Herr und Diener
Die Kluft zwischen Arm und Reich schafft permanent Probleme und sozialen Unfrieden. Das ist uns nicht fremd. Woanders, wo sich eine Ständegesellschaft und Hierarchien in Recht, Gesetz und Bildung damit verbinden, wie in Pakistan, sehen die Folgen auch anders aus. Mirza Athar Baig schildert in seinem Roman „Von null bis eins“ einen archaischen Konflikt im digitalen Zeitalter. Bettina Robotka empfiehlt das Buch.
Ein lebendiges Bild einer Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne
Mit dem zweiten Roman Mirza Athar Baig’s „Von null bis eins“, der in Pakistan zuerst 2009 erschienen ist, wird dem deutschsprachigem Publikum ein weiteres Beispiel moderner pakistanischer Prosa in die Hand gegeben. Der Unterschied zu anderen, bereits erschienenen pakistanischen Romanen, wie zum Beispiel Omar Shahid Hamid’s „Verrat“ (Draupadi Verlag 2021), besteht jedoch darin, dass Baigs Roman in Urdu verfasst wurde, der Nationalsprache Pakistans. In Englisch verfasste Literatur ist mittlerer Weile ziemlich verbreitet in Pakistan, was auch damit zusammenhängt, dass pakistanische Autoren in Großbritannien leben oder gelebt haben und Englisch unter gebildeten Pakistanern zur Umgangssprache geworden ist. Anders ist es mit Urdu, die zwar als Nationalsprache Pakistans gilt, die aber oft eher als Umgangssprache vermischt mit Anglizismen oder regionalsprachlichen Elementen verwendet wird, da nur weniger als 10% der Bevölkerung Urdu als Muttersprache sprechen. Nichtsdestotrotz ist Urdu die bedeutendste Sprache der Printmedien in Pakistan und die wichtigste Literatursprache des Landes. Eine Übersetzung aus dem Urdu wie die vorliegende ist daher eine wichtige Ergänzung der in deutscher Sprache vorliegenden Literatur aus Pakistan.
Die Übersetzerin von Baig’s Roman, Frau Oesterheld, ist durch ihre langjährige Tätigkeit als Urdu-Lektorin am Südasieninstitut der Universität Heidelberg und bereits vorangegangene Übersetzungen von Prosa und Lyrik aus dem Urdu bestens qualifiziert für diese Aufgabe und vielleicht dem einen oder anderen Leser bereits bekannt. In „Von null bis eins“ hat Frau Oesterheld nun ein weiteres Zeugnis für ihre meisterhafte Beherrschung dieser Sprache abgelegt. Ihre sehr einfühlsame Übersetzung dieses Romans ermöglicht es dem deutschsprachigen Publikum, das nicht ganz einfache Milieu, in dem die Handlung spielt, und sogar Teile des enthaltenen (vom Deutschen doch sehr verschiedenen) Humor nachzuempfinden.
Die Handlung des Romans spielt im dörflichen wie auch städtischen Umfeld der Provinz Pandschab (Punjab). Es ist gewissermaßen eine Autobiographie der Hauptperson Zakaullah, dem Sohn des Gutsverwalters (munshi) von Hayat Salar, dem Vater seines Schulfreundes Faizan. Beide jungen Leute verlassen das Dorf und gehen gemeinsam in die Provinzhauptstadt Lahore, um zu studieren. Während Faizan Geschichte studiert, wendet sich Zakaullah – wie der Romantitel schon andeutet – dem IT-Studium zu. Obwohl er sich nur ein eher mittelmäßiges College leisten kann, lässt ihn seine Begabung zu einem hervorragendem Computerspezialisten werden. Das reicht jedoch nicht aus, um das soziale Gefälle zwischen Herr (Faizan) und Diener (Zakaullah) zu überwinden. In der Stadt lernt er nicht nur das urbane Leben kennen, sondern auch die weitverzweigte Verwandtschaft seines Freundes Faizan – den Familienclan der Salars, die zum großen Teil in Lahore wohnen, ohne jedoch die Verbindung zu ihrer dörflichen Herkunft aufgegeben zu haben. Bei einer Geburtstagsfeier der Salars lernt Zaka die junge Französin Zulaikha mit pakistanischen Wurzeln kennen, für die sich auch die Salars interessieren. Zulaikha zieht Zaka wegen seines wenig prätentiösen Verhaltens den Salars vor, wodurch die Salars sich beleidigt fühlen und Zaka, der ja nur der Sohn eines Angestellten ist, eine Lektion erteilen wollen. Zakaullah wird auf offener Straße entführt und für mehrere Wochen in einem Sägewerk festgehalten, wo er Computer reparieren muss und verschiedenen psychologischen Foltern unterzogen wird. Diese traumatische Erfahrung bringt Zakaullah dazu, das Netzwerk der Salare entlarven zu wollen und deren Machenschaften in einem Videospiel darzustellen. Außerdem distanziert er sich von seinem Freund Faizan, den er dazu bringt, sich gegen die Salar Familie zu wenden. Zaka bleibt mit Zulaikha, die inzwischen nach Paris zurückgekehrt ist, per Computer in Verbindung, der Unterschied zwischen den beiden Lebenswelten wird aber immer deutlicher. Um sich von dem Trauma der Entführung zu erholen, geht Zaka ins Dorf zurück und kommt bei seinem Bruder, einem falschen Heiligen Sanaullah, unter. Währenddessen besucht Zaka seinen Vater, den Gutsverwalter, und beide übertragen die Jahrhunderte alten Dokumente des Landebesitzes und Verwaltungsvorgänge in elektronische Dateien, die Zaka auf CDs und verschiedenen Servern speichert. Er macht das Material Faizan zugänglich, der versucht, die Machenschaften seiner Familie damit öffentlich anzuprangern. Die Salare verhindern dies und vernichten alle CDs, können jedoch an die im Cyberspace platzierten Dateien nicht heran, sodass Faizan diese später als Buch veröffentlichen wird. Zaki hingegen ist entsetzt über die Entschlossenheit Faizans, da er die Erinnerung an seine Entführung und die psychische Folter nicht vergessen kann. Er geht zurück aufs Dorf, wo er mithilfe seines Bruders eine Computerschule einrichtet und bäckt von nun an „kleine Brötchen“.
