Fundgrube der lusophonen Literatur
Die 64. Ausgabe der Zeitschrift »metamorphosen« widmet sich der portugiesischen Literatur, sie hebt deren globale Vielfalt hervor, die solche Länder ausmachen wie Portugal, Brasilien, Angola und Mosambik. Im Fokus dieser Präsentation stehen vor allem unveröffentlichte Texte und Übersetzungen ins Deutsche, und es werden bekannte wie auch neue Stimmen der lusophonen Welt vorgestellt. Ferdinand Blume-Werry liefert mit seiner Rezension zu dieser Ausgabe einen wertvollen Überblick über die moderne portugiesischsprachige Literatur.
Zur Frankfurter Buchmesse 2025 ist die 64. Ausgabe der bereits 1991 ins Leben gerufenen »metamorphosen« erschienen. Schwerpunkt der immer wieder lesenswerten Zeitschrift für Literatur ist diesmal die portugiesischsprachige Literatur, nachdem die beiden unmittelbar vorausgegangenen Ausgaben der italienischen und der griechischen Literatur gewidmet waren. Eindrucksvoll wird so die Vielfalt der Sprachen und Literaturen Europas gewürdigt, wobei gerade die lusophone Welt deutlich über die europäischen Grenzen hinausweist, ist doch das Portugiesische eine Sprache, die in unterschiedlichsten Ländern gesprochen wird, und dort auch eine reichhaltige literarische Produktion hervorbringt.
Neben dem Mutterland Portugal mit rund zehn Millionen Einwohnern wird Portugiesisch in seinen verschiedenen Ausprägungen inzwischen von mehr als 250 Millionen Menschen gesprochen, vor allem in Brasilien, aber auch in den ehemaligen afrikanischen Kolonien wie Angola oder Mosambik, bis hin zu den damaligen portugiesischen Handelsstützpunkten Macau und Osttimor in Asien. Dabei ist die Verbreitung der Sprache letztlich ein koloniales Erbe und damit ein Politikum, was nicht außer Acht gelassen werden sollte. Die in die aktuelle Ausgabe aufgenommene Auswahl einiger Gedichte des mosambikanischen Autors José Craveirinha legt davon Zeugnis ab. Sein 1964, elf Jahre vor Erlangung der Unabhängigkeit des Landes, erschienener erster Lyrikband, in dem er die Kolonialherrschaft anprangert, wurde damals beschlagnahmt, und der Autor sogar inhaftiert. »Jeder Dichter in Gefangenschaft / ist ein Flüchtling frei im Universum / …« beginnt eines der Gedichte in der Übersetzung von Michael Kegler.
Die aktuelle Ausgabe legt dabei einen Schwerpunkt auf unveröffentlichte Texte bzw. Übersetzungen ins Deutsche. Auch kommen vorwiegend hierzulande noch unbekanntere Autorinnen und Autoren zu Wort. Greift man nun lesend in die Schatztruhe der ausgewählten Texte, so fällt zunächst auf, dass die Gedichte zweisprachig wiedergegeben werden, die Prosatexte hingegen nur in der deutschen Übersetzung, sofern sie nicht ursprachlich deutsche Texte sind, wie etwa die in einem Lissabonner Café spielende Erzählung von Michael Schwartz, in die gekonnt Gedichtzeilen von Florbela Espanca montiert werden – großartig! Am Ende dieser Erzählung scheint, nicht ganz unvermittelt, Fernando Pessoa auf. Von ihm wurden keine Texte in die Zeitschrift aufgenommen, jedoch schwebt sein Geist in gewisser Weise über allem, nicht zuletzt da das Motto der aktuellen »metamorphosen« — »Meine Heimat ist die portugiesische Sprache« — aus seinem Buch der Unruhe herrührt. Auch Luís de Camões, der Dichter der Lusiaden, ist nur mit einem weniger bekannten Sonett vertreten; übersetzt von dem Romanisten Rafael Arnold, dem Herausgeber der im Elfenbein Verlag erschienenen Werke des Renaissancedichters Camões, nach dem die portugiesischen Kulturinstitute (Instituto Camões) benannt sind.
