Zukunft ohne Gestalt ODER Dann d o c h die Utopie. Der universale Dorfroman „Galveias“ von José Luís Peixoto. Aus dem Portugiesischen in Ilse Dicks berückend magisch-realistischem Deutsch.
Zweite Klasse, Eisenbahnzug, Landkreis Göttingen, Niedersachsen, Bundesrepublik Deutschland, Europa, Welt, Universum heißt es in “Wolpertinger oder Das Blau”. José Luís Peixoto hingegen, in seinem auf Deutsch letzterschienenen Roman, schaut genau umgekehrt, also hinab auf die Erde: Universo, Via Láctea, Sistema Solar, Planeta Terra, Europa, Portugal, Concelho Ponte de Sor, Galveias ‒ letztres ein etwas über 1200-Seelen-Ort. Peixoto wurde hier geboren. So daß er seinem als aber Kleinstadt geltenden Heimatdorf einen literarischen Fado geschrieben hat, dessen Musik aus Wörtern ganz allein besteht. Fast bis zum Schluß durchzieht den Roman die Saudade, der, wie die Franzosen sagen, Le Weltschmerz wohl am nächsten kommt, die romantische deutsche Melancholie. Rhonda und Carlos A. Cunha sprechen von Portugals nationaler Wehmut. Bei Peixoto klingt sie so:
In all dem Geheimnis, in all dem Dunkel, schnupperten die Hunde aneinander, schlapp, bekümmert, mit hängenden Ohren, als würden sie versuchen, einander über eine unendlich Traurigkeit hinwegzutrösten.
Ganz ebenso hier:
Wenn schon, dann waren seine Ängste erfüllt vom Tod, oder nicht einmal das. Der Trost am Altern war der schrittweise Verlust dieser Angst. Der Tod machte ihn nicht bange, sondern traurig.
José Luís Peixoto ist gewissermaßen der Gegenentwurf zur bei aller zwar auch Empathie gnadenlos sezierenden, formal freilich überragenden Prosavirtuosität seines älteren Landsmanns António Lobo Antunes, an dem vielleicht wegen seiner kühlen Kompromißlosigkeit der Nobelpreis immer wieder vorbeigeht, leider. Peixote dagegen schaut auf seine Figuren mit Liebe, er nimmt die Saudade nicht als Eskapismus wahr, sondern ernst auch in ihrem ‒ nur sehr gelegentlichen ‒ Kitsch: einem durch die Präzision der Beschreibung gebrochenen Wohllaut der Trauer,
mit geschlossenem Mund am Lächeln, die Lippen zusammengepreßt, da ihnen die Zähne fehlten, die Gesichter von der Sonne vieler Jahre gebeugt und durch die Härte der Farbfotografie der Würde beraubt. (194)
Wir können von Traurigkeits- und Trauerlust sprechen, es geht nicht um Kritik, sondern, wie jeder Blues es tut, darum, sich der Verletzungen zu bemächtigen. Wenn uns das gelingt, sind wir nicht länger Opfer. Schmerz wird zu Schönheit, indem er künstlerisch geformt wird, auch verformt. Hier entspringt wohl der Quell, der Peixotos Prosamagie derart speist, daß wir zu lesen nicht aufhören mögen. Die Entfremdung entfremden, heißt sie aufzuheben (ähnlich dem Schrecken auf Bühne und Leinwand, der ihn für uns bannt). Etwas zu gestalten, bedeutet, ihm einen Namen zu geben, und indem wir benennen, verfügen wir schon selbst, werden nicht länger verfügt. Und es ist nicht nur ein Glück, sondern auch eine Ehre, daß der kleine Wiener Verlag Septime Peixotos Romandichtungen in deutscher Sprache ebenso exklusiv vertritt wie die grandiosen Werke des Norwegers Jan Kjærstad, nachdem ihn der riesige Kiepenheuer & Witsch derart peinlich fallen ließ.
