüchtert stellten die Meinungsforscher fest, dass es keinen Trend zu mehr Beteiligung „von unten“ gibt und dies trotz der Proteste der Gelbwesten, die in der Provinz und in den kleineren Kreisstädten begonnen und sich gegen den abgehobenen Pariser Zentralismus gerichtet hatten. Auf diese Nichtwähler, dieses schweigende Frankreich, setzt die „Macronie“. Auf die Eltern aus der Mittelschicht, die sich um die Zukunft ihrer Kinder sorgen, auf die leistungsstarken und aufstiegswilligen jungen Frauen und Männer aus den Banlieues. Die Pro-Macron-Kampagne, die jetzt begonnen hat, stützt sich auf Umfragen, nach denen der Präsident beliebt ist und eine große Mehrheit von über 60 Prozent seine Politik in den Zeiten der Pandemie mitträgt. Wo aber diese Mehrheit politisch steht, ist unklar. Und ob die Unterstützung bis zum nächsten April anhält? Wer weiß das schon bei diesen „träumerischen Anarchisten“ (Joseph de Weck)?

Letzte Änderung: 20.09.2021  |  Erstellt am: 17.09.2021

Emmanuel Macron - Der revolutionäre Präsident

Joseph de Weck Emmanuel Macron - Der revolutionäre Präsident

Lilienfeld Verlag, 06/2021 Einband: Flexibler Einband Sprache: Deutsch ISBN-13: 9783942377218 Umfang: 201 Seiten Gewicht: 270 g Maße: 196 × 128 mm
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