Schon immer zeichnet sich die portugiesischsprachige Literatur durch ihre Lebendigkeit und Vielseitigkeit aus. »Das Schreiben aber verlangt Einsamkeiten und Einöden / Und Dinge die man sieht als sähe man etwas anderes« lauten zwei Zeilen eines Gedichts von Sophia de Mello Breyner Andresen. Auch wenn sie den Text mit Blick auf Lord Byron während seines Aufenthalts in Venedig schrieb, so gelten diese Worte doch für jeden Dichter. In gewisser Hinsicht gilt die Aussage, in etwas Bestimmtem etwas anderes zu sehen, sogar für die Sprache selbst. Das Unbekannte ins Visier zu nehmen, verlangt nach Bezeichnung. Gerade das Portugiesische ist geprägt durch einen überbordend reichen Wortschatz, was auch dem Kontakt mit anderen Kulturen geschuldet ist, aus deren Sprachen zahlreiche Wörter direkt ins Portugiesische übernommen wurden. Lehnwörter, die über Jahrhunderte als Bereicherung empfunden und mit Selbstverständlichkeit in den Wortschatz integriert wurden. Ein Beispiel: Als vor inzwischen vierzig Jahren José Saramagos politsatirischer Roman »Das steinerne Floß« (A jangada de pedra) erschien, rätselte kein Sprecher des Portugiesischen ernsthaft über das Wort ›jangada‹, worunter ein floßähnlicher Bootstyp verstanden wird. In den übrigen romanischen Sprachen werden zur Bezeichnung eines Floßes in der Regel andere Wörter verwendet. Etymologisch betrachtet stammt das Wort aus der im südindischen Kerala gesprochenen dravidischen Sprache Malayalam, wo es ›cangāttam‹ heißt. Portugiesische Seefahrer dürften es in der Folge ihrer Entdeckungen im 16. Jahrhundert übernommen haben, bevor es mit der Fracht ihrer Sprache in Brasilien ankam, um dort eine ähnliche Bootsform zu bezeichnen, die noch heute, wenn auch weiterentwickelt, im Nordosten Brasiliens vorwiegend zum Fischfang in Gebrauch ist.
Gerne lese ich weiter und stoße auf Gedichte der afrobrasilianischen Schriftstellerin Conceição Evaristo, von der ich bisher noch nichts gelesen hatte. Schnell wird deutlich, dass in diesen Texten eine selbstbewusste Frau spricht, die sich nicht scheut, eines ihrer Gedichte »Von der Revolte der Verse« zu betiteln. Und in einem anderen lese ich »… es gibt versunkene Welten / wo nur die Stille / der Dichtung eindringt.« Evaristo schlägt einen kämpferischen Ton an, der so erfrischend ist, dass man sich des Gedankens kaum erwehren kann, er könne zu einer literarischen Erneuerung führen. Indem die Autorin Erlebtes unverblümt beschreibt, gelingt es ihr, die Sprache selbst zur erlebten Dinghaftigkeit werden zu lassen. Etwa wenn sie von der »Nacktheit / unseres schreienden Verses, / der frei sein will« schreibt. Dahinter steht eine klare poetologische Haltung, die sie mit dem Kunstwort ›escrevivência‹ bezeichnet, einer Kontraktion der beiden Wörter ›escrever‹ (Schreiben) und ›vivência‹ (Erlebnis).
Völlig anders hingegen wirken die Texte des 1977 geborenen Brasilianers Ricardo Domeneck, der auch als bildender Künstler arbeitet. Oder auch die Verse der Angolanerin Luísa Coelho, deren Inhalte aus der rauen Alltagswirklichkeit geschöpft »barfuß durch die schmutzigen Abwasserrinnen zu laufen« scheinen. Beide leben inzwischen in Berlin. Mit einem unterschwelligen Ton der Anklage sprechen ihre körperbetonten Gedichte aus, was in dieser Radikalität und Offenheit die portugiesischsprachige Lyrik eben nur zu leisten vermag, wenn sie ihre Prägung aus den Erfahrungen jenseits des europäischen Mutterlandes bezieht. Die Kraft der Literatur, unsere Augen zu öffnen, auch für die Schattenseiten über »Portugals strahlende Größe«, um einen Romantitel von Lobo Antunes ins Spiel zu bringen, ist es doch, die uns anhält, vergangenes Leid und Machtmissbrauch in ein neues Miteinander zu verwandeln. Vor aller Politik ist dazu die Kunst in der Lage, da sie den Finger ihrer Sprache in die Wunde legt, statt sie sprachlich zu umschiffen. — Luísa Coelho, die übrigens seit 2010 viele Jahre das Instituto Camões in Berlin leitete, um es u.a. als Begegnungsstätte von Autoren aus der lusophonen Welt weiter auszubauen, ist für ihr Engagement um die portugiesische Sprache und Literatur zu danken. Ebenso wie den beiden Herausgebern der aktuellen »metamorphosen« für ihre anregende Textauswahl. Immerhin kommen vierzig Autorinnen und Autoren samt deren Übersetzerinnen und Übersetzern zu Wort.
Nicht unerwähnt bleiben sollte die Gestaltung der »metamorphosen«, die — nomen est omen — im Laufe ihrer Existenz mehrere Wandlungen erfahren hat. Hervorzuheben in der aktuellen Ausgabe ist der Abdruck stiller, ganzseitiger Schwarzweißfotos, denen man ihre analoge Herstellung ansieht. In kontrastreichen Bildausschnitten führt uns der Fotograf Martin Kulinna in eine Welt, von der kaum zu glauben ist, dass es sie noch gibt. Doch wer Portugal kennt, weiß, dass in diesem Land Tradition und Zukunft