Was aber ist nun geschehen? ‒ Die sozusagen universale Perspektive ‒ allumfassend, wenn Sie so wollen ‒ schlägt im Wortsinn ein ‒ im Buch nämlich als Meteor, und explodiert ins Kleinste der dörflichen … nun gut, kleinststädtischen Gemeinschaft, nicht mittendrin, doch ganz in der Nähe. Gebäude kommen nicht zuschaden. Aufgeschreckt, entsetzt, benommen torkeln die Einwohner in Schlafanzügen und Nachthemden auf die Gassen, reiben sich die Augen, zittern und bangen. In der Nase einen entsetzlichen Schwefelgestank, lauschen sie aus sich heraus. Doch nicht nur sie:
Von einem geheimen Alarm gewarnt, verstummten die Hunde in einem schier unendlichen Augenblick. Der Rauch der Schornstein erlahmte, und wo er weiter aufstieg, tat er dies in einer unbeirrbaren Linie, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Sogar der Wind, der nur so leise spielte, um die Dinge zu glätten, schien sich zurückzunehmen. (…) Als würde die Zeit die Luft anhalten, teilten Galveias und der Weltenraum dieselbe Regungslosigkeit.
Die Hunde sind ein permanent zugegnes Leitmotiv, ein quasi Ostinato, das mitten im Buch dann selbst zum tragenden Thema wird; das tragische Finale einer Hündin, die umkommt, beschließt es: Uns und dem Hund von Barreta beklemmt es das Herz, auch wenn er, der abgewiesene Rüde, die Ruhe schließlich genießt. Saudade nämlich auch dies,
als würde er ein paar Stufen in seinem Inneren hinabsteigen, sich von der Hitze, der Müdigkeit befreien, den Hunger beinah vergessen und sich vom beharrlichen, aufdringlichen Geruch der Krankheit, der ihm, der Tod in allem, seit einer unter Nächten verlorenen Nacht zu schaffen machte, befreien, in Erwartung eines glücklichen Ausgangs
Am nächsten Morgen jedenfalls zieht es die Dörfler ‒ und, sorry, Dörflerinnen ‒ zum Ort der, wie sie zunehmend merken, Naturkatastrophe:
Dutzende, vielleicht Hunderte von Menschen füllten das Gelände rund um das Gehöft Cortiço, überquerten es mit großen Schritten. Das hohe Gras gab leicht nach, als sie auf den Krater zugingen. Viele umringten ihn schon (…), hoben angstvoll den Blick, die Ärmsten, und hätte jemand eine brüskere Bewegung gemacht, hätten sie, aufgeschreckt, womöglich einen Fluchtversuch unternommen, aber sie rührten sich nicht von der Stelle.
Doch dann wird “das Ding” in dem Krater vergessen, man richtet es sich mit ihm ein ‒ genauso nämlich, wie Pater Daniel, der gerne einen trinkt, seine in Galveias verbrachten Jahre in Todesfälle von Kindern einteilt:
Diese Todesfälle hoben sich wie Pfähle aus der Zeit. (…) Der Tod eines Kindes ist ein Zeichen göttlichen Undanks.
So auch das Ding, das die Ortschaft permanent mit diesem beißenden Schwefelgeruch erfüllt. Man ist ihm ausgeliefert, muß sich ihm ergeben und nimmt es hin, daß selbst das einst so süß gerochene Brot danach schmeckt,
Brotstücke, in Suppe eingeweicht, rannen ihm über die Mundwinkel und schmeckten nach der Tristesse von Schwefel.
Genauso schmeckt das Wasser und sogar die in Dürrezeiten traditionell für alle ausgegebene Maisuppe,
ja, bei der Hochzeit von Cecília und João gab es einen Turm aus Krabben, Hunderte von roten Fragezeichen, direkt aus der Kühlbox und höchst sorgsam auf einer Holzstruktur aufgetürmt (…),
ohne daß die Frage selbst je beantwortet würde, auf die die Zeichen derart pochen. Die Menschen lassen sie Frage sein; es ist ja doch nichts zu ändern, denn
man kann den Himmel nicht fürchten, diese Angst ist zu groß.
