Kräftig und arbeitsam
1751 lässt Voltaire, damals Kammerherr am Hofe Friedrichs II. mit einem Jahresgehalt von 6000 Thalern, bei Henning in Berlin ein umfangreiches Werk mit dem Titel „Das Zeitalter Ludwigs XIV“ drucken, das uns die Motive der damals herrschenden Akteure und detaillierte Kenntnisse über die politische Organisation im Reich des Sonnenkönigs überliefert. Zwei kurze Zitate daraus über Europa und Deutschland zeigen, was sich verändert hat und was – geblieben ist.
Schon seit langem durfte man das christliche Europa – Russland ausgenommen – für eine Art von großer Republik ansehen, die in mehrere teils rein monarchische, teils konstitutionelle, teils aristokratische, teils demokratische Staaten zerfiel, die jedoch alle miteinander harmonierten, alle – wenn auch in verschiedene Sekten zersplittert – dieselbe religiöse Grundlage hatten und sich alle zu denselben völkerrechtlichen und politischen Grundsätzen bekannten, die den übrigen Erdteilen noch fremd waren. Diesen Grundsätzen nach machen die europäischen Völker ihre Kriegsgefangenen nicht zu Sklaven, achten sie die Gesandten ihrer Feinde, gestehen sie einmütig gewissen Fürsten – wie dem Kaiser, den Königen und anderen, geringeren Potentaten – den Vorrang und gewisse Vorrechte zu; besonders aber stimmen sie in der klugen Politik überein, dass sie soviel wie möglich ein Gleichgewicht an Macht unter sich erhalten, indem sie ständig – sogar mitten im Krieg – das Mittel der Verhandlung anwenden und einer beim anderen Gesandte oder weniger ehrenwerte Spione unterhält, die alle Höfe von den Plänen eines einzigen in Kenntnis zu setzen, ganz Europa mit einem Schlag in Aufregung zu bringen und die Schwächeren vor den Einfällen zu bewahren vermögen, zu denen der Stärkere stets bereit zu sein pflegt.
…
Deutschland. – Das Kaiserreich Deutschland ist der mächtigste Nachbar, den Frankreich hat. Es ist von größerem Umfang und, wenn auch vielleicht weniger reich an Geld, so doch fruchtbarer an kräftigen und arbeitsamen Menschen. Das deutsche Volk wird noch heute nahezu in derselben Weise regiert wie Frankreich unter den ersten Kapetingern, die die bisweilen herzlich schlecht respektierten Oberhäupter mehrerer großer und einer bedeutenden Anzahl kleiner Vasallen waren. Heute bilden sechzig unabhängige sogenannte freie Reichsstädte, ungefähr ebenso viele weltliche Landesherren, nahe an vierzig geistliche Fürsten – die teils Äbte, teils Bischöfe sind –, neun Kurfürsten – unter denen sich zur Zeit vier Könige befinden – und endlich der Kaiser – das Oberhaupt aller dieser Potentaten – den großen germanischen Staatskörper, den das deutsche Phlegma bis zum heutigen Tag mit beinahe ebenso viel Ruhe und Ordnung am Leben erhalten hat, wie die französische Regierung früher Unruhe und Verwirrung zeigte.
François-Marie Voltaire: Das Zeitalter Ludwigs XIV., 2. Kapitel: Die Staaten Europas vor Ludwig XIV.; Neubearbeitung der Übersetzung von Robert Habs. Xenomoi, Berlin 2015, S. 9f
Letzte Änderung: 23.08.2023 | Erstellt am: 23.08.2023
François-Marie Voltaire Das Zeitalter Ludwigs XIV
Neubearbeitung der Übersetzung von Robert Habs
683 S., geb.
ISBN: 978-3-942106-30-6
Xenomoi Verlag, Berlin 2015
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