Tatsächlich gab es eine Zeit, in der das Zeitmaß für alltägliche Verrichtungen mit der Dauer eines aufgesagten „Ave Maria“ festgesetzt wurde. So etwas erfährt man aus dem zweibändigen Werk „Hagiographie für Notare“, in dem die urbanen Lektüren von Heiligenlegenden im Spätmittelalter erforscht werden. Jakob Ullmann hat sich mit dem frommen Vorhaben beschäftigt und nicht nur Erbauliches gefunden.
Man ist versucht, es für ein tröstliches Zeichen der Gegenwart zu halten, wenn ein Autor nicht nur ein Werk vorlegt, dessen beide Bände jeweils reichlich 450 Seiten umfassen, sondern für diese, auf einer Dissertation von 2020 beruhenden Studie auch einen Verlag findet, der bereit ist, den Text innerhalb kurzer Zeit der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und das, obwohl der Autor weder die Klimakatastrophe, Epidemien in Geschichte und Gegenwart noch Vorteile oder Gefahren (je nach Gusto des Autors) der Digitalisierung thematisiert. Ganz im Gegenteil: Im Zentrum der Arbeit steht eine Sammelhandschrift frommer Legenden, die – um 1370 in der Gegend von Verona für einen Veroneser Notar angefertigt – heute unter der Nummer 1661 in der Biblioteca Riccardiana in Florenz aufbewahrt wird. Als wäre dies nicht schon ein beinahe tollkühn zu nennendes Unterfangen, verlässt der Autor zudem auch die üblichen Wege einer historisch-kritischen Edition von alten Texten. Er räumt gegen Ende des ersten Bandes offen ein, dass ein solches Vorgehen für die zu untersuchenden Texte, die teilweise verderbt und unvollständig erhalten sind und bisher nicht gedruckt wurden, ihm ungeeignet erscheint, da sie aus anderen Gründen genügend Anlass für weiteres Interesse und weitere Forschung bieten.
Moritz Rauchhaus interessiert sich für diese Sammlung aus einem ganz bestimmten Grund, der bereits im Untertitel seines Werkes deutlich anklingt: „Über urbane Lektüren von Heiligenlegenden im Spätmittelalter“. Der Autor schickt sich also an, eine zum Zeitpunkt der Herstellung der Handschrift bereits seit mehr als 200 Jahren anhaltende und sich bis in die frühe Neuzeit erstreckende Entwicklung hagiographischen Schreibens und Lesens in einem geographisch und zeitlich genau definierten und eng begrenzten Raum zu untersuchen und zu erhellen. Aber auch in diesem Zusammenhang wählt der Autor einen ungewöhnlichen Ansatz für seine umfangreiche Studie. Die 23 in der Handschrift versammelten Legenden werden nicht im Kontext ähnlicher frommer Legenden, die für ein zeitlich, geographisch und sozial anders verortetes Lesepublikum zusammengestellt und redigiert wurden, analysiert. Moritz Rauchhaus ist dezidiert daran interessiert, die Legenden der Handschrift aus sich selbst heraus zu betrachten und zu interpretieren und dies auf dem Hintergrund zeitlich mindestens in grosser Nähe zur Kompilation der Handschrift Ricc. 1661 verfasster mariologischer Texte zu tun. Das hat zur Folge, dass für den Autor die schon seit dem 11. Jahrhundert stattfindende Produktion frommer Texte, die in wachsendem Masse kanonische und nicht kanonische Texte, d.h. apokryphe Traditionen ebenso wie Eigenbeiträge der Schreiber und Kompilatoren gleichrangig behandelt, im Hintergrund zwar eine gewisse Rolle spielt. Diese Produktion von Lektüren für das fromme Lesen und die Aufrichtung moralischer Leitlinien für neu sich in der mittelalterlichen Gesellschaft artikulierender gesellschaftlicher und sozialer Gruppen wird aber nur am Ende des ersten Bandes vorsichtig in Hinsicht auf Dante und die literarische Fortwirkung eines vom Autor identifizierten sprachlichen Topos ausgedehnt. Sie gerät aber noch seltener direkt in den Blick des Autors als das nahezu zeitgleich stattfindende Vordringen volkssprachlicher Texte in Bereiche der Frömmigkeitsliteratur, die in Westeuropa traditionell dem Lateinischen vorbehalten waren, obwohl damit Wesentliches zur Verschriftlichung von Volkssprachen – im vorliegenden Falle also des „volgare“ – beigetragen wurde.