Weshalb eine Erlösung ‒ oder, im Pathos einen Gang runter, Erleichterung ‒ allein in den Tagträumen stattfinden kann:
Viele dieser Jungen tauchten nach der Arbeit in seiner Werkstatt auf, nur weil sie mit ihm über Kolben und Zündkerzen reden wollten, was ihre Art war, über Freiheit zu sprechen. João wußte sehr wohl, daß in diesen Gesprächen ein Kettenantrieb kein Kettenantrieb war, sondern ein Stück Illusion, anders für jeden einzelnen dieser Träumer von einer Zukunft ohne Gestalt.
Oder in zum Beispiel Joaqium Janeiros Erinnerungen an Portugiesisch-Guinea, wo er noch zu kolonialen Zeiten stationiert worden war; dort
erschien ihm das Licht, als er zum ersten Mal Bissau sah, göttlich. Es war ein Licht, das direkt aus dem Hauch Gottes kam.
Viele hier in Galveias leben in der Erinnerung, einige von ihnen lernen wir kennen, und wie sie, die Erinnerung, in die Alltagsrealität derart eingewoben ist, daß zeitlich eigentlich ein pures Kontinum herrscht, Zeit- und damit Geschichtslosigkeit. In Lobo Antunes’ Büchern ist dies ganz genauso, für die Menschen steht der Fortschritt quasi still. Bei Peixoto entspricht dem die durchweg nicht-intellektuelle, anders als bei dem älteren Romandichter “einfache” Personage, deren Bedürfnisse auf das basalste beschränkt sind. Deswegen braucht seine, Peixotos, Erzählkonstruktion nicht komplex zu sein, geschweige denn, daß seine Figuren ineinandergespiegelt werden müssen; sie sind ohnedies Eines. Allein die Physis trennt sie:
Körperlicher Schmerz macht den Menschen zu einem Einzelgeschöpf.
So liegt denn das “Ding” noch immer, der explodierte Meteor, vergessen in dem Krater und verströmt doch weiter diesen quälenden Schwefelgeruch, und weiter erfüllte
Zu viel Nacht (…) den Himmel und die Felder.
Als endlich, endlich das erste der drei Zeichen erscheint. Wir verraten die ersten zwei nicht. Das letzte aber ‒ eines der ständigen Schöpfung ‒ erweckt die Bewohner aus ihrer saudaden Trance:
Nachdem alle an ihm geschnuppert hatten, schlief das Mädchen im Arm der Mutter ein. Es roch, wie normalerweise Neugeborene riechen. Es roch nicht nach Schwefel.
Literaturdichtung pur: Kein Film kann sowas erzählen.
Und mit einem Mal wurden all diese Menschen von Scham gepackt. Aller, einer nach dem anderen, fühlte sich dort, wo er stand, fehl am Platz. Als würden sie plötzlich aufwachen (…) wunderten sie sich über die Blindheit, mit der sie sich an diese Pestilenz gewöhnt hatten. Sie wunderten sich über sich selbst. Als würden sie Fragen an jemanden, der sie am Vortag waren, stellen, als sprächen sie mit jemandem mit anderem Verstand.
Und brechen auf, um sich zu befreien. Es brauchte nur den Duft eines Säuglings.
Der letzte Satz des Romans ist dann genial. Er dreht die Erzählperspektive wieder herum. Weil er genial ist, ist er einfach. Ihn jetzt zu “spoilern”, wär gemein. Alles andre dürfen Sie wissen. Der Übersetzerin inniges Deutsch, Ilse Dicks, kann dadurch nur noch gewinnen. Dichtung ist nie der Plot, ist fast nur immer die Sprache. Dennoch wird in dem Roman viel mehr erzählt, als ich jetzt erzählt habe, er ist prall vor Geschichten, nicht selten solchen, die uns erschüttern, uns auch rühren, manchmal aber auch wütend machen, doch so, daß wir ganz wie Galveias Bewohner eigentlich nur ihrem Fado lauschen. Bevor vielleicht auch wir selbst endlich, endlich aufbrechen werden.
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ANH, Berlin
22./23. April 2024
Letzte Änderung: 16.05.2024 | Erstellt am: 23.04.2024
Me sits there with his Augur’s rod of ash, in borroweds sandals, by day beside a livid sea, unbeheld, in violet night walking beneath a reign of uncauth stars.
Joyce, Ulysses, Proteus
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