Herz der Finsternis & Blick zurück nach vorn

Herz der Finsternis & Blick zurück nach vorn

ZWEI POLITISCHE BETRACHTUNGEN
Before The Dawn | © Thomas Draschan

Mit scharfem Blick auf das globale Krisengeschehen verbindet Hans Christoph Buch in seinen zwei politischen Betrachtungen „Herz der Finsternis“ und „Blick zurück nach vorn“ historische Tiefenschärfe mit aktueller Zeitkritik. Von den vergessenen Kriegen im Osten des Kongo bis zur ideologischen Entleerung internationaler Diplomatie – eine fesselnde, schonungslose Analyse über Macht, Gewalt und das Versagen der Weltgemeinschaft.

HERZ DER FINSTERNIS

Der Gazastreifen und die Ukraine bzw. das, was nach drei Jahren „Spezialoperation“ von beiden übrigblieb, sind die neuralgischsten Punkte der Gegenwart. Aber es gibt noch andere Kriege, die unter der Wahrnehmungsschwelle der Medien liegen, weil selbst abgebrühte Reporter sich nicht mehr dorthin trauen: Darfur zum Beispiel, wo Jandjawid genannte Killerkommandos aus Sudan den Völkermord proben, oder Haiti, einst ein Urlaubsparadies, das durch von Oligarchen finanzierten Bandenterror zur No-Go-Area wurde. Doch das ist noch nicht alles: Der Osten der Kongorepublik, von Bismarck auf der Berliner Afrikakonferenz Belgiens König Leopold zugeschanzt, verzeichnete zwei Millionen Toten infolge des Kautschuk-Booms – Joseph Conrads Novelle „Herz der Finsternis“ erzählt davon. Die Kiwu- und Ituri-Provinz, reich an seltenen Erden, die von Kindersoldaten abgebaut und illegal nach Ruanda exportiert werden, entzieht sich der Kontrolle der Zentralregierung im fernen Kinshasa und ist de facto unter der Kontrolle von Ruandas starkem Mann Paul Kagame. Der lässt sich alle Jubeljahre wiederwählen mit über 90 Prozent und finanziert mit dem Erlös des Coltan-Exports seine schlagkräftige Armee, die im Bündnis mit von Kigali gesteuerten Milizen die Region der Großen Seen destabilisiert. Die unter wechselnden Namen auftretende Soldateska – vom Rassemblement Congolais pour la Démocratie bis zu M 23 – ist die Speerspitze von Kagames Militärregime, das als Preußen Afrikas die Nachbarn das Fürchten lehrt und derzeit ohne nennenswerten Widerstand gen Kinshasa marschiert. Die Armee des im Chaos versinkenden Kongostaats, schlecht ausgebildet und unterbezahlt, hat den bis an die Zähne bewaffneten Tutsi-Milizen nichts entgegenzusetzen, obwohl das kleine Ruanda nur ein Appendix der Kongorepublik ist, deren Geschick es seit dem Sturz des Diktators Mobutu mitbestimmt.

Analog zu den „dark and bloody grounds“ des östlichen Mitteleuropa sind Menschen- und Völkerrechte hier seit jeher außer Kraft gesetzt, Schauplatz einer historischen Tragödie, in der es nur Verlierer gibt. Angefangen mit dem Genozid von 1994, bei dem die Weltgemeinschaft tatenlos zusah, wie die unterdrückte Hutu-Mehrheit Ruandas Tutsi-Elite abschlachtete, bis eine von Kagame geführte Befreiungsarmee, aus Uganda kommend, den Massenmord beendete. Aber auch das stimmt so nicht, das Töten ging weiter mit umgekehrten Vorzeichen, und ich wurde zufällig Zeuge, wie die Tutsi-Armee blutige Rache nahm an im Lager Kibeho eingepferchten Frauen, Kindern und Greisen. Nicht Hunderte, nein: Tausende wehrlose Zivilisten wurden grausam ermordet im Beisein humanitärer Helfer und einiger weniger Journalisten, zu denen ich gehörte. An diesem Tag, dem 22. April 1995, verlor Kagames angebliche Versöhnungspolitik ihre Glaubwürdigkeit: Wer heute in Ruanda ethnische Begriffe wie Hutu und Tutsi verwendet, gilt als „génocidaire“ und Verbreiter von Gräuelpropaganda, als sei durch Umbenennungen das Problem aus der Welt geschafft. Das Trauma des Völkermords sitzt tief, und alles, was seither geschah, vom Sturz Mobutus über das Installieren Kagame höriger Marionettenregimes bis zur Einnahme der Grenzstädte Goma und Bukavu durch die M 23-Miliz wird von Betroffenen, Opfern wie Tätern, gemessen am Supergau 1994, obwohl die Destabilisierung Ostkongos danach mehr Menschen tötete als der ruandische Genozid: 4 Millionen laut International Rescue Comittee gegenüber 800.000 in Ruanda. Doch das Aufrechnen von Todesziffern ist obszön, und es genügt, festzuhalten, dass in den Hotels am Kiwusee, wo bis vor kurzem Touristen badeten, jetzt Leichen angeschwemmt werden.

Paul Kagame ist das Lieblingskind deutscher Entwicklungshilfe, 96 Millionen Euro zuletzt, und wie in anderen Fällen verging allzu viel Zeit, ehe der Irrtum aktenkundig und das Auswärtige Amt in Kigali vorstellig wurde. Kagame herrscht ununterbrochen seit 1995 und hat nicht nur Vertreter der Hutu-Mehrheit, sondern auch Angehörige der Tutsi-Elite, die sein Regime kritisierten oder gegen ihn kandidierten, entmachtet und kaltgestellt: Nicht bloß im Inland, wo der Gründer der Grünen Partei, enthauptet aufgefunden wurde, auch durch politische Morde im Ausland, die, wie nicht anders zu erwarten, nie aufgeklärt wurden. Statt die von Massakern heimgesuchte Region der Großen Seen zu befrieden, hat die Internationale Gemeinschaft, allen voran Deutschland, aus schlechtem Gewissen und naivem Wunschdenken heraus, lieber weggeschaut und die Expansionspläne des Warlords unterstützt. Als ich Bundespräsident Köhler kurz vor seinem Rücktritt darauf ansprach, sagte er, Ruandas Parlament habe einen höheren Frauenanteil als anderswo in Afrika – deshalb sei dort alles in Ordnung!

BLICK ZURÜCK NACH VORN

„Cuius regio, eius religio“. Frei übersetzt: „Wer die Macht hat, entscheidet über die Religion“ – nicht umgekehrt. Nach dieser Devise endete der Glaubenskrieg, der nicht nur dreißig, sondern hundert Jahre lang – von den Bauernkriegen bis zum westfälischen Frieden – Europa verwüstet und entvölkert hatte. Der in Münster vereinbarte Frieden war ein Paradigmenwechsel: Nicht über die Bibelauslegung streitende Theologen, die blutige Kriege vom Zaun brachen, Juristen kamen jetzt zum Zuge und legten die Grenzen der jeweiligen Territorien und die Trennlinien zwischen Katholiken und Protestanten fest. Dass Letztere – Calvinisten, Zwinglianer, Wiedertäufer und Lutheraner – sich untereinander bekämpften, steht auf einem anderen Blatt, was Preußen und England nicht daran hinderte, aus Frankreich vertriebene Hugenotten und politisch Verfolgte aufzunehmen, um den Wohlstand ihrer Gastländer zu mehren.

Ein Abkömmling von Hugenotten war Theodor Fontane, literarisch wie auch politisch ein Realist: Er lobte die Ambiguität, also Mehrdeutigkeit diplomatischer Verträge, die anders als Richtersprüche, verfeindeten Parteien erlaubten, das Gesicht zu wahren, so lange, bis die Stunde der Wahrheit schlug und der falsche Konsens zerbrach. Der in Minsk ausgehandelte Vertrag zwischen Russland und der Ukraine war ein Pyrrhussieg, weil er den Handlungsspielraum Kiews unnötig einengte, aber Putin ermöglichte, das von Deutschland und Frankreich vermittelte Abkommen zu unterlaufen und die Aggression gegen die Ukraine zu verstetigen und zu verstärken: Von der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim bis zur Kriegserklärung im Februar 2022, in der nur von einer „Spezialoperation“ die Rede ist – zu schweigen von Menschenrechtsverletzungen in Butscha und anderswo.

Wer die Vergangenheit nicht versteht, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen, schrieb der amerikanische Philosoph Santayana und meinte damit nicht die Wiederkehr des Gleichen, sondern die Ungleichheit des Ähnlichen. Die Geschichte wiederholt sich nicht – oder doch? Das zwanzigste Jahrhundert war die Epoche der Ideologien, in deren Namen, wie vordem im Namen des Glaubens, Völker abgeschlachtet und ausgerottet wurden: Stichwort Gulag und Schoa, Ruanda und Kambodscha, um nur diese Länder zu nennen. Federführend war damals Nixons Chefdiplomat Henry Kissinger, dem das Kunststück gelang, Washington an Peking anzunähern und den festgefahrenen Vietnamkrieg zu beenden. Im Nachhinein, bei Licht betrachtet, fällt die Bilanz negativ aus: China ist wie einst unter Mao Hauptfeind und Herausforderer der USA, und statt des geordneten Rückzugs ähnelte der Fall von Saigon dem Chaos in Kabul beim Einzug der Taliban: Flüchtende, die sich an startende Helikopter klammerten und wie Steine vom Himmel fielen usf.

Damit nicht genug: Henry Kissinger hat auch den Militärputsch in Chile orchestriert und den Weg geebnet für den Völkermord der Roten Khmer nach dem durch den US-Einmarsch ausgelösten Sturz des Königs Sihanuk. Die Rolle eines von allen respektierten Spitzendiplomaten ist seitdem vakant, weit und breit niemand in Sicht, der Kissingers Platz einnehmen kann oder will. Theologen und Ideologen, Juristen und Diplomaten haben ihr Pulver verschossen: An ihre Stelle tritt eine neue, selbsternannte Elite, die unaufhaltsam, wie es scheint, ins Rampenlicht drängt und noch weniger qualifiziert ist, Frieden zu stiften, als ihre Vorläufer. Gemeint sind Oligarchen, die in wechselnden Allianzen ihren Boss umschmeicheln, der die Puppen tanzen und den einen oder anderen in der Versenkung verschwinden lässt. Hofschranzen, die mit Petrodollars zu Milliardären wurden, gibt es nicht nur im Kreml – ihre westlichen Pendants sind Elon Musk, Mark Zuckerberg, Jeff Besos oder wie sie alle heißen, und der Zauberlehrling Donald Trump wird die Geister, die er rief, nicht mehr los. Selbst in Amerikas Armenhaus Haiti wird der Terror krimineller Banden, der die Fundamente des Staats untergräbt, von Oligarchen finanziert: Nachfahren libanesischer Händler, die vor religiöser Verfolgung flohen und auch im Nachbarland Santo Domingo den Ton angeben. So schließt sich der Kreis, aber das gehört in ein anderes Kapitel dieser unendlichen Geschichte.

Letzte Änderung: 27.06.2025  |  Erstellt am: 27.06.2025

divider

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Teilen Sie ihn mit Ihren Freund:innen:

divider

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen