Inseln der Möglichkeit fernab von Routinen

Inseln der Möglichkeit fernab von Routinen

Daniel Defoes „Essay über Projekte“
Robinson Crusoe | © Walter Paget

„Robinson Crusoe“ ist mit all seinen technischen Details und Inventarlisten auch ein Ratgeber fürs Überleben auf einer einsamen Insel. Sein Verfasser Daniel Defoe war ein Aufklärer im praktischen Sinne. Es strebte die Verbesserung der Lebensverhältnisse an und machte Vorschläge für eine vernünftige Zukunft. Sein „Essay über Projekte“ und das von Christian Reder herausgegebene „Lesebuch Projekte“ empfiehlt Elvira M. Gross.

Projekte – von lat. projectum = das nach vorn Geworfene –, worunter laut Duden (groß angelegte) Vorhaben, geplante Unternehmungen verstanden werden, hatten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine erste große Blütezeit, es kam zu einem „regelrechte[n] Projekt- und Projektierungsfieber“, wie Christian Reder schreibt. Diderot, der 1751 bis 1780 gemeinsam mit d’Alembert in seiner 35-bändigen Enzyklopädie das Wissen seiner Zeit zu bündeln versuchte, wusste, wie weit der Weg vom Projekt zur Ausführung und um wie vieles weiter er von der Ausführung zum Erfolg ist, denn: „Wie oft verfällt der Mensch auf unsinnige Unternehmungen!“, konstatiert er zum Begriff „Projekt“. Wer oder was nach vorn geworfen wird, muss zusehen, dass er oder es nicht fällt. Und auch Defoe warnt in seinem Essay über Projekte: „Wenn der Mensch sich aber durch Jugendverirrungen selbst um drei Dinge – Geld, Freunde, Gesundheit – gebracht hat, so stirbt er in der Gosse, oder an einem noch schlimmeren Orte, in einem Hospital.“
Solcherlei Gedanken und eigene Projekterfahrungen veranlassten wiederum Christian Reder, unter anderem Begründer des Zentrums für Kunst- und Wissenstransfer an der Universität für angewandte Kunst Wien, dazu, zu Sinnigkeiten und Unsinnigkeiten von Projekten nachzudenken. Woraus schließlich durch weitere Beiträge unter anderem von Alexander Kluge, Peter Sellars, Zaha Hadid, Dirk Becker, Elfie Semotan in Reders Herausgabe ein über 500 Seiten umfassendes, perspektivenreiches Buch entstand: das Lesebuch Projekte, erschienen 2006 im Springer Verlag.

Nach wie vor sind Projekte in aller Munde. Doch worin begründen sie sich? Mit Daniel Defoe (1660–1731) verortet Reder den eigentlichen Beginn des Projektzeitalters, der gleichzeitig als Beginn der Moderne gilt. Defoe „verstand sich stets als advocate of progress“, wie es im Vorwort von Christian Reder zu Ein Essay über Projekte heißt – eines Fortschritts, der freilich nicht ohne Rückschritte verläuft. Doch dürften Defoes persönliche „Fehlschläge (…) die Neigung, Kompensationen in neuen Projekten zu suchen, nur bestärkt haben“, wie Reder, der in seinem einleitenden Essay den Beginn der Geschichte des Denkens in Projekten aufrollt, schreibt: „Als Geschäftsmann, Spekulant, Ziegeleibesitzer, Journalist, Regierungsberater, Geheimagent, Zeitungsherausgeber, Historiker, Schriftsteller repräsentiert er eine ständige Bereitschaft neu zu beginnen, in Parallelexistenzen zu leben, Beziehungsnetze auszunutzen, Generalistisches mit Spezialisierung in Balance zu halten.“

Defoe sieht sich selbst nicht als Erfinder und Entdecker, vielmehr leitet ihn an, auf der Basis seiner Erfahrungen und Überlegungen aktuelle Themen aufzugreifen und Möglichkeiten auszuloten, um die praktischen Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben zu verbessern und dadurch, wie Reder schreibt, eine „reformerische Projektkultur“ zu etablieren. Die Themen reichen vom Banken- und Versicherungswesen über Straßenbau und Bildungsfragen (Akademie für Frauen! 1697!) bis zum Handelsrecht. Es geht ihm, wie Reder herausstreicht, um ein Streben nach Erkenntnis, um einen auch moralischen Fortschritt. Ausdrücklich warnt Defoe vor dem unehrenhaften Projektemacher, der aufgrund seiner finanziellen Notlage „kein anderes Rettungsmittel [findet,] als dieses oder jenes Nichts zu entwerfen, einem Puppenspieler gleich, der Puppen hochtrabende Worte in den Mund legt, es als etwas noch nie Dagewesenes hinstellt und als neue Erfindung ausposaunt, sich ein Patent dafür verschafft, es in Aktien teilt und diese verkaufen muss. An Mitteln und Wegen, die neue Idee zu ungeheurer Größe aufzublasen, fehlt es ihm nicht (…)“. Selbst Goethes Faust könnte als ein Projekt gelesen werden, gerade auch mit dem Hinweis am Anfang des zweiten Teils, wenn es zum Projektmacher, wie Reder zitiert, heißt: „Er lügt sich ein – so lang es geht – / Ich weiß schon – was dahinter steckt – / Und was dann weiter? – ein Projekt.“ Den Bau der Arche Noah sieht Defoe als „das erste Projekt, von dem ich las“ und auch der „Turmbau zu Babel war [für ihn] ein richtiges Projekt, denn tatsächlich ist die wahre Definition eines Projektes im heutigen Sinne […] ein großes Unternehmen, das zu breit angelegt ist, um bewältigt werden zu können, so dass mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nichts aus ihm wird“. Und doch – und darum geht es – weist es als Projekt einen Weg.

Aufgewachsen in London während der Stuart-Restauration und der Pestepidemie, „umgeben von Ruinen und Baustellen“ nach dem katastrophalen Brand von London, dem die mittelalterliche City zum Opfer fiel, verfasst der frühe Aufklärer Defoe diesen Essay etwa in der Mitte seines Lebens, 1697, im Alter von 37 Jahren, nach vielerlei mehr oder weniger geglückten wirtschaftlichen Unternehmungen. Und auch der erst mit knapp 60 Jahren erschaffene Robinson Crusoe als ein, wie Reder schreibt, „Prototyp des künftigen Selfmademan“, ein homo faber, dem „alles was er tut, […] nützlich“ und „sein Leben erleichtern“ soll, dient als ein Modell für den kontinuierlichen Neuanfang.

In Reders Worten:
„Projekte brauchen die Fiktion der Insel, um Aufgaben halbwegs einzugrenzen, sowie den Antrieb, etwas zu unternehmen, sich also von Projekt zu Projekt fortzubewegen. Wünsche nach Vernetzung entsprechen einem weiträumigen Denken in Seewegen und in Schiffe gesetzten Erwartungen. Allein auf seiner (Projekt-)Insel muss sich jeder bemerkbar machen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ankommende können Freunde, Feinde oder Ignoranten sein. Nötiges Material aus Wracks zu beziehen, läuft sich irgendwann tot. Ist es verbraucht, kommt es vielleicht zu verblüffenden Improvisationen. Greifbar wird, dass Wissen das einzige Gut ist, das sich durch Gebrauch vermehren lässt, es sich lohnt, Probleme neu durchzudenken und dass Projekte ohne Verbindung zu anderen eine merkwürdig paradiesische Vorstellung sind.“

Und so bleibt es beim Geworfensein und dabei auf der zur Verfügung stehenden jeweiligen Zeitinsel/Inselzeit Projekte – mit Defoe –„nach klaren und deutlichen Grundsätzen des gesunden Menschenverstands“ zu planen und durchzuführen, nicht um sich selbst neudeutsch zu ‚verwirklichen‘, sondern um die Lebensbedingungen der menschlichen Gesellschaft auch 326 Jahre später dank Erfindungs- und Umsetzungskraft mit selbstkritischem Blick zu reformieren – zumindest im Ansatz und als Möglichkeit.

Letzte Änderung: 31.05.2023  |  Erstellt am: 26.05.2023

Ein Essay über Projekte | © Walter Paget

Daniel Defoe Ein Essay über Projekte

Herausgegeben und kommentiert von Christian Reder
283 S., geb.
ISBN-13: 9783854769545
Verlag Mandelbaum, Wien 2023

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Lesebuch Projekte | © Walter Paget

Christian Reder (Hrsg.) Lesebuch Projekte

Vorgriffe, Ausbrüche in die Ferne
Edition Transfer
529 S., geb.
ISBN-13: 9783990430613
Springer Verlag, Wien 2006

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Kommentare

konstanze streese schreibt
wer sich für Defoes englischen Text interessiert: https://www.gutenberg.org/files/4087/4087-h/4087-h.htm Für mich besonders spannend darin das Kapitel "Academy for Women" - über den Geist seiner Zeit, so sieht man dort, kam auch Defoe nur ein wenig hinaus...

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