Der Aufbau des Werkes folgt denn auch exakt dieser doppelten Restriktion. Bd. 1, „Studie“ betitelt, setzt mit einer kurzen Beschreibung der Handschrift Ricc. 1661 ein, um dann in gedrängter Form etwas über die Situation norditalienischer Notare und Kaufleute und ihr Selbstverständnis sowie ihr Verhältnis zu Sprache und Schrift folgen zu lassen. In diesem Zusammenhang eingeflochtene Anekdoten wie jene, in der ein Briefschreiber seinen Adressaten, der offenbar unsicher ist, wie er die fromme Lektüre nutzbringend für seine Seele zu organisieren hat, da er dem mönchischen Stundenplan ja nicht folgen kann, wissen lässt, dass er sich am besten an die Anweisung Jesu halten solle: „Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.“ (Mk. 12). Er solle also am Sonntag sich der frommen Lektüre widmen und an den Wochentagen seiner profanen Tätigkeit nachgehen. Oder jene Anekdote, in der der Leser erfährt, dass zur Zeit der Kompilation der Handschrift Kochrezepte mit Angaben versehen wurden, wieviele „Ave Maria“ man für die verschiedenen Arbeitsschritte benötige. Solcherart Information hätte man sich als Leser noch mehr gewünscht, nicht zuletzt, um genauer nachvollziehen zu können, auf welchem Hintergrund die Rezipienten der Legenden diese gelesen und auf ihr Leben bezogen haben. Der Autor schreitet aber rasch fort zu einer Diskussion des Terminus „Legende” und ihrer Abgrenzung von verwandten literarischen Formen wie „Mirakel“ oder der (weltlichen) Novelle. Da auch die vom Autor zu Rate gezogene Fachliteratur kein brauchbares strukturelles oder formales Gerüst zur Abgrenzung der Formen bereitzustellen scheint, entscheidet sich der Autor, die von Hans-Ulrich Gumbrecht vorgenommene Kennzeichnung der „Legende” als „Faszinations-Typ“ zu übernehmen. Dies geschieht offenbar auch in Hinsicht darauf, dass für die Leser der Legenden nicht nur der fromme Inhalt, sondern auch die Präsentation dieses Inhalts und ein Handlungsgerüst (modern gesagt ein „plot“), das Vergnügen beim Lesen verspricht, von wachsender Bedeutung ist.
Sehr viel folgenreicher für die Untersuchung des Autors ist aber der folgende Abschnitt. Hier versucht der Autor, an 4 norditalienischen Texten (3 gehören dem unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Sammlung an, einer der untersuchten Texte eröffnet die Sammlung) Wesentliches zur Marienfrömmigkeit im hohen Mittelalter (vor allem dem Due- und dem Trecento) in Italien zeigen. Ausserdem sollen bestimmte Motive, sowie Sprach- und Handlungsmuster identifiziert und aufgedeckt werden die der Autor später in hohem Masse gleichsam als Folie bei der Interpretation der einzelnen Legenden zu nutzen gedenkt.
Den ersten Teil von Bd. 1 beschliesst denn auch eine kurze Beschreibung aller in der Handschrift versammelten Legenden, ihre Einordnung in den zuvor gewonnenen mariologischen Hintergrund und ein kurzes Fazit.
