Die Psychoanalytikerin Rotraut De Clerck hat sich mit Leben und Werk der Autorin auseinandergesetzt und auch ihre Nähe zu den Schriften Sigmund Freuds neu bewertet. Zur Bedeutung der Psychoanalyse für Virginia Woolf und über Einflüsse auf ihr kreatives Schaffen äußert sie sich in einem auch in einer englisch- und französischsprachigen Fassung verfügbaren Essay (zum Download am Ende des Textes).
I
Virginia Woolf hat über einen Zeitraum von dreißig Jahren immer wieder unter psychischen Zusammenbrüchen gelitten. Ihr Leben endet im Jahre 1941 tragisch im Suizid. Weshalb hat sie sich dann zur Linderung ihres Leidens nie einer Psychoanalyse unterzogen? Glaubt man ihren eigenen Aussagen, lag ihr der Gedanke an eine psychoanalytische Behandlung zu fern. Dazu im Widerspruch steht, dass die Entstehung und Entfaltung ihrer literarischen Produktivität parallel zur Rezeption und Ausbreitung der Gedanken Sigmund Freuds in England verlief. An manchen Stellen gab es Berührungen, an manchen sogar Überschneidungen: so publizierte ihr eigener Verlag, die Hogarth Press, die sie mit ihrem Mann Leonard Woolf 1917 gegründet hatte um ihre eigenen Werke zu verlegen, ab 1924 auch die erste Gesamtausgabe Freudscher Werke im Englischen, die fünfbändigen „Collected Papers“, was zur Verbreitung der Freudschen Schriften in England wesentlich beitrug. Einige Mitglieder ihres unmittelbaren Freundeskreises, des „Bloomsbury Kreises“, gingen auf den Kontinent, nach Wien zu Freud oder nach Berlin zu Abraham, um sich analysieren zu lassen und später selber Psychoanalytiker zu werden, so wie James und Alix Strachey, und selbst Virginia Woolfs eigener „kleiner“ Bruder Adrian Stephen wechselte von der Philosophie zur Medizin um sich zum Psychoanalytiker ausbilden lassen zu können. Was also hat Virginia Woolf davon abgehalten, sich der Möglichkeiten, psychoanalytische Hilfe zu erhalten, selber zu bedienen?
Der Hintergrund und die Diagnose von Virginia Woolfs Erkrankung ist unklar: Ursache könnte der frühe Tod der Mutter (1895)¸ der einen ersten Zusammenbruch zur Folge hatte, oder der nur zwei Jahre spätere Tod der geliebten Halbschwester Stella, die Mutterstelle an ihr vertrat, oder aber der sexuelle Missbrauch durch die Halbbrüder George und Gerald Duckworth gewesen sein, wahrscheinlich war es das alles zusammen. Quentin Bell, ihr Neffe und Biograph, findet für ihre Lage einfühlsame Worte, ohne zudringlich oder indiskret zu sein:
„Natürlicherweise scheu in sexuellen Dingen, war sie ab dieser Zeit ‚terrified back into a posture of frozen and defensive panic‘ ( etwa: zur Salzsäule erstarrt in Panik und Entsetzen ).“ (Bell, 1972) (Übersetzung R.D.C.)
Bell datiert die sexuellen Annäherungen, jedenfalls die von George, auf einen späteren Zeitpunkt, während in der Darstellung von Leonard Woolf George schon kurz nach dem Tod seiner Mutter, die zugleich auch Virginias Mutter war, seine „besonderen Aufmerksamkeiten“ von Vanessa, der älteren Schwester hin auf Virginia, die Jüngere, richtete. In jedem Fall kann man davon ausgehen, dass die Kinder allesamt durch den Tod der Mutter verwirrt und haltlos zurückgeblieben waren. Virginias Verfassung schildert Quentin Bell als:
„eine große Leere, eine Art (psychischen) Tod, der sich nicht beschreiben lässt und über den Virginia wahrscheinlich selber wenig wusste, das heißt erinnerte – der aber entscheidend für ihren weiteren Weg war. Von nun an wusste sie, dass sie verrückt gewesen war und es wieder sein konnte.“ (a.a.O., p. 44) (Übersetzung R.D.C.)
Diese Erfahrung, im Alter von dreizehn Jahren, hing wie ein Damoklesschwert über ihrem weiteren Leben. Als neun Jahre später, im Jahre 1904, auch ihr Vater Leslie Stephen an einem Krebsleiden stirbt, erleidet Virginia Woolf im Alter von 22 Jahren ihren zweiten Zusammenbruch. Ihr Auszug, gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Vanessa, aus dem düsteren, von Tod überschatteten Haus Nr. 22 Hyde Park Gate in Kensington in das weniger standesgemäße, aber lebendigere Nr. 46 Gordon Square in Bloomsbury, kann sie nicht retten. Während der nächsten Jahre folgen weitere kurze Krankheitsepisoden und dann, ab 1910, ein großer Einbruch mit zeitweiligem Kliniksaufenthalt, der sich in Phasen über die Zeit bis Ende 1914 hinzieht. Man kann darüber spekulieren, ob die Reaktivierung ihres sexuellen Traumas durch die Eheschließung mit Leonard Woolf im August 1912 dabei eine Rolle gespielt haben mag. Jedenfalls stellt Leonard sie einem Arzt vor mit der Frage, ob eine Mutterschaft bei Virginias Zustand angebracht wäre.
Diese Zeit ist auch eine Phase der erheblichen Einschränkung ihrer Produktivität. Nichts wird geschrieben, nachdem sie im März 1913 ihr Manuskript von „The Voyage Out“ (Die Fahrt hinaus) an den Verleger, ihren Halbbruder Gerald Duckworth, zur Veröffentlichung abgeliefert hat. Es folgt ein Zusammenbruch mit Suizidabsichten. Ab Anfang 1915 beginnt sie mit einem Tagebuch, aber schon im März versiegen die Eintragungen wieder, die so lebendig begonnen hatten, und werden nicht wieder bis August 1917 aufgenommen. Der April und der Mai von 1915 sind die schlimmsten und gewalttätigsten Zeiten ihrer Krankheit. Nun richtet sich ihr Zorn gegen Leonard, und zwei Monate lang wagt er nicht, sie zu sehen. Dies ist kurz nach der Veröffentlichung von „The Voyage Out“, die sich um zwei Jahre verzögert hatte.
Im Juli 1917 erscheint „The Mark on the Wall“ bei der von ihr und Leonard gegründeten Hogarth Press, im November, einige Tage nach Kriegsende, vollendet sie „Night and Day“ und druckt „Kew Gardens“. Danach setzt eine höchst produktive Phase ein, in der ihre besten Romane und Essays entstehen, immer wieder aber unterbrochen von Krankheitsschüben, die sich mit Kopfschmerz und Schlaflosigkeit, häufig nach dem Vollenden einer Arbeit oder eines Werkes ankündigen. Später bezeichnet Virginia Woolf diese Episoden selbst als einen Vorgang des „weaning“, des Abstillens.
1941 beendet sie im Februar „Between the Acts“ – wegen der Bombardierung Londons halten sich die Woolfs in Monks House in Sussex auf – und dort konsultiert sie die Ärztin Dr. Octavia Wilberforce aus Brighton. Am 28. März ertränkt sie sich in der Ouse. Virginia Woolf ist 58. Ihr Abschiedsbrief an Leonard beginnt mit den Worten:
„Liebster, ich spüre genau, dass ich wieder wahnsinnig werde. Ich kann nicht noch einmal durch solch schreckliche Zeiten gehen. Diesmal werde ich nicht gesunden. Ich höre Stimmen und kann mich nicht konzentrieren. So werde ich das tun, was unausweichlich scheint… „ Ich denke nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können als wir es gewesen sind. (Bell 1972, p.226 (Übersetzung R.D.C.)
Bis zu diesem Ende gewannen ihre Krankheitsepisoden aber nicht mehr die Dramatik der Periode zwischen 1910 und 1915. Dieser kommt denn auch eine besondere Bedeutung hinsichtlich ihrer Beziehung zur Psychoanalyse zu. Darauf werde ich noch eingehen.
Bei unterschiedlicher Diagnosestellung und Bewertung ihrer Krankheitszustände kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass Virginia Woolfs sehr krank war, manisch-depressiv oder schizophren, denn sie hörte zeitweise Stimmen und hatte wahrscheinlich auch Halluzinationen. Zur Zeit um 1915 wurde ihre Krankheit jedoch als Neurasthenie, die gängige psychiatrische Verlegenheitsdiagnose bei allen unspezifischen seelischen Erkrankungen mit Erschöpfungszuständen, eingeordnet. Die Behandlung bestand in „Ruhekuren“, wobei dieser Name irreführend ist: Während der Klinikaufenthalte wurde die sogenannte Weir-Mitchell Diät eingesetzt, eine vorsätzliche Mästung in der Vorstellung, dass durch die Einbettung in Fett die unruhigen oder abnormen Nervenzellen zur Ruhe kämen. Virginia litt unsäglich unter dieser Tortur und der damit einhergehenden sozialen Isolation. Warum also hat sie sich dem ausgesetzt, anstatt sich nach einer psychoanalytischen oder wenigstens psychoanalytisch inspirierten Behandlung umzusehen?
In seiner Einleitung zu Virginia Woolfs Biographie bezweifelt Quentin Bell, dass seine Tante hätte analysiert werden können oder auch, dass die Psychoanalyse die richtige Methode für sie gewesen wäre. Er schreibt:
„Analytiker sind üblicherweise zurückhaltend, was die Behandlung von Patienten angeht, die tatsächlich wahnsinnig gewesen waren, und Virginias erster Zusammenbruch hätte kaum von Freud selbst behandelt werden können, dessen ‚Studien über Hysterie‘ zu dieser Zeit (1895) erst erschienen. Auch zur Zeit ihres zweiten Zusammenbruchs (1904) hatte man in diesem Land noch kaum etwas von der Freudschen Technik vernommen, und selbst 1913 kann sie noch nicht sehr bekannt gewesen sein.“ (Bell 1972) (Übersetzung R.D.C.)
