Wenn sich Gedichte wie Geheimnisse öffnen und erklären, entschlüsseln und begreifen ließen, gerieten sie in den Geruch des Machbaren. Und weil das sehr oft nicht so ist, müssen die Entbergungsversuche der Schriftkundigen Stückwerk bleiben. Klaus Reichert vergegenwärtigt in seinen Erinnerungen und Briefen den Dichter Paul Celan, auch den verschlossenen. Reich und lebendig, schreibt*Ingo Ebener, sei das Buch.
Erinnerungen haben weit mehr mit dem Vergessen und dem Nicht-mehr-erinnern-Können zu tun, als uns bewusst und oft auch als uns lieb ist. Einerseits stehen sie dem Vergessen fundamental entgegen, andererseits gehen sie nicht selten mit Vermischungen, Verwechslungen, Täuschungen und neben anderen Unwägbarkeiten auch mit dem Eingeständnis einher, etwas nicht mehr genau oder gar nicht mehr erinnern zu können. Mit dem Aufschreiben von Erinnerungen verhält es sich nicht weniger komplex, denn meist glättet die Schrift das Erlebte und Vorgefallene, kreiert einen abschließenden (Lebens-) Rahmen und die memoirenhafte Meisterschaft schluckt alles Vergessen, Nichtwissen und Nichtverstehen herunter.
Montaigne, der wohl liebevollste Porträtist des schlechten Gedächtnisses, nannte seine Unfähigkeit, Wahrheiten zu erdichten, geschweige denn diese behalten zu können, „Offenherzigkeit aus Schwäche“. Im Falle Klaus Reicherts rührt die Offenherzigkeit, die zu einem wiederholten „Das weiß ich nicht mehr!“ führt, jedoch weniger vom schlechten Gedächtnis her. Seinen Erinnerungen – so gegenwärtig ihm beim Abfassen all das Erinnerte auch war – ist vielmehr das Nichtwissen und das Nichtverstehen in bemerkenswerter Weise eingeschrieben. Denn wie lässt sich einem Brief- und Erinnerungspartner wie Paul Celan gerecht werden – zu Lebzeiten oder 50 Jahre nach dessen Tod? Wie erinnert man sich an jemanden, der Freund, betreuter Autor, Bewunderter wie Gefürchteter zugleich war? Wie geht man mit einem Dichter um, dessen Gedichte sich nicht einfach „verstehen“ lassen? Welche Rolle weist man ihm zu, der doch prägend war in der eigenen intellektuellen Entwicklungs- und Selbstfindungsphase zwischen dem 19. und 32. Lebensjahr – äußerst wichtig, jedoch nicht alles bestimmend, denn da waren noch andere Dichter, Literaten und Künstler wie Benn, Pound, Creeley, Woolf, Joyce etc., in jedem Fall starke, vielleicht allzu starke, Kontraste zu Celan. Und wie geht man um mit Konflikten, mit den Kränkungen, den Verfehlungen, mit eigener Unfähigkeit und natürlich mit den seelischen und körperlichen Wunden, die Celan schließlich in den Selbstmord stürzten, obwohl man nach dem letzten Telefongespräch noch so guten Mutes war und glaubte, er habe sich wieder gefangen und denke der Zukunft optimistisch entgegen?
Klaus Reicherts Erinnerungen fallen – trotz der wiederkehrenden Eingeständnisse des Nichtmehrwissens – reich und lebendig aus, was keine Selbstverständlichkeit darstellt, da sie auch der Konfrontation mit den einst mit Paul Celan ausgetauschten Briefen abgerungen sind.
1955 stößt der 17-jährige Reichert zufällig – aber man könnte auch sagen zwangsläufig – zum ersten Mal auf Gedichte Celans. Er versteht die Gedichte zunächst nicht, doch sie faszinieren ihn, sie scheinen „wie aus einer anderen Welt“ zu sein. Danach dauert es noch drei Jahre, bis sich Reichert brieflich an Celan wendet – voller Elan und als junger Lyriker, dem es ein Anliegen ist, sich gegenüber Celan „richtig ins Bild“ zu stellen. Der weitausholende und weitschweifige Brief ist nicht nur das Zeugnis eines Interessierten und Hoffenden, sondern artikuliert gleichzeitig den kecken Wunsch, die eigene Dichtung – es gibt drei beigelegte, „fertige“ Gedichte – in der Landschaft der jungen Lyrik verorten zu wollen.
Erwähnenswert ist weniger der schwärmerische Ton der Jugend, sondern wie wenig die von Reichert evozierte Artistik der absoluten Lyrik mit den poetischen Überzeugungen Celans zu tun hat. Es verwundert daher nicht, dass es diesem, im Zuge des wenige Tage später erfolgten ersten Besuches in Paris, wichtig war, darauf pädagogisch zu reagieren. Als Ratschlag und als Warnung schreibt er Reichert in das mitgebrachte Autogrammbüchlein: „Im Sinne einer radikalen Entmythologisierung. Nix Styx!“ und betont ergänzend in einem Exemplar von Mohn und Gedächtnis das Lebendig-Konkrete: den Ort, den Tisch (an dem sie saßen und auf den er mit der Hand deutet), das Datum der gemeinsamen Begegnung.