Der zweite Teil enthält die sehr detaillierten Analysen der beiden im Titel als „belle leggende“ gekennzeichneten Texte, deren Auswahl im einen Fall durch den schon im Namen einer Hauptfigur auftretenden Terminus „vergogna“ erklärt. Im zweiten Fall ist die Auswahl durch den in verschiedenen Varianten immer neu auftretenden Reichtum an Situationen und Handlungsmustern, die sich auf die erwähnten Muster mariologischer Frömmigkeit, insbesondere auf die Motive und Muster, die nach Meinung des Autors in den „Marien-Klagen“ (planctus/pianto) anzutreffen sind, beziehen lassen, begründet. Diesen zweiten Teil beschliesst der bereits erwähnte Ausflug in Welt und Sprache Dantes und der Ausblick in das Nachleben des Konzepts von „vergogna“ in der romanischen Novellistik.
Der zweite Band der Arbeit des Autors ist nach einer kurz gehaltenen editorischen Einleitung vollständig der Edition des Originaltextes der Sammelhandschrift und ihrer deutschen Übersetzung vorbehalten.
Mit letzterer Bemerkung ist auf einen großen Vorzug des Textes von Moritz Rauchhaus verwiesen, gleichzeitig aber auch auf eines der nicht unerheblichen Probleme dieser Arbeit. Für Leser, die des Italienischen (vom volgare des Trecento ganz abgesehen) wenig oder gar nicht mächtig sind, ist die Übersetzung nahezu aller italienischen Zitate ein unerlässliches Hilfsmittel, um der Argumentation des Autors eini-germassen folgen zu können. Andererseits zeigt sich gerade am vom Autor so favorisierten Terminus „vergogna“ (den Moritz Rauchhaus selbst für unübersetzbar hält und im Deutschen in etwa mit „Schande“ und/oder „Scham“ wiedergegeben werden müsste – eine Konstellation, die sich als Zusammenfassung in einem einzigen Terminus tatsächlich schwer nachvollziehen lässt), dass man dem Denkweg des Autors eigentlich nur dann wirklich zu folgen vermag, wenn man die Texte mindestens ansatzweise auch im Original zu lesen in der Lage ist. Es kann auch nicht verschwiegen werden, dass es ausserordentlich nützlich ist für die Lektüre des Werkes, wenn der Leser einigermassen gut über die politischen Verhältnisse nicht nur Norditaliens im Trecento, über die sozialen und nicht zuletzt frömmigkeitsgeschichtlichen Umwälzungen, die das 14. Jahrhundert in Europa vor allem durch die Pestjahre in der Mitte des Jahrhunderts erfahren hat, informiert ist. Dies scheint auch deshalb wichtig, weil der Autor selbst die oben bereits erwähnte Differenz zum vielleicht erwartbaren Vorgehen bei der Edition eines mittelalterlichen Textes, diese Abweichung folgendermassen begründet: „Es würde auf Grundlage der hier zusammengetragenen Ergebnisse daher nicht zu empfehlen sein, an einem vermeintlich(sic!, j.u.) historisch-kritischen Text beispielsweise der Vergogna-Legende zu arbeiten. Minimale Änderungen inhaltlicher oder sprachlicher Natur wirken auf den Zusammenhang der Sammlung, in den die Legenden eingegliedert sind, sodass das Ziel nicht sein sollte, einen Ur-, Ober- beziehungsweise Grundtext aus verschiedenen Varianten zu erfinden(! j.u.), sondern die Varianten als solche ernstzunehmen.“ (Bd. 1 S. 380).
Trifft auf einen Leser des gewichtigen Werkes die zweite der eben erwähnten Voraussetzungen für die Lektüre zu, nicht oder aber nur in unzureichendem Masse die erste, dann steht dieser Leser vor einem erheblichen Problem bei der Lektüre nicht nur der untersuchten Texte, sondern auch und vor allem bei der Untersuchung selbst. Kann er jener Feststellung zustimmen, die der Autor anlässlich seiner Interpretation der „Rosana-Legende“ in folgendem Satz zusammenfasst: „Die Lektion (gemeint ist offensichtlich seine Interpretation der Legende) wird dem notariellen Lesepublikum einleuchten müssen, das am Ende des Lebens weniger am besitzmehrenden Wirtschaften, als am Aufbau christlicher Glaubwürdigkeit in Vorbereitung auf das Jüngste Gericht interessiert ist.“ (Bd. 1 S. 359)? Auch wenn ein heutiger Leser vielleicht weniger als der Empfänger der frommen Legenden im Trecento an einem solchen „Aufbau christlicher Glaubwürdigkeit“ bei der Lektüre der Arbeit von Moritz Rauchhaus interessiert ist, „einleuchten“ sollte die Lektion doch auch in diesem Fall.
Und hier sind leider einige Zweifel angebracht. So fragt sich der Leser z.B. angesichts der Analyse der Vergogna-Legende, warum der Autor die offensichtlichen Parallelen zur Mose-Erzählung im Alten Testament (Ex. 2) nicht erwähnt und auch die deutliche Nähe des Schlusses der Erzählung zum im Mittelalter ja weidlich bekannten Schicksal von Abaelard und Heloise nicht wenigstens ins Kalkül zieht. Obwohl Moritz Rauchhaus bei seiner Analyse der „Rosana-Legende“ mehrfach auf die grosse inhaltliche Nähe zum im Hochmittelalter in vielen Versionen gut bekannten Roman von „Floire et Blancheflor“ aus dem 12. Jahrhundert hinweist, so belässt er es andererseits dabei, auf die von ihm als erschöpfend angesehene Vergleichsstudie beider Texte durch Rosanna Bettarini (S. 263, Anm. 493) hinzuweisen. Gerade aus einem solchen Vergleich hätte sich doch ableiten lassen, was das Besondere der Fassung einer bekannten Erzählung ist, wenn sie für die relativ neue Leserschicht zweisprachig gebildeter Notare bearbeitet wird. Beginnt man erst einmal solche Fragen zu stellen, dann wird man schnell gewahr, wie lang der Katalog der Fälle wird, angesichts derer völlig unklar bleibt, warum der Autor offensichtliche Spuren – die übrigens ganz im Sinne seiner Untersuchung wären! – bewusst ignoriert oder sich derer vielleicht gar nicht bewusst ist. Immerhin weist er doch selber darauf hin, dass die im Rahmen der „Rosana-Legende“ und ihrer „zeitlichen Einordnung“ (wenn man denn so etwas überhaupt für möglich hält) auch geographisch absurde Einfügung von Paris in die Legende etwas mit der dortigen Universität zu tun haben könnte. Mit der gerade im Trecento stark anwachsenden Zahl an Universitäten ist aber doch ein wieder stärker am Latein orientiertes, konkurrierendes Lesepublikum zu gesellschaftlicher Realität geworden, dessen Leseverhalten mit dem der Notare durchaus zu vergleichen Anlass böte. Immerhin gab es zwischen der Lebenswirklichkeit von Studenten und der von Notaren nicht nur punktuelle Berührungen, häufig überschnitten sich diese in beträchtlichem Masse. Gern hätte man auch etwas über das auffällige Auftreten von Griechen und Byzanz (das offenbar, obwohl es im 14. Jahrhundert nicht mehr unter lateinischer Herrschaft stand, als würdiger Begräbnisort angesehen wurde – Adriano-Legende, Bd. 1, S. 168) erfahren, könnten diese Verweise doch auf Kontakte auch jenseits von Handelsbeziehungen aufmerksam machen.
Lässt man auf diesem Hintergrund noch einmal die vom Autor immer wieder als Interpretationsmuster berufenen Motive, Situationen und Argumentationsstrategien aus den „Marien-Klagen“ in Hinsicht auf die untersuchten Legenden Revue passieren, so kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass es hier zu einer Verkehrung der Perspektive kommt. Eigentlich sind es die Motive und Handlungsmuster der unter-suchten Legenden, die erst auf die „Marien-Klagen“ projiziert werden, um sie dann als Erklärung und Leitfaden für die Interpretation der Legenden quasi zurückzuspiegeln. Dies gilt nicht zuletzt für immer wieder auftauchende Termini, die aus der Gemeindepraxis auch in die Frömmigkeitsliteratur Eingang gefunden haben: so der seit der alten Kirche selbstverständlichen mindestens für Nonnen selbstverständliche Gebrauch des Terminus „sposa Christi”, der auch von unverheirateten Christinnen, die sich einer ungeliebten Heirat entziehen wollten, benutzt wurde; dasselbe gilt für die geschwisterliche Anrede. Noch in meiner Jugend begrüssten sich Pastorinnen und Pastoren nicht nur gegenseitig, sondern auch Gemeindeglieder mit „Bruder“ und „Schwester“ ohne im Mindesten an inzestuöse Beziehungen auch nur zu denken. Die Episode in der Rosana-Legende, wo die Ehefrau als Schwester ausgegeben wird, ist ein zu klarer Hinweis auf Gen. 12, wo genau dieses Verhalten von Abraham bei seiner Flucht nach Ägypten berichtet wird, als dass aus diesem Teil der Handlung weitergehende Schlüsse gezogen werden dürften. Man wird sich also wohl fragen müssen, ob die vom Autor immer wieder stark betonten, teils auch konstruierten inzestuösen Zusammenhänge tatsächlich eine derart prägende Rolle für die Legenden spielen. Dies gilt auch für den vom Autor vorsichtig als Erzählhintergrund ins Spiel gebrachte Ödipus-Mythos. Inwiefern er für das Norditalien des 14. Jahrhunderts tatsächlich relevant war, müsste mindestens durch Fakten, die über die (vom Autor gar nicht erwähnte) griechische Kopie des Dramas von Sophokles aus dem 14. Jahrhundert, die in der vatikanischen Bibliothek aufbewahrt wird, erhärtet werden.
Völlig unverständlich aber bleibt dem Leser, warum Moritz Rauchhaus einen ganz offensichtlichen und in verschiedenen Legenden exzessiv benutzten Traditionszusammenhang nur am Rande erwähnt. Es geht um den prägenden Einfluss einer unter dem Namen „Nikodemusevangelium“ (ed. u.a. von Wilhelm Schneemelcher in seiner Sammlung „neutestamentliche Apokryphen“ Bd. I, 6Tübingen 1990, S. 395 – 424) kursierenden antisemitischen Hetzschrift. Die erste Fassung des Textes entstand wohl nicht zufällig um die Mitte des 4. Jahrhunderts. Dieses Pseudepigraph erfreute sich rasch grosser Beliebtheit und so weiter Verbreitung, dass schon bald lateinische, syrische, koptische und später auch altslavische Übersetzungen kursierten. Da in einigen Fassungen dieses „Evangeliums“ bereits der von Patriarch Kyrill von Alexandrien Anfang des 5. Jahrhunderts durchgesetzte Titel „Theotokos“ („Gottesgebärerin“) für Maria auftaucht, dürfte es – zumindest in der Anfangszeit – zahlreiche Redaktionen gegeben haben. Der Text selbst zerfällt in zwei deutlich getrennte Teile („Acta Pilati“ und „Descensus Christi ad inferos“); beide werden in den Legenden weidlich genutzt. Es sei mindestens am Rande darauf hingewiesen, dass es der eben erwähnte Patriarch Kyrill war, der in einem von ihm angestifteten schrecklichen Pogrom die alexandrinische Judenheit hat vertreiben und massakrieren lassen, ein Verbrechen, dem auch die letzte bedeutende Philosophin Alexandrias, Hypatia, zum Opfer fiel. Der Weg von einer teilweise bis ins Abstruse gesteigerten Marienfrömmigkeit zum Antisemitismus war also schon in der Spätantike äußerst kurz!