„Von null bis eins. Abenteuer eines Gutsverwalters im Cyberspace“ ist der zweite Roman des Autors Mirza Athar Baig. Baig hat an der Australian National University in postkolonialer Theorie promoviert und hat danach viele Jahre Philosophie an der Government College University Lahore unterrichtet. Sein erster Roman erschien 2006. Mit „Von null bis eins“ präsentiert er nun einen weiteren Roman, der ein vielschichtiges und beeindruckendes Gesellschaftsbild des heutigen Pakistan vermittelt.
Vormoderne soziale Strukturen wie Familienclans, die auf feudalen Landbesitzverhältnissen beruhen, sind ein wesentlicher Punkt im Roman. Auch das Nebeneinander von Tradition und moderner Technologie, das doch die traditionellen sozialen Grenzen nur sehr langsam verändert, wird dem Leser vor Augen geführt. Die Gegenwart von Gewalt und Entführung, die der schwache pakistanische Staat nicht verhindern kann, sind keine Ausnahme in der Realität. Ein weiteres interessantes Detail ist die Beschreibung des Dorflebens und des „falschen Heiligen“ Sanaullah.
Die Dorfbevölkerung besteht darauf, ihn als Heiligen zu verehren und Hilfe von ihm zu erwarten, obwohl er am Eingang seines Campus ein Schild aufgestellt hat, worauf er sich als falschen Heiligen outet! Aberglaube und die Verehrung von Heiligen, von denen Intervention bei Gott für die Lösung täglicher Probleme erwartet wird, ist durchaus ein wirklichkeitsgetreues Bild vieler Menschen in Pakistan. Im Roman sorgt diese Darstellung für komische Momente. Ein weiterer Aspekt, der beschrieben wird, ist das Verhältnis von Zakaullah zu den Frauengestalten. Zulaikha, die im Westen geboren und aufgewachsen ist, bleibt unerreichbar für ihn, während er die traditionelle Gamo, die er bei seinem Bruder im Dorf kennengelernt hat, doch nicht mehr akzeptieren kann.Der 400-seitige Roman mit seinen zahlreichen Schauplätzen, Ereignissen und Figuren zeichnet ein lebendiges Bild einer Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne. Die umfangreichen Ereignisse fordern dem deutschen Leser, der über wenig Hintergrundwissen über die pakistanische Gesellschaft verfügt, jedoch allerhand ab. Der Erzählstil des Autors springt zeitlich zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her, Reportage-ähnliche Gesprächsprotokolle verleihen der Geschichte Authentizität. Der Ich-Erzähler Zakaullah scheint selbst verwirrt zu sein vom Ablauf der Ereignisse, was es von Zeit zu Zeit für den Leser schwierig macht, diese Abfolge nachzuvollziehen. Das ist sicherlich ein Problem für das deutsche Publikum, in Pakistan haben mit dem Alltagsleben vertraute Leser und Urdu-Kenner sicher keine Schwierigkeiten. Das zeigt auch der Erfolg, den dieser Roman in Pakistan zu verzeichnen hat. In Anbetracht der spärlichen authentischen Beschreibungen der pakistanischen und südasiatischen Gesellschaft bietet „Von null bis eins“ einen seltenen und vergnüglichen Einblick in dieses neue Feld. Ein wenig Durchhaltevermögen in Anbetracht der 400 Seiten wird aber schon erwartet.
Bettina Robotka befasst sich mit Geschichte und Gesellschaft Pakistans. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Rolle des Islams. Sie hat zu Demokratie in Pakistan sowie zur Jammat-i Islami Pakistan und zum Kaschmir-Konflikt publiziert. Dr. Robotka studierte an der Staatlichen Shdanov-Universität Leningrad „Geschichte Indiens” und promovierte 1983 zur nationalen Bewegung in Nordindien im 19.und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Letzte Änderung: 13.07.2022 | Erstellt am: 13.07.2022
Mirza Athar Baig Von null bis eins
Abenteuer eines Gutsverwalters im Cyberspace
Aus dem Urdu übersetzt von Christina Oesterheld
397 S., brosch.
ISBN-13: 9783945191613
Draupadi Verlag, Heidelberg 2022
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