Ist Brec wirklich tot U N D lebendig?

Ist Brec wirklich tot U N D lebendig?

Rezension zu Alban Nikolai Herbst: »Briefe nach Triest«
ca. 5 Minuten Lesezeit
Cover

Dass Literatur unsere Vorstellung von Realität herausfordern kann, zeigt die eindrucksvolle Kritik zu Alban Nikolai Herbsts Briefe nach Triest. Der Roman entfaltet ein sprachgewaltiges Spiel aus Parallelwelten, in denen Liebe, Identität und Existenz kunstvoll verwoben werden. Ein herausforderndes, aber lohnendes Leseerlebnis, das den Blick auf Wirklichkeit und Fiktion neu justiert.

Mit wachsamer Aufmerksamkeit sollte man sich in diese auf gut 600 Seiten ausgebreitete Sprach- und Themenfülle fallen lassen. Da schreibt einer, der Erzähler, im Auftrag und in Vertretung seines Freundes Lars Melthau Ersa, eines Musikers, Briefe an dessen ihn verlassen habende Geliebte in Triest, in denen er sie als Triestina anspricht, aber auch als Hohe Frau, als Innigste, als Karstmeerfee, als Sidhe, als Glockenblume Wermutskraut Wacholderin Schattenblume und so weiter. Damit erhöht er sie zu einer mythischen Gestalt, ja, einer Göttin für die tausend Namen nicht genügten. Und er preist ihr Abbild in konkreten Frauen, preist die Fältchen unter den Lidern, „in die sich schon die Zeit zärtlich eingezeichnet hat“, und, mit einem Anflug von Homoerotik, ihren jungenhaften Körper ohne den waagrechten Einschnitt zwischen Schenkeln und Hinterbacken. (S.36). Aber die Briefe enthalten mehr als diese an Minnelieder erinnernde Preisungen. Der Briefschreiber erzählt von seinem und von des Freundes Leben und von mindestens vier Paaren – von der Ausnahmesituation des Sich-Erkennens, vom Dopamin-Rausch in der sogenannten Liebe, dieser lebendigen Naturgewalt, von der schwierigen Rückkehr aus dem „Venusberg“ ins gewöhnliche Dasein. Nur einem Paar ist das Fast-Happy-End – bis dass der Tod sie scheidet – vergönnt. Und da aus männlicher Perspektive erzählt wird, ist es eher die Frau, die verführt und sich wieder entzieht.

In etwa nach dem dreißigsten Brief (es sind insgesamt 39) lässt der Briefschreiber seinen Auftraggeber Lars M. Ersa sterben und übernimmt die Rolle des Liebenden (dieser zu sein habe ich, Leserin, ihn von Anfang an verdächtigt!). Er schreibt die Briefe aus eigenem Antrieb weiter und reist schließlich nach Triest, um nach dieser geheimnisvollen Frau Venus zu suchen, bzw. nach der einen Frau, in der sie sich für diesmal verkörpert.
Erzählt werden parallel laufende Geschichten in verschiedenen Versionen mit überraschenden Vermischungen, Querverbindungen und chronologischen Brüchen. Fäden reißen ab, verlieren sich, tauchen auf und werden wieder eingeknüpft. Skurriles hüpft in die Handlung, so zum Beispiel eine Enkelin der Alda von Hüon aus den „Wolpertingern“ in einen wieder einmal auf freier Strecke stehenden Zug der Deutschen Bahn, sie setzt sich dem schreibenden Erzähler gegenüber, spricht ihn an und schiebt ihm ihre abgenommene Kopfbedeckung zu, die sich als Dessous herausstellt und zwar gerade jene Dessous, welche – ach, das auszuführen würde den Rahmen meiner Besprechung sprengen.

Ja, Herbsts Erzählkunst entfaltet sich in feinsinnigen Details zu einem abwechslungsreichen Text: Da bäckt einer Brot und schläft auf dem Hemdchen, das seine Ex-Geliebte zurückgelassen und das ihren Duft bewahrt, ein anderer baut an einer Mauer um ein Grenzhäuschen im Karstgebiet nördlich von Triest, in das er sich zurückgezogen hat und das er innen mit unabgesendeten Briefen tapeziert; da führt der Erzähler ein Gespräch mit einer Schriftstellerkollegin über den vorliegenden Text und macht sie und sich damit zu Romanfiguren; da zieht sich ein Paar in eine vaginale Grotte zurück und eine Achselkuhle wird dem Mann zur Kapelle; Statuen werden lebendig; der Blick einer steinernen Venus verursacht schwere Augenentzündungen. Und woher und wozu diese hufeisenförmigen Bisse auf Schultern? Sind es Metaphern? Sind es Traumbilder? Sind es einfach phantastische Einfälle? Man sollte sich als versierter Leser nicht scheuen Unverstandenes (zumindest vorläufig) beiseite zu legen. Denkanstöße sind es allemal.