Vielleicht darf man behaupten, dass diese erste Begegnung ein Verhältnis von Faszination und Irritation etabliert hat, zumindest eines von Verstehen-Wollen und doch nicht völlig Auslegen-Können der Gedichte Celans. Reichert vergleicht sie in den Erinnerungen mit „Wassertropfen, die erst unter dem Mikroskop zeigten, was alles in ihnen wimmelte“, sie seien „wie ein Basso ostinato, eine leise, ferne, wehmütige Melodie“, oder – angelehnt an Adornos Erläuterungen von Anton Webern – „Echos“ von Celans Existenz und Lebensverhältnissen. Das sind feinsinnige wie vorsichtige Versuche eines Verstehens, das immer begleitet wird von dem Wunsch, den Text zu öffnen, ihn einer „philologischen Erkenntnis“ zu unterziehen, ihn greifbar zu machen, wo er doch – wie Reichert an einer Stelle eingesteht – „verschlossen in einem existentiellen Sinn“ sei. Wäre aber Reichert nach der ersten Begegnung mit Gedichten Celans – und dem darin eingeschriebenen Menschlich-Konkreten – immer und immer wieder in die Nähe ihres Verfassers (Studium u. a. bei Szondi und Adorno, Lektor Celans bei Suhrkamp) getrieben worden, wenn sich die Gedichte „bloß“ öffnen und erklären, entschlüsseln und begreifen ließen? Und war die Auseinandersetzung Celans nicht ein entscheidender Anstoß auf dem Weg in die Eigenständigkeit, ins Akademische, in die englische Sprache, in das Feld der Übersetzung?
Es ist faszinierend, wie die Erinnerungen und Briefe diese Vereinbarkeit von Anziehung und Abgrenzung immer wieder veranschaulichen. Dabei spielt – was wenig verwunderlich ist – das Thema Übersetzung eine große Rolle. Die unterschiedliche Herangehensweise der beiden bedeutenden Übersetzer im Bezug auf die „Wörtlichkeit“ zeigt sich z. B. in der gemeinsamen Überlegung, wie sich eine Briefstelle von Joyce („I want to get rid of my Jewish bowels.“) übersetzen lässt. Reichert schreibt: „Ich wußte, daß in der altjüdischen Vorstellung die Eingeweide als der Sitz der Empfindungen galten, der Satz also ungefähr die Bedeutung hatte: ›Ich will mein jüdisches Mitgefühl/Mitleid loswerden.‹ Aber wie könnte ich das ›adäquat‹, das heißt im Bild bleibend, übersetzen? Celan überlegte lange, dann sagte er: ›Schreiben Sie ›mein jüdisches Geherz‹. Dazu machen Sie eine Fußnote und schreiben, daß Sie das von mir haben.‹“ Reichert, dem die Nähe von „Geherz“ zu „herzen“ als eine zu starke Veränderung des Sinns vorkam, erläutert nachträglich das von Celan Gemeinte als „Rückübersetzung in den alten Kontext“: „Sieht man sich die biblische Verwendung des Wortes für ›Eingeweide‹, me’eh, allerdings näher an, fällt auf, daß es meist analog zu lev, ›Herz‹, gebraucht ist, daß beide Begriffe in einem Kontiguitätsverhältnis zueinander stehen. In Königs hebräischem Wörterbuch ist ›Herzgegend‹ als Bedeutung von me’eh ausgewiesen.“
Doch nicht nur Begriffe bleiben in einem Verhältnis der Berührung. Reicherts Erinnerungen gewähren bedeutende Einblicke in die Lebensumstände Paul Celans, seine Stimmungen und Empfindlichkeiten, seine Feinfühligkeit und Großzügigkeit im Umgang mit anderen Menschen, obwohl er persönliche Bemerkungen und Befindlichkeiten beständig ignorierte, aber auch seine strenge und schroff-belehrende Art, wenn es darum ging, seine Dichtung zu „verteidigen“. Ebenso gewährt Reichert Einblicke in Umstände und Entwicklungen der 60er Jahre (politisch und intellektuell), in das eigene Leben als junger Mann zwischen Verlag und Universität, Errungenschaften als Vermittler und Übersetzer von Literatur, als feierbegeisterter Gastgeber künstlerischer Salons in den eigenen vier Wänden – seine Frau Monika hatte ihre Erinnerungen (auch dort ist die Rede von Celan) als Gastgeberin 2014 mit dem Titel „Auch Joyce saß am Tisch oder das Lämpchen im Eisschrank“ vorgelegt –, die begleitet werden von Überforderung und der Angst, Celan zu kränken und ihm und seiner Dichtung nicht gerecht werden zu können.
Die Erinnerungen und Briefe sind das Zeugnis für eine Begegnung voller Faszination und Irritation, Nähe und Ferne, Verstehenwollen und Nichtverstehenkönnen – dies ist die Herzgegend, die sich nun nachlesen lässt.
Letzte Änderung: 27.12.2021 | Erstellt am: 19.05.2021
Klaus Reichert Paul Celan. Erinnerungen und Briefe
Gebunden, 297 Seiten
ISBN: 978-3-518-42926-6
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
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