Man darf dann aber doch fragen, ob dieser dezidiert antisemitische Hintergrund vieler Legenden dem Lesewunsch eines Publikums entsprach, dessen Lebenswirklichkeit zwangsläufig häufig mehr als nur flüchtige Berührungspunkte mit jüdischen Gemeinschaften und Einzelpersonen mit sich brachte. Oder, so wäre zu fragen, sollte man von einer Strategie des Kompilators, Schreibers und Redaktors der Sammelhandschrift ausgehen, der es dann für geraten gehalten haben müsste, Notaren und Kaufleuten das richtige antisemitische Vorurteil als Voraussetzung für das Seelenheil vor Augen zu stellen.
Man muss es für höchst bedauerlich halten, dass die Geschwindigkeit, mit der das Werk publiziert wurde, mit einem recht hohen Preis bezahlt wurde. Ich meine damit gar nicht in erster Linie die leider nicht eben seltenen Druck- und Flüchtigkeitsfehler, die in letzter Zeit ein bedauerliches Signum vieler Neuerscheinungen geworden sind; ich meine vor allem die Tatsache, dass beim Druck eine ganze Seite weggefallen ist. In Bd. 2 müsste auf S. 127 die Übersetzung des erhaltenen Rests der Basilios-Legende erscheinen (also der deutsche Text nach Anm. 18 im italienischen Text), stattdessen findet sich auf der genannten Seite aber – wie man aus der Seitenzahl erschliessen kann – eine Abbildung der Handschrift der folgenden Legende von Adam und Eva. Obwohl der in der Übersetzung fehlende Rest der Basilios-Legende weithin verderbt ist, hat dieser Verlust beträchtliche Folgen. Nach dem, was im erhaltenen Rest der Legende zu lesen ist, muss dem Schreiber bzw. Kompilator der Sammlung bewusst gewesen sein, um wen es sich bei dem Bischof Basilios handelt, sonst wäre wohl kaum ausdrücklich (wenn auch implizit) auf sein wichtigstes und folgenschwerstes Werk für die Theologie- und Kirchengeschichte hingewiesen worden: „Über den heiligen Geist“. Zudem war Basilios Bischof in jener Stadt Caesarea in Kappadokien, die als „Cesaria“ auch in der Rosana-Legende auftaucht und in deren direkter Nachbarschaft (in Daphne bei Antiochia) eine der letzten großen Auseinandersetzungen zwischen der paganen Welt des Imperium Romanum (in Gestalt des „Apostata“ genannten Kaisers Julian) und der inzwischen „romanisierten“ Kirche des 4. Jahrhunderts stattfand. Auch hier zeigt sich (wie übrigens auch in der höchst seltsamen Legende von den „griechischen Knaben“) eine für die Zeit vor 1400 nicht gerade selbstverständliche Kenntnis der griechisch-orthodoxen Welt, die nach einer Erklärung heischt.
Nach der Lektüre von reichlich 900 Seiten stellt der Leser fest, dass er sicherlich einiges hat lernen können, er stellt aber vor allem fest, dass die Lektüre des Werkes von Moritz Rauchhaus mehr Fragen aufwirft als beantwortet, Fragen, die vielleicht ein stärker interdisziplinär ausgerichtetes und auf ein geographisch und zeitlich nicht ganz so eng gefasstes Gebiet bezogenes Forschungsprojekt besser beantworten könnte.
Letzte Änderung: 21.02.2022 | Erstellt am: 21.02.2022
Moritz Rauchhaus Hagiographie für Notare
Über urbane Lektüren von Heiligenlegenden im Spätmittelalter
Bd. 1, 451 Seiten,
Bd. 2, 453 Seiten (getrennt beziehbar)
ISBN-13: 9783963172588
Büchner-Verlag, Marburg 2021
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