Das Beeindruckendste dieses Romans aber liegt für mich vor allem in seiner formalen Konstruktion. Meines Erachtens begegnen wir hier einer sprachpoetischen Darstellung der radikal anders gearteten Wirklichkeit, wie sie mit der Quantenphysik und der damit verknüpften Idee von Paralleluniversen im 20. Jahrhunderts aufgetaucht ist. Hören wir dazu Tobias Rees: „Die Quantenphysik bricht mit dem mechanistischen Weltbild und damit eben auch mit dem unserem Alltagsleben zugrundeliegenden Wirklichkeitsbegriff … Die Kunst kann tief in das Neue vorstoßen und es in Begriffen des Konkreten erkunden und erfahrbar machen“ (Wirklichkeit neu denken, SZ 49, 28.2.2025,)
Genau in diesem Sinne sind Herbsts BRIEFE NACH TRIEST ein bahnbrechendes Werk! Sie bieten uns eine Gehhilfe in Richtung quantenphysikalisches Weltbild mit seinen simultanen Welten.

Herbst bewegt sich in diesem Buch nicht nur zwischen zwei Ebenen. der Realität und der Wirklichkeit (=erfundene Welt), ), in der es kein Drittes gibt, wie das Hans Richard Brittmacher schreibt (Tertium datur. In Text+Kritik 236), sondern er faltet die Wirklichkeit in ein Viertes und so weiter auf. So können verschiedene Varianten einer Geschichte nebeneinander bestehen und sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen. Leser müssen es aushalten, dass eine Figur gleichzeitig tot und lebendig sein kann. „Wie jede unserer Erzählvarianten, auch wenn sie sich gegenseitig ausschließen, für sich genommen geschehen sein kann und vielleicht auch in simultanen Welten geschah“ (S.389). „Vergiss bitte nicht, dass Brecs Zusammenleben mit der Lydierin nur e i n e Version seiner Geschichte ist, eine ihrer Möglichkeiten“ (S.387).

Zu guter Letzt noch ein Punkt, der mir wesentlich erscheint, nämlich der, dass alle Welten letztlich zusammen- und im Fluss gehalten werden von einer Triebkraft (Liebe?), die zur Begegnung zwischen Mann und Frau führt und das Universum mit Leben speist.
Wem das jetzt zu pathetisch ist, der/die möge sich einfach hinsetzen, das Buch lesen und sich an den konkreten inhaltlichen Details und der Sprachkunst des Autors ergötzen. Vielleicht kommt er/sie zu ganz anderen Schlüssen als ich.
Ich werde mich auch wieder hinsetzen und das Buch ein zweites Mal lesen, denn sein Reichtum erschließt sich nicht nach einem Durchgang. Dabei werden mich ein Stadtplan von Triest und mein Italiano-Tedesco-Wörterbuch begleiten und ich werde mir den Briefen zugeordnete Musikstücke anhören. Ich bin gespannt auf Neuentdeckungen.

Ich empfehle die BRIEFE NACH TRIEST allen, die sich mehr wünschen als eine Feierabendentspannungslektüre, die offen sind für ein besonderes Leseerlebnis. Und den durch das Buch Reisenden möchte ich mitgeben, was die Physikerin Shohini über die Quantenwelt sagt, nämlich: dass man sich keine Sorgen machen solle, wenn man (von Quanten) verwirrt sei, denn dann sei man schon dabei, zu verstehen. (SZ 49,28.2.25: Ein Quantum Kunst).

Anlässlich seines 70. Geburtstages wollen wir auf eine Schriftstellerkarriere zurückblicken. Am Freitag, den 04.04.2025, ist Alban Nikolai Herbst zu Gast im Hessischen Literaturforum im Mousonturm e.V..

Weitere Informationen und Tickets es auf der Website des Literaturforums.

Letzte Änderung: 03.04.2025  |  Erstellt am: 03.04.2025

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