Diese Aussage, meine ich, kann historisch so nicht aufrechterhalten werden: Um 1909, dem Erscheinungsjahr von Freuds „Studien über Hysterie“ in englischer Sprache, gab es bereits ein erhebliches Interesse an der Psychoanalyse. Ab 1913, dem Erscheinen der „Traumdeutung“, wurde die Psychoanalyse sogar populär und war auch als Behandlungsmethode bekannt und verfügbar.
Freud selbst hatte auf Einladung der in Cambridge beheimateten „Society for Psychical Research“ schon 1912 eine Arbeit über das Unbewusste geschrieben, in der er die enge Verbindung von Geist und Körper demonstrierte: Das Erbrechen und die körperlichen Symptome einer Scheinschwangerschaft seiner Patientin führt er darin zurück auf sexuelle inzestuöse Phantasien, die der Patientin selbst aber unbewusst sind und erst mit Hilfe der analytischen Methode erschlossen werden können. Freuds Arbeit, die er auf Englisch schrieb, muss den Anhängern von Bloomsbury, also Virginia Woolfs unmittelbarem Freundeskreis, die, wie James Strachey teilweise selber Mitglieder der „Society for Psychical Research“ waren, bekannt gewesen sein, mit Sicherheit also auch Leonard Woolf.
Um 1913 gab es auch bereits fähige praktizierende Psychoanalytiker in England. In diesem Jahr hatte Ernst Jones die London Psycho-Analytical Society ins Leben gerufen, unter deren Gründungsmitgliedern sich vier Ärzte befanden. Auch wenn dies keine sehr große Auswahl war, so bestand ab dieser Zeit durchaus die Möglichkeit, sich Hilfe zu holen, selbst wenn es gegen den einen oder anderen Vertreter der Psychoanalyse Vorbehalte gegeben hätte, und Virginia Woolf gehörte mit dem Bloomsbury Kreis eben zu jener sozialen Gruppe, die zuvorderst über Cambridge mit der Psychoanalyse in Berührung gekommen war. Wenn diese Möglichkeiten nicht genutzt wurden, so musste das persönliche Gründe haben.
II
Als 1914 Freuds „Psychopathologie des Alltagslebens“ in London herauskam, erregte das erhebliches Aufsehen. Die Idee von der unbewussten Determiniertheit selbst bei den Alltagshandlungen der Normalen bedeutete einen Affront gegen den in England vorherrschenden Glauben an – und die moralische Forderung nach – der Vernunftgeleitetheit des Menschen, auch wenn diese Vorstellungen durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gerade ins Wanken gerieten. Lytton Strachey, James älterer Bruder, Literat und ein zentrales Mitglied des Bloomsbury Kreises und Cambridge Apostle, bearbeitete die Kränkung, die Freud damit der selbstgewissen englischen oberen Mittelschicht zufügte, in einem ironischen Sketch mit dem Titel „According to Freud“. Diese Schrift fand sich unter einem Berg unveröffentlichter Papiere und wurde erst 1972 mit Hilfe von Alix Strachey herausgebracht. Leonard Woolf rezensierte die „Psychopathologie des Alltagslebens“ für eine unbekannte Zeitschrift, „The New Weekly“, unter Pseudonym und las dafür auch die „Traumdeutung“. Aber erst in den sechziger Jahren bekennt er sich in seiner Autobiographie öffentlich zu dieser Rezension, in der er nun angeblich schon damals das Genie Freuds erkannt habe. Etwa zu der Zeit, schreibt er weiter, führte er bei einer Zugfahrt eine angeregte Unterhaltung mit dem amerikanischen Journalisten Walter Lippmann, einem bekannten Befürworter der Psychoanalyse, über Wahnsinn. Er beschreibt, wie sehr ihn das Gespräch berührte, „weil man unter die Ebenen des sonst Üblichen“ gehen konnte. Heißt das, dass auch der Wahnsinn seiner eigenen Frau Thema wurde? Dem war, wie geschildert, der bisher schwerste Zusammenbruch Virginias vorausgegangen, mit Wahnideen, Verweigerung der Nahrung und einem Suizidversuch durch Schlaftabletten. Letzteres geschah, wie erwähnt, unmittelbar nach einem Besuch mit Leonard bei einem der berühmtesten Neurologen jener Zeit, Henry Head, dem Autor des Buches „Brain“. Leonard Woolf listet in seiner Biographie alle Ärzte auf, die er im Zusammenhang mit Virginias Krankheit konsultierte, ein Psychoanalytiker ist nicht darunter, obwohl offenbar ist, dass diese anderen Ärzte ihr nicht zu helfen vermochten. So wie bei der Diagnosestellung hielt er auch hinsichtlich der Behandlung seiner Frau an traditionellen Vorstellungen fest, selbst wenn diese in krassen Gegensatz zu seinen intellektuellen Überzeugungen und seinem Interesse an der Psychoanalyse gerieten, und auch Virginia selbst war wohl bis 1939, als sie Freud persönlich begegnete, nicht wirklich von einer Verknüpfung körperlicher Symptome mit psychischen Ursachen überzeugt. Beide befanden sich damit in bester Gesellschaft mit der Mehrzahl der Gelehrten in Cambridge, jedenfalls vor dem Ersten Weltkrieg, für die die Psychoanalyse die Bedeutung des Denkens und des freien Willens zu sehr herabsetzte. Man sah darin einen unzulässigen Reduktionismus des Menschen auf das Irrationale. Es bleibt jedoch ungewiss, inwieweit der Widerstand gegen Freuds Theorie von der Ubiquität unbewusster Vorgänge im Alltagsleben sich nicht in Wahrheit gegen deren sexuellen Gehalt richtete.
Man kann darüber spekulieren, warum Leonard Woolf seine Freud-Rezensionen 1914 unter einem Pseudonym verfasst hat. Eine naheliegende Erklärung besteht darin, dass er sich zu der Zeit, selber Jude, noch unsicher war in seinem Urteil über diesen unbekannten jüdischen Arzt aus Wien. In der gehobenen englischen Mittelschicht gab es einen nicht unerheblichen Antisemitismus, von dem selbst seine Frau Virginia, aber auch seine Freunde, wie die Stracheys, nicht frei waren. Das zeigt sich noch in den Jahren 1924/25 in ihren Briefen, die sie zwischen London und Berlin austauschten, lange also nachdem sie in Wien bei Freud in Analyse gewesen waren. Leonard Woolf war als „pennyless Jew“, wenn auch keine extreme Ausnahme, so aber doch eine Besonderheit im illustren Kreise der Cambridge Apostles, deren Mitglieder den besten Familien der englischen Gesellschaft angehörten. Erst im nachhinein, fast 50 Jahre später, nachdem sich Freuds Ruhm über die ganze Welt ausgebreitete hatte, konnte er sich auch öffentlich seiner klugen Voraussicht rühmen, Freud sein ein Genie. Eine andere Erklärung wäre die, dass er sich als Jude in den ersten Kriegsjahren nicht auch noch Angriffen aussetzen wollte, als pro-deutsch und damit als anti-patriotisch zu gelten. Freud wurde etwas globalisierend als „deutscher“ Wissenschaftler angesehen, einfach weil er Deutsch schrieb und alles Sexuelle sowieso „dem Kontinent“ zugeschrieben wurde. Freud stand für die Gleichsetzung von Psychoanalyse mit Sexualität, wogegen aufrechte Patrioten gemeinsam mit der englischen Kirche zu Felde zogen. Am wahrscheinlichsten, obwohl paradox, scheint, dass, jedenfalls in den Vorkriegsjahren, weder Leonard noch Virginia eine Verbindung hatten herstellen wollen zwischen Virginias Krankheitszustand und ihrer intellektuellen Rezeption von Freuds Schriften, sowohl seiner Theorien über das Unbewusste als auch der Psychoanalyse als Heilungsmethode Dies ist eine außerordentliche Spaltungsleistung, die sich nur durch ein starkes Motiv dazu verstehen lässt. Virginias Krankheit als eine Erkrankung der Nervenzellen zu sehen, passte in dieser Zeit noch besser zu den Idiosynkrasien der gehobenen englischen Mittelklasse, und diese Klassenzugehörigkeit war, trotz ihrer rebellischen Lebensform, tief in ihrem Inneren verwurzelt. Der Besuch beim Arzt der Familie, selbst auch bei einem Hirnspezialisten, galt als schicklicher als der bei einem dubiosen Psychoanalytiker. Zu den Idiosynkrasien dieser Klasse gehörte außerdem eine persönliche Ausformung des Mythos über die Nähe von Genie und Wahnsinn, und auch eine psychoanalytisch so aufgeklärte Person wie Alix Strachey, die selbst mindestens drei Analysen gemacht hatte (Freud, Abraham, Payne) äußerst sich in dieser Überzeugung noch kurz vor ihrem eigenen Tod 1962:
„Virginias Vorstellungen, auch jenseits ihrer künstlerischen Produktivität, waren so verwoben mit ihren Phantasien – und eben auch mit ihrem Wahnsinn – dass man, hätte man den Wahnsinn eingedämmt, vielleicht auch die Kreativität beschnitten hätte. Möglicherweise ist es ein Vorzug, verrückt und kreativ zu sein, als eine Analyse gemacht zu haben und gewöhnlich zu werden.“ (Strachey 1972, p.116-117)
So verwundert es, dass, wie erwähnt, ab 1924 ihr eigener Verlag, die Hogarth Press, die gesammelten Schriften von Sigmund Freud in fünf Bänden auf Englisch herausbringt und in der Folge sogar zum offiziellen Organ der psychoanalytischen Literatur in England wird. James Strachey hatte den Kontakt mit dem Institute of Psycho-Analysis eingeleitet, James Glover, damaliger Präsident der Brit. Psych. Society, führte die Verhandlungen. Dazu kam er zu den Woolfs nach Hause, aber Virginia beschäftigt sich anscheinend nur damit, welches Kleid sie bei diesem Anlass tragen soll – „das neue rote?“ notiert sie in ihr Tagebuch.
James und Alix, ihre engen Freunde, hatten den Band III, Freuds Fallgeschichten, übersetzt. Damit hatten sie während ihrer Analyse bei Freud in Wien begonnen und die Arbeit daran hatte sie bis 1924 festgehalten, zu welcher Zeit sich Alix in Berlin bei Karl Abraham in Analyse befand, anscheinend, um das zu vollenden, was Freud bei ihrer kurzen Behandlung in Wien offengelassen hatte. Virginia wusste von James und Alix Aufenthalt bei Freud in Wien, was sie zu der ironischen Bemerkung veranlasste. „Freud hat jedenfalls in Alix die Konturen zum Vorschein gebracht: selbst physisch treten ihre Knochen mehr hervor“. Auch Abraham hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits einen Namen in der Theorie und Behandlung der Melancholie erworben. Seine Arbeiten erschienen im seit 1920 gegründeten International Journal und waren somit auch auf Englisch zugänglich. Es hätte für Virginia leicht die Möglichkeit bestanden, sich die Erfahrungen ihrer unmittelbaren Umwelt zunutze zu machen und wenn schon nicht zu einem Analytiker im eigenen Land, so zu einem der angesehenen Analytiker auf dem Kontinent zu gehen. Die Sprache hätte kein Hindernis sein müssen, viele Analytiker waren zwei – oder sogar dreisprachig. Auch gab es inzwischen fähige Analytiker in England, die sich in Berlin hatten ausbilden lassen, erwähnt seien nur die Brüder Edward und James Glover, aber auch einige Frauen, wie Barbara Low, Ella Sharpe, Sylvia Payne, die bei Abraham oder Sachs in Berlin analysiert worden waren. Außerdem praktizierte Melanie Klein ab 1926 in England. Alix, die sie aus Berlin gut kannte, hätte einen Kontakt herstellen können.
Aber die zwanziger Jahre waren für Virginia Woolf eine relativ stabile Zeit, was ihre Krankheit betrifft. Dies nun wiederum hätte gerade ein guter Grund sein können, endlich eine Analyse in Angriff zu nehmen. Statt dessen stürzt sie sich in die Arbeit, sorgt dafür, dass sie „nie nicht schrieb“.
„Letzte Nacht“, notiert sie in ihr Tagebuch, „als ich durch Richmond fuhr, stieß ich auf etwas sehr Wesentliches in der Zusammensetzung meines Wesens: dass nur das Schreiben es zusammenhält: dass nichts ein Ganzes wird außer wenn ich schreibe; jetzt habe ich vergessen, was so wesentlich schien.“
Diese zentrale Erkenntnis über den Zusammenhang ihrer brüchige Identität und ihrer literarischen Produktion wird von ihr gleich wieder ironisch gebrochen. Und anstatt ihre Gedanken darüber weiter zu verfolgen, organisiert sie eine Fülle politischer und sozialer Aktivitäten und beginnt die homoerotische Liebe zu Vita Sackville – West. Sie wird Richmond, dem bisherigen Sitz der Hogarth Press, überdrüssig und besteht – entgegen Leonards Bedenken – darauf, nach London zurückzukehren. Die Hogarth Press wird ab März 1924 am Tavistock Square 52 fortgeführt und entwickelt sich nun zu einem gestandenen Unternehmen. Am 14. Mai 1925 erscheint dort Virginia Woolfs neuer Roman Mrs. Dalloway und an eben diesem Tage auch Band III der „Collected Papers“, Freuds „Fallgeschichten“. Ein unglaubliches zeitliches Zusammentreffen.
Virginia Woolfs „neuer Roman“ Mrs. Dalloway ist nun im Hinblick auf ihre Haltung der Psychoanalyse gegenüber besonders bemerkenswert.
Er ist:
1. eine feine psychologische Studie einer Frau – Clarissa Dalloway – in den „mittleren Jahren“, die sich mit ihrer vergangenen und gegenwärtigen Sexualität auseinandersetzt und dabei Reflexionen über die homosexuelle Liebe anstellt
2. eine Studie über den Wahnsinn, abgehandelt an der Gestalt von Clarissas Gegenspieler – oder alter ego – Warren Septimus Smith, der im Suizid endet, nachdem ihm die „Harley Street doctors“ keine Hilfe bieten konnten, außer der Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik
3. zeichnet er sich aus durch eine neue Erzähltechnik, den „stream of consciousness“, was seinen Ruhm als moderner Roman begründete.
Diese Erzähltechnik bedient sich stilistischer Mittel, die einigen Grundelementen der Psychoanalyse sehr ähnlich sind:
– der Strom freier Einfälle, mit seiner prinzipiellen Aufhebung präfixierter Hierarchisierungen von Inhalten in „wichtig“ und „unwichtig“, bedeutungsvoll und bedeutungslos, von Rational als dem Überlegenen versus Irrational als dem Unterlegenen kommt der freien Assoziation einerseits und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit andererseits in der psychoanalytischen Kur sehr nahe
– die Erinnerung wird als zentrales Moment der Darstellung eingesetzt, dadurch werden die Gesetze der Kontinuität von Zeit und Raum durchbrochen: es gibt kein Heute, das getrennt wäre vom Damals, nur fließende Übergänge
– die Syntax ist gelockert und lässt Raum für Einschübe, Gedankensprünge, die Präsenz von zwei Einfällen gleichzeitig „filmische Mittel“ wie Montage, close – ups, Rückblenden, Zeitlupe und schneller Schnitt schaffen ein Gefühl von Dreidimensionalität, wie im Traum:
„Es ist die herrenlose Struktur von Virginia Woolfs Sprache, eine Geschichtsschreibung, die die Wirklichkeit ohne Tiefe, ohne Pathos, ohne hoch aufgerichtete Vorbilder sieht.“
Zusammengenommen lassen sich diese stilistischen Mittel mit der Funktionsweise des Primärprozesses vergleichen, in der Auflösung der rationalen Logik, der Lockerung der Syntax, der Aufhebung der Kontinuität von Raum und Zeit, der möglichen Koexistenz von Gegensätzlichkeiten, von Verdichtung, Verschiebung und pars pro toto.
Inhaltliche und formale Kriterien von Mrs. Dalloway machen also eigentlich eine Auseinandersetzung Virginia Woolfs mit Freud – schon vor 1925 – unabweisbar, entgegen ihrer eigenen verbalen Dementi – auf Anfrage ließ sie mitteilen, dass sie „only in the ordinary way of conversation“ (nur vom Hörensagen) mit der Psychoanalyse vertraut gewesen sei.
III
Betrachtet man Virginia Woolfs Umgang mit der Psychoanalyse noch einmal unter dem Gesichtspunkt der vom Unbewussten her determinierten Fehlleistungen – also aus der Perspektive von Freuds „Psychopathologie des Alltagslebens“, dem Text, der neben der Traumdeutung in den Jahren vor und nach dem ersten Weltkrieg so wichtig für die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse in England wurde, so springt ins Auge, dass es bei gleich eine ganze Kette von Fehl – und Symptomhandlungen in Form von verräterischen Verwischungen und Vertuschungen gibt:
Diese Kette beginnt mit Leonard Woolfs Beschäftigung mit – und zugleich öffentlicher Distanzierung von- der Psychoanalyse durch den Gebrauch eines Pseudonyms bei seiner Rezension der „Psychopathologie“ etwa zu der Zeit, wo er Virginia einem Hirnspezialisten vorstellt. Dies ist aber zugleich um die Zeit ihrer heftigsten Krankheitserscheinungen und wo in ihrer Ehe Fragen der Sexualität und eventuellen Mutterschaft Virginias virulent werden.
Die Kette setzt sich fort in einem ironischen Kommentar Virginias über Alix Analyse bei Freud, woraus zugleich Bewunderung über Freuds therapeutisches Wirken wie auch der Versuch einer Distanzierung spricht.
Und vor allem: Das Erscheinen der „Fallgeschichten“, von ihren Freunden übersetzt, in ihrem eigenen Verlag herausgebracht, wird von Virginia nicht in ihrem Tagebuch erwähnt, in dem sie sonst alles, vom Wichtigsten bis zum Trivialsten, festgehalten hat. Eine sprechende Lücke. Nur aus einem Brief von James aus London an Alix in Berlin haben wir Kenntnis davon, dass er am selben Abend bei den Woolfs eingeladen war. Er schreibt:
„Gestern abend speiste ich mit den Wolves, Virginia machte noch bissigere Angriffe auf die Psychoanalyse oder Psychoanalytiker als sonst, vor allem auf letztere.“
Zur selben Zeit, in der Virginia Woolf ihre herabsetzenden Kommentare gegen die Psychoanalyse von sich gibt, bedient sie sich selber der Darstellung einer „Symptomhandlung im Alltag“, in ihrem Roman Mrs. Dalloway: Clarissa Dalloways Jugendverehrer, Peter Walsh, den sie in seiner Liebe zurückgewiesen hatte, woran sie sich in einer Rückblende erinnert – und der sie nun, als Journalist beruflich erfolglos, in ihrem wohlsituierten Londoner Haus aufsucht, lässt während der scheuen und wehmütigen Reminiszenzen die Klinge seines Taschenmessers in seiner Hosentasche auf- und zuschnappen. Clarissa, die Romanfigur, versteht diese Gestik einer gehemmten Potenz intuitiv, ohne Worte. Kann aber dann Virginia Woolf, die Autorin, „naiv“ sein? Sie selbst hat diese Szene geschrieben, bewusst gestaltet, in ihren Roman eingebaut und darin ein ganz wesentliches Element der Unmöglichkeit der Beziehung zwischen Clarissa und Peter Walsh eingefangen, so wie Freud es mit der Schilderung der Zwangshandlung in seiner Fallvignette tat. Wie sollte sie also nicht die symbolische Repräsentanz einer Ejakulatio Präcox im Alltagsleben gekannt haben? Es macht keinen Sinn, außer sie hätte diese Symbolik von Freud nach der Lektüre der Fallgeschichten sozusagen „übernommen“. Ich glaube, das kann man in dieser Unmittelbarkeit ausschließen. Eher muss man ihre Worte bezweifeln, dass sie von der verräterischen Bedeutung der Fehlhandlungen nicht selbst überzeugt gewesen wäre. Ihre Dementis werden so nachgerade ein Beleg für die Lehre Freuds von der Wirkkraft unbewusster Konflikte in Fehlhandlungen und pathologischen Symptomen.
IV
Ich komme auf meine Eingangsfrage zurück: War Virginia Woolf die Psychoanalyse also nicht etwa (noch) zu fern, sondern kam sie ihr zu nah, als dass sie sich ihrer offen hätte bedienen können? Ich habe in einigen Passagen zu zeigen versucht, dass sie sich von der Psychoanalyse so angezogen wie auch bedroht fühlte. Ihre Aussagen wie ihre Vermeidungen können als Ausdruck ihrer tiefen Ambivalenz gelten.
Zu „nah“ kam ihr die Psychoanalyse auf zweierlei Weise:
1. Persönlich schreckte sie vor einer Behandlung zurück, die unweigerlich in der Folge des Aufdeckens ihres Innenlebens an ihre Verluste und damit auch ihr sexuelles Trauma gerührt hätte. Mit Spott und Ironie versuchte sie in einem Kommentar über die Fallgeschichten, „Die Deutschen meinen, es beweist etwas“, die Idee von der sexuellen Ätiologie seelischer Krankheit abzuwehren. Ich denke, dass dabei ihre viktorianische Erziehung einen Einfluss hatte: sie konnte sich nicht vorstellen, über die damaligen Vorgänge im Kinderzimmer mit irgend jemandem zu sprechen, selbst nicht mit einem Arzt. Ihre „Lösungsversuche“ bestanden darin, in der Folge jede sexuelle – jedenfalls jede heterosexuelle – Handlung zu vermeiden. So erklärt sich auch, dass sie beinahe den Heiratsantrag des homosexuellen Lytton Stracheys anzunehmen bereit gewesen wäre, bis dieser von sich aus einen Rückzieher machte.
In späteren Jahren hatte sie dann für sich eine Erklärung gefunden, mit der sie ihre Zusammenbrüche nachgerade als konstitutiv für ihre kreative Arbeit ansehen konnte – allerdings unter Ausblendung der sexuellen Thematik. Sie arrangierte sich mit der Vorstellung, dass die Aufenthalte im Bett und ihre Depressionen ein jedesmal wieder notwendiger Prozess, ein „Abstillvorgang“ im Hinblick auf ein fertiggestelltes Produkt, oder eine „schöpferische Inkubationszeit“ für ein neues Buch darstellten.
Sie schreibt:
„Diese seltsamen Abschnitte in meinem Leben – ich hatte viele davon – sind, künstlerisch gesehen, die fruchtbarsten – man wird befruchtet – ich denke an meinen Anfall in Hogarth – und all die anderen, kleinen Krankheiten, z.B. die, bevor ich ‚The Lighthouse‘ schrieb. Jetzt sechs Wochen im Bett würde ein Meisterwerk aus ‚Moths‘ (Tod des Falters) machen.“
In dieser Weise umgedeutet, wurde die Psychoanalyse für sie bedrohlicher als ihre Krankheit.
2. Die zweite Ebene betrifft ihr Handwerk als Schriftstellerin:
Die Erzählweise in Freuds „Fallgeschichten“ bedrohte ihre eigene literarische Erfindung einer „neuen Subjektivität“, Figuren, die dem Leser nicht mehr als in sich geschlossen, moralisch-heroisch oder kolosshaft entgegentraten, geprägt vom Persönlichkeitsideal der viktorianischen Zeit, so wie die Produkte ihres Vaters, Leslie Stephen, dem Herausgeber des „Dictionary of National Biography“, sondern „fließend“, vielfältig gebrochen, facettenhaft und changierend, sogar im Geschlecht, wie in ihrem Roman „Orlando“. Dies war die Antwort der Tochter auf die Definitionsherrschaft des Vaters. Sie wollte diese ihre „Erfindung“, ihren neuen Schreibstil, den „stream of consciousness“, niemandem anderen verdanken, schon gar keinem „neuen Vater“, wie Sigmund Freud.
Es lässt sich jedoch kaum bezweifeln, dass nicht schon die „Fallgeschichten“, die sich in ihrer reichen Plastizität wie Novellen lesen, ihren Eindruck auf ihr Schaffen geltend gemacht hätten: in einem Brief an eine Freundin räumt sie ein, dass sie doch in die Druckfahnen der Fallgeschichten geschaut hätte und sie äußert sich voller Abscheu2 Freuds Schriften waren auch literarisch denen seiner Epigonen weit überlegen. Ich denke, sie hat das gewusst und gefürchtet. Freud kam ihr zu nahe als Konkurrent bei der Ausübung ihres schriftstellerischen Produktivität: er befasste sich, wie sie in Mrs. Dalloway, mit der Sexualität, mit dem Wahnsinn, der Erinnerung. Auch er hatte für die Darstellung einer „neuen“ Subjektivität, welche das Unbewusste einschloss. Eine eigene, an der Novelle orientierte Erzählweise geschaffen, welche sich befreit hatte vom Diktat psychiatrischer Klassifizierung und darüber Raum ließ für fließende Übergänge, zwischen rational und irrational, krank und gesund. Aus dieser für sie gefährlichen Nähe, meine ich, begründen sich ihre Dementis und ihre Verleugnungen.
V
Bei der Lektüre von Freuds Fallgeschichten könnte man aber auch zu der Auffassung kommen, im Vorgang der Deutung manifestiere sich das paternalistische Prinzip der Psychoanalyse. Ich glaube, Virginia Woolf hat es so gesehen und in eine Linie mit der autoritären Definitionsmacht des eigenen Vaters gestellt. Die „Fallgeschichten“, jedenfalls Freuds Deutungsvorgehen im Fall der „Dora“, legen ein hierarchisch- autoritäres Verfahren zumindest nahe. Vermutlich faszinierte sie das fließende Narrativ der Fallgeschichten, die vielfältige Darstellung eines „Wie“ aber die Deutung selbst als eine intrusiv – detektivische Frage nach dem „Warum“ konnte ihr wie ein Gefängnis erscheinen.
Wenn es in ihrer Welt kein deutendes und herrschendes paternalistisches Prinzip geben durfte, so scheint es jedoch auch kein „containment“ gegeben zu haben, wie man heute in der Sprache der kleinianischen Psychoanalyse sagen würde, eine Funktion, die dem Mütterlichen zugeordnet wird, einen Behälter, der vor Fragmentierung schützt. Ihre innere Welt ist – bei aller Genialität – auch die Welt einer vielfach traumatisierten Seele mit einer labilen Identität und Ängsten vor dem Verlust der Ich-Grenzen vor dem Hintergrund einer latenten Panik, wieder verrückt werden zu können, wenn man es schon einmal war. Die „Erstarrung zur Salzsäule“, wie Quentin Bell ihren Zustand beschreibt, ist untergründig immer spürbar in einer gewissen Blutleere ihrer Texte. Virginia Woolf macht ein Stilmittel daraus: sie rettet sich in die „Vermeidung“ durch eine permanente Gestaltung des „Wie“ in seinen unendlichen Variationen um dem „warum“ auszuweichen. Sie wollte nicht „wissend“ werden wie Freuds Patientinnen. In ihrem Essay über das Kranksein von 1926, der auch als eine abwehrende Reaktion auf die Lektüre der Krankengeschichten gelesen werden könnte, schreib sie:
„Wir kennen unsere eigene Seele nicht, geschweige denn die Seele anderer. Menschenleben gehen nicht die ganze Wegstrecke Hand in Hand. In jedem ist ein Urwald; ein Schneefeld, wo selbst der Abdruck von Vogelfüßen ungekannt ist. Hier gehen wir allein und haben es lieber so. Immerfort Mitgefühl zu haben, immer verstanden zu werden, wäre unerträglich.“
Mit dem Eintritt in eine psychoanalytische Behandlung hätte Virginia Woolf das „Warum“ verfolgt und, wäre sie fündig geworden, vielleicht die vielfältigen Gestaltungen des „Wie“ aufgegeben. Das war wohl ihre Befürchtung. Es hätte, von heute aus betrachtet, einen riesigen Verlust für die Literatur bedeutet. Andererseits: hätte sie dann vielleicht nicht doch weiterleben können? Oder hätte die Bearbeitung der Folgen ihres sexuellen Traumas, ihre „Erfrorenheit“, auch die Frigidität auftauen und ihr dadurch ein tieferes und erweitertes Erleben ihrer Weiblichkeit und Sexualität eröffnen können? Wäre das nicht vielleicht auch ihrem Schreiben zugute gekommen?
Es mag sein, dass sich durch eine Behandlung neue Möglichkeiten eröffnet hätten. Aber auch Leonard Woolf hat es für müßig befunden und es vorgezogen, sich die Frage nach dem „Warum“ nicht zu stellen, angesichts seines Lebens mit „einem der wenigen weiblichen Genies unserer Zeit.“
Den letzten Teil seiner Autobiographie hat er überschrieben: „The Journey, not the Arrival matters“. Der Titel der deutschen Ausgabe heißt schlicht: „Mein Leben mit Virginia.“
In der vorliegenden Fassung wurde auf Fußnoten verzichtet.
Download:
Deutsche Fassung mit Fußnoten (nach einem Vortrag im Literaturhaus Berlin).
English Version (Tagungsvortrag im Rahmen des Committee on Women and Psychoanalysis,(COWAP) Berlin, 2013).
French Version (Revue Belge de Psychanalyse, “Effets traumatiques et anti-traumatiques de l´écrit”,2016).
Siehe auch Gespräch über Virginia Woolf
Letzte Änderung: 01.02.2022 | Erstellt am: 01.02.2022
Virginia Woolf Mrs Dalloway
Roman. Aus dem Englischen von Walter Boehlich
Broschiert, 240 Seiten
ISBN: 978-3-596-90038-1
Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2008
Virginia Woolf Mrs Dalloway
Roman (Englisch)
Broschiert, 256 Seiten
ISBN-13: 9780199536009
Oxford University Press, 2008
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