„Unglaublich und doch wahr“ – Wann stößt der Glaube an das Unglaubliche? Und warum kann das Wahre unwahrscheinlich sein? Fragen, die im Alltag gewöhnlich nicht gestellt werden, können an die Handlung eines Romans, die die Phantasie aus dem Alltag hebt, schon gar nicht gerichtet werden. Otto A. Böhmer hat in Anthony Doerrs „Wolkenkuckucksland“ viele Antworten auf Fragen gefunden, die niemand gestellt hat.
Die Sehnsuchtsschübe, an die der Mensch gerät, sind hartnäckig und ortlos; sie brauchen, speziell wenn sie zwischendurch zur Ruhe kommen, keine persönliche Beglaubigung mehr, sondern kreisen in sich selbst, was etwas Genügendes hat, bis es weitergeht; das klamme Begehren drängt zum Aufbruch, auch wenn es Bedenken gibt, die nicht mit sich reden lassen. Ein willkommener Nebeneffekt, der zunächst nicht weiter auffällt, dann aber ins Zudringliche reicht, wird bei Gelegenheit im Risiko verbucht: Man hat sich in Gefahr begeben, um auf der Strecke zu bleiben und, auch das kann verführerisch sein, sich zu verlieren. Über Sehnsüchte zu schreiben ist indes schwieriger, als man meint; im eigenen Bewußtseinsnebel kommt es einem so vor, als habe man gar nicht so recht gelebt. Wen interessiert’s, auf irdischem Terrain hat man abgewirtschaftet, auch das kein unangenehmer Zustand, der sogar noch zu Höherem drängt.
Von den Sehnsüchten des Menschen, zeitlos gedacht, erzählt Wolkenkuckucksland, der neue Roman des noch immer bemerkenswert großartigen amerikanischen Autors Anthony Doerr (Jg. 1973). Er versucht sich darin an einer die Jahrhunderte umgreifenden und überwölbenden Geschichte, in der die Jungen mehr zu sagen haben als Alte, die ihre eigene Erfahrungsberichterstattung gern überschätzen. Wolkenkuckucksland findet, soweit wir wissen, erstmalig in einer Komödie des griechischen Dichters Aristophanes Erwähnung, wo es als Wunschvorstellung in Dienst genommen wird, der die Menschen nachhängen, wenn es über sie kommt. Der Ort, den sie, je nach Lust und Laune, damit verbinden, kann nur zeit- und raumlos sein; die gewöhnliche Sehnsucht hält sich, so scheint es, an eine Zeile neueren Liedguts, die da lautet: „Über den Wolken muß die Freiheit wohl grenzenlos sein“. Insgesamt sind es in Wolkenkuckucksland, inmitten reichhaltiger Schilderungen, die es nicht bis ins reale Nirgendwo schaffen, eigentlich nur fünf Personen, mit denen wir es, wiederkehrend, zu tun bekommen: Anna lebt im Konstantinopel des 15. Jahrhunderts und wird, ebenso wie Omeir, ein gutmütiger Junge, Zeuge der Belagerung durch die Sarazenen. In die unmittelbare Gegenwart geht es, als Seymour auftaucht, der in Doerrs Heimatstaat Idaho einen Anschlag auf eine an sich harmlose Bibliothek plant, die nun herhalten soll, um, einmal mehr, auf die irreparable Umweltzerstörung aufmerksam zu machen, der wir, ungeachtet aller bisher paraphierten Abkommen, ausgesetzt bleiben. In ebendieser Bibliothek probt der 86jährige Kriegsveteran Zeno Ninis eine schon länger geplante Schüleraufführung von Wolkenkuckucksland, die gut gemeint ist, aber vermutlich auch nichts mehr bringt. Schließlich gibt es aber doch noch den großen und nicht abgesicherten Sprung in eine ferne Zukunft, in deren Mittelpunkt das Mädchen Konstance steht, das in einem „Generationenraumschiff“ aufwächst. Dort geht es vergleichsweise friedlich zu, bis eine Seuche ausbricht, die alle außer Konstance dahinrafft. Wie all das, unterhalb des gewöhnlichen Zeitablaufs, zusammengeführt wird, ist kunstvoll komponiert und lässt staunen, macht aber auch, ohne den Kreisgang der Bewunderung zu verlassen, ratlos.
Wolkenkuckucksland ist nicht unbedingt Doerrs bestes Buch, was der Autor, dem wir beeindruckende Werke wie Winklers Traum vom Wasser (2005, 2016), Der Muschelsammler (2007) und Alles Licht das wir nicht sehen (2014) verdanken, vermutlich anders sieht. In einem Interview spricht er, nicht ohne Stolz, davon, dass er „mit dem Leser spiele“, eine Formulierung, die Unbehagen weckt, denn der Leser, das unbekannt-launische Wesen, will womöglich gar nicht mitspielen, sondern sich, nach guter alter Sitte, in einen Erzählstrom einhausen, der rücksichtsvoll mit ihm umgeht, spärliche Freiheiten lässt und Pausen zu schätzen weiß. Wolkenkuckucksland macht da nicht recht mit; es ist vergleichsweise streng getaktet, obwohl das große Panorama, dem Doerr zuarbeitet, eigentlich auch in kleineren Größen zu haben wäre. Die Wahrheit nämlich, der Sehnsucht anverwandelt, kennt noch immer die unmittelbare Überzeugungskraft, an der man nicht mehr mit nachgestellten Interpretationen übergriffig werden muß: „Sie blinzelt, der Planet dreht sich ein Stückchen weiter. Hinter ihrem kleinen Garten, hinter der Stadt verwirbelt ein Windstoß die Wellenkämme. Der Junge hebt den Zeigefinger und stößt damit auf die Seite. Konstance räuspert sich. ‘Und die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist so lächerlich, so unglaublich, dass du nie auch nur ein Wort davon glauben wirst, und doch, ‘sie stupst ihm gegen die Nasenspitze,’ ist sie wahr.’“Weniger kann mehr sein, gerade im Areal der Sehnsucht. Man sollte neugierig bleiben „auf die Stimmen, die da kommen sollen“ (Rilke), aber bitte nicht übertreiben, denn dann könnte es ganz schnell wieder vorbei sein. „Ach, ich dachte schon vor vielen Jahren“, befand Rilkes Kollege Clemens Brentano, „als ich noch unter den Geschwistern lebte, oft einsam zwischen alten Fässern auf dem Speicher sitzend, ach, was hätten wir doch alle werden können, so gut, so fromm, so hilfreich und trostreich, für einander und ein Heil allen Nebenmenschen; oh, wir hätten wohl heilend und heilig werden können, wir hätten wohl alles dazu, und was ist aus uns geworden? (…) O mein Kind! Wir hatten nichts genährt als die Phantasie, und sie hatte uns doch schon wieder aufgefressen.“
Der Beitrag erschien zuerst in der Wiener Zeitung
Letzte Änderung: 20.03.2022 | Erstellt am: 20.03.2022
Anthony Doerr Wolkenkuckucksland
Roman
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
532 S., geb.
ISBN-13: 9783406774317
C.H. Beck, München 2021,
Kommentare
Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.