Daniels Seels „Nach Eden" ist eine Hommage an die Kunst des Gedichts. Alban Nikolai Herbst taucht tief ein in Seels Erkundung von Mutterschaft, Verlust und Selbstbestimmung – Themen, die uns an Grenzen führen und doch neue Räume öffnen. Es ist ein Gedichtband, der durch seine formale Perfektion und poetische Intensität atemlos macht.
Die Ärztin sagt, was sie können müssen,
haben sie im Mutterleib schon geübt, nur
atmen nicht. Atmen ist das Schwerste.
Dies ist mit Abstand die beste Lyrik, die ich gelesen habe, seit ich 2016 Katharina Schultens Gedichte entdeckte – seinerzeit eine solche Offenbarung, daß ich → in Volltext ausführlich drüber schrieb. Auch ihrer späteren Texte, wie → Daniela Danz’ens zuvor, nahm ich mich immer wieder an. Und nun Daniela Seel!
Nein, ich war nicht überrascht, habe sie schon vorher mehrmals im Vortrag gehört, war jedesmal berückt – aber das jetzt ist ein andres. Lange nicht mehr hat mich etwas derart in sich hineingesogen, mit sich gezogen in Tiefen hinab, doch aber auch in Höhen aufsteigen lassen – derart riß sie mich mit, Daniela Seels poetisch im Wortsinn ungeheure Intensität. Es ward mir schwindlig davon, ich mußte an mich halten, um nach der Form zu schauen – dem eigentlich mir Wichtigstem an Kunst. Doch das Frappierende mit einem Mal: Sie interessierte gar nicht mehr, oder nur kaum, dann, beim zweiten Lesen des Buches. Wobei ich überhaupt erst da begriff, wie eng dieses Gedicht konstruiert ist, mit welcher Perfektion auf dem Grat zwischen Prosa und eben wirklich Gedicht; kaum etwas in der Lyrik lehne ich mehr ab, als das, was ich »Zeilenbruchsgedichte« nenne … da bin ich Klassizist. Den Seel mir einfach zerfetzte, so zerfetzt hat, daß ich es genoß, immer wieder schaudernd, immer wieder fast an den Tränen, dann begeistert wegen eben der Form.
Der bei Suhrkamp in diesem Herbst erschienene schmale Band trägt als Gattungsbezeichnung »Gedicht«, nicht etwa Gedicht_e_ – was man beim losen Durchblättern aber erst meint, zumal das Inhaltsverzeichnis es einem nahelegt. Wie »normale« Gedichte stehen die einzelnen Teile auch auf den Seiten. Der Zusammenhang ergibt sich erst während der Lektüre, weshalb es sträflich ist, mal hier, mal dort hineinzulesen; das ist erst beim dritten und vierten Lesen erlaubt, dem dann gewiß ein fünftes, wenn nicht sechstes folgt. Wie Seel nämlich die Leitmotive verschränkt, zu deren wichtigstem die Mutterschaft gehört, und zwar sowohl aus Mutter- wie aus Kindersicht … wie sie sie auch dramaturgisch, ein quasi Ostinato, unter den Versen durchlaufen läßt, ist atemberaubend. Und beklemmend, welch grausamen Blick sie auf sich selber hat, weil nämlich andernfalls aus der tatsächlichen Trauer Kitsch werden würde.
Etwa die Fehlgeburt, die Abtreibungen besonders. Diese Dichterin scheut sich nicht, und ich spürte, wie weh ihr manches dabei tat:
Und die Niegeborenen, die ohne Atem
Gestorbenen, die im medizinischen Abfall grablos Verworfenen,
wird ihnen ein Zipfel oder vielmehr der Hauch einer Mutterseele gewährt?
Wobei sie den »Hauch« auch benennt, und zwar religios (Von Gott ist die Rede immer mal wieder, aus dessen Umzäunung aber sie ausbricht, die Frau): Von »ruach« [רוּח] schreibt sie, das Wort entstammt dem Tenach und bedeutet zugleich »Wind«, »Seele«, »Atmen« (im Arabischen »ruh« [وح]). Dieses sei, so im Gedicht die Ärztin, das Schwerste.
Es waren aber die Abtreibungen, was mich fast sofort in den Text sog. Die meiner eigenen möglichen Kinder beschäftigen mich selbst, seit ich etwa fünfzig war; drei wären’s noch gewesen, eines von ihnen Tochter – ich bin mir ihrer so gewiß! Denn unterdessen steigen sie aus meinen Gedanken fast schmerzlich oft heraus. Eine Begleiterscheinung meines Alterns, gar des Alterns allgemein? Und der Geliebten selbst sind sie sogar sinnlich erschienen; noch lange nach dem Eingriff wachte sie bisweilen auf des nachts, weil etwas Kleines nach ihr faßte, sie, erzählte sie, berührte. Von etwas solchem erzählt auch dieser Band, wenngleich oft in der Negation; die Kitschgefahr ist einfach zu hoch. Daß Seel ihr sogar dort entgeht, wo auf einer Seite alleine dieser Vers steht:
»Mama, hör auf zu schimpfen, bitte.«
… daß also dies nicht mal sentimental wirkt, liegt an Seels hochsensiblem Formvermögen: Sie plaziert den Satz präzis, wo er Vorhergegangenes mildert und Kommendes ermöglicht; zugleich ist er ein Einspruch des Kindes gegen die viele Dunkelheit im Buch, und dies jetzt fast am Ende. Denn statt sich in Klagen zu ergehen – schon gar nicht erniedrigt Seel sich zum Opfer –, wirft die Dichterin die Blicke nach Hinaus – was auch ein Zurück in böseste deutsche Geschichte bedeutet. Abtreibung mit Euthanasie zu verbinden, ist ideologisch allerdings gewagt, doch es funktioniert. Denn auch der Gegenton aus den Kehlen jener südamerikanischen Indio-Sklavinnen hallt zu uns her, die ihren Kindern das eigene Schicksal nicht zumuten mochten, dieses Fehlen von Stolz – der es bei Seel eben ist, was ihr Buch ganz von Beginn an antreibt:
»Eva, die ist,«
da die Erste Lilith war,
» die Zweite, die vom Knochen Geborene, von Gottes
Hauch. Die Zweite, die spricht. Die Erste, die weiß, dass sie stirbt.«
Und also das Gebot:
«Von Eva her denken«,
was das Paradies zu verlassen bedeutet, anders als für die von Anfang an rebellische Lilith aber, Adams erster Frau, zu sterben eben auch. Denn
»Vom Garten ist es nicht weit zur Plantage mit ihrer Sklav:innenarbeit«
heißt es in demselben Text. So daß sie, diese Frau, die Eden begrenzenden, den Paradiesgarten (vorm Tod) schützenden Mauern durchschreitet, bestimmt nur durch sich selbst sie nämlich überwindet:
»(…) nicht verdammt, / sondern zum Sterben begabt.«
Auch formal ist diese Stelle interessant. Denn wenn wir neun Seiten später lesen:
»nicht verdammt, / sondern zur Nacht begabt«,
dann liegt Seels Raffinesse poetisch bereits bloß, eine, die Leitmotive nicht als Wiederholungen versteht, sondern als Varianten auffaßt. Noch wenige Seiten vor Schluß gibt es davon einen Nachklang:
»Begabt zu Grausamkeit, ohne grausam zu sein. Begabt zu vernichten, sich gegen Vernichtung entscheiden.«
Hier legiert das Gedicht allein noch das – seinerseits ambivalente – Wort ›begabt‹. Wobei Ambivalenzen durchweg ausgehalten werden, zu denen selbstverständlich auch Zweifel gehören, die die Dichterin pfiffig ausweist, indem sie mit Durchstreichungen arbeitet, die entweder wirkliche Verwerfungen bedeuten oder daß nur (noch) nicht entschieden werden konnte und genau dies nun bewahrt wird:
Eine der allerschärfsten Ambivalenzen wird sogar zentrales Thema: daß ein Kind zu gebären, immer auch bedeutet, ihm zu sterben zuzumuten. Das indes nicht Grenze ist (nicht Mauer um das Paradies), sondern
»(…) ein atmender
Übergang, lebendig und zäh, unbeirrt,
möchte ich sagen, vom Tod«,
wovon weit vorher schon gesprochen war:
»Das Licht der Tiefsee stelle ich mir
dem Licht im Mutterleib verwandt vor,
gastlich, unbändig, unbeirrt von Vernichtung.«
Die Tiefsee als Mutterleib ist indes mit einer anderen immer wieder betrachteten, zuweilen besungenen Figur des Gedichtes liiert, dessen Tragik mit der des Menschen kompositorisch enggeführt, ja beinah aufgerufen zur Zeugenschaft wird (nicht grundlos erinnert da der Ton an Melvilles Moby Dick):
»Sing mir von Plagen, Walgesicht, / (…) / such mich siebenmal heim.«
Abtreibung ist nämlich, nach der Austreibung, Ausrottung auch, indem in diesem Buch die Mutterschaft eben nicht, wie’s Mode ward, sozial, sondern ontologisch verstanden und als etwas prinzipiell Frauliches, muß ich hier schreiben, empfunden wird, das sich relativieren nicht läßt, sondern absolut ist:
»Aber im Blut einer Mutter lebt die DNA ihrer Kinder fort,
bis in meinen Tod lebt dein Tod in mir fort, Chimärchen«
– Kinderkosewort für das, was sich in medizinischen Abfalleimern findet und dem nun ein großes sei es Requiem, sei’s Kaddisch erklingt, diesen
»(…) ohne Atem Gestorbenen, die im medizinischen Abfall grablos Verworfenen,«
Bei mir selbst, → in meinem neuen Roman, lautet eine Parallelstelle so:
Schon liege der Fötus im Eimer, einem weiß emaillierten aus Blech, und schreie noch, nachdem er reingeklatscht wurde, habe aber die Stimme doch nicht, daß wir hörten.
Genau nun da fragt Seels Gedicht den Zellenklümpchen, die im Einer liegen, nach:
»wird ihnen ein Zipfel oder vielmehr der Hauch einer Mutterseele gewährt?«
Das ›grablos Verworfene‹ zuvor schützt diesen Vers einmal mehr vorm Kitsch und zugleich vor jeglichem Zynismus, zumal das ontologisch Grausame nirgendwo geleugnet wird, eben ein weiblich Grausames, das in Themiskyra aufstand nicht nur in einer
»Stille«,
– lauschen Sie bitte der Alliteration dieser »i«’s –
der die Geschichte
der eigenen Gewalt eingeschrieben ist,
entsetzensinne«,
sondern selbst noch im erahnenden, stummen Befragen des eigenen Kindes sich zugibt:
»Werde ich die sein, von der du gelernt hast,
was grausam sein heißt?«
Nachdem sogar der entsetzliche Martin Luther einen kurzen Auftritt hat, folgt unerbittlich die konsequente Frage (gemeint sind ›WOrt‹ und ›GOtt‹):
»Wann hört das Wort auf, bei Gott zu sein?«
Auf was die Folgeseite gleich fragend eine Antwort gibt:
»Als Eva aufstand und sich anzog?«
Der Mann scheint sehr versagt zu haben, und
»Etwas trug sich mir an, trug sich mir ein.
Archive aus Luft, Archive aus Stein.«
So daß wir in den Gesang selbst Reime eingebunden finden, die ihn binden:
»Von den Karten die Leere,
von Sanftheit die Schwere,
den Händen ein Baum
für Fuchtelkinds Zaum.«
– die zum einen mit der alten Form von »kommt« nicht nur im Hohen Ton korrespondieren:
»Dass in der zaudernden Weile tausendfach
kommet Grund und niemand nimmt«,
doch nicht immer derart offensichtlich, sondern kunstvollerweise gerne auch versetzt, im folgenden vom letzten Wort des vorhergegangenen Verses zum ersten des gefolgten (hier alliteriert das »t«):
»Treue, die dich tauchen läßt, trauern,
dauern, Sing von den Versunkenen (…).«
Als wäre alles das nicht schon genug, gelingen Seel auch, wie schon mit ›entsetzensinne‹, außerordentlich schöne Neubildungen, zum Beispiel ›aberraumweit‹, und Verse, die, wer sie gelesen hat, wohl niemals mehr vergißt:
»Die aber treffen der Welt Vergessen,
die roden vom Rohen den Gott.«
So etwas läßt uns ahnen, ›ahnend verstehen‹, ohne aber, daß wir gänzlich verstehen; um so größer die Magie.
»Bedeckt durch den Garten die Irre. Ein Alter
wahrhaftig, wo eines Zaunes bedürfen die Alpen.«
Und dann schreibt diese, als was sich das lyrische Ich hier selber benennt, »Findlingin in Erdengestalt« das Wort ›nämlich‹ nicht mit ›h‹, neinnein!, doch mit, statt des Umlauts, ›e‹:
– was klanglich ein »nehmen« assoziieren läßt, womöglich auch, das eigne Stürzen (in den Abgrund – eben!) anzunehmen
»und war Geist noch, eingewöhnt keinem
Schlüssel, an keine Füße gebunden«,
vorgeburtlich geradezu selbst, doch, um die oben schon ziterten Verse nun emphatisch zu zitieren:
»Das Licht der Tiefsee stelle ich mir
dem Licht im Mutterleib verwandt vor,
gastlich, unbändig, unbeirrt von Vernichtung.«
Dabei habe ich noch gar nicht von den Steinen erzählt, einem weiteren durchlaufenden Motiv, das Beseeltheit noch im Anorganischen findet, o Tauchgang in die Tiefen:
»(…) Im Hof greift die Hand
einen Stein, wägt sein wechselwarmes Gewicht.
Wie viel älter als ich ist er, wie viel menschlicher
in seiner Unmenschlichkeit. Bedeutet leben
grausam sein? Wer bestimmte mich?
Manchmal möchte ich sagen: mein Sterben.«
Das aber grad das Leben meint, ohne das es es nicht gäbe, egal,
»Brüchig die Blätter, brüchig der Wind, daran du beginnst.«
Ach, möge dieser schmale, von hoher, weil sinnlich durchlebter Geistesbildung derart schwere Band auch Ihnen etwas werden, das Sie sich selbst – und wir alle uns – wie
»Eva ermutigen hilft, sich zu entscheiden
für Sterblichkeit, auszuziehen, in Weite,
unbehaust, auf sich zu vertrauen.«
Allein an eines ist dazu unbedingt zu denken (Sie müssen statt ›zu trinken‹ nur ›zu lesen‹ lesen):
»(…) Vergiss nicht, da ist
ein Fluß in dir, wenn du trinkst.«
Schon dürstet’s mich erneut nach diesem weiblichen Gedicht, das Eden hinter sich zurückläßt, selbstbestimmt und stolz.
Letzte Änderung: 25.11.2024 | Erstellt am: 25.11.2024
Daniela Seel Nach Eden
Gedichtband von Frau Daniela Seel, erschienen am 14.10.2024 im Suhrkamp Verlag
Fester Einband
90 Seiten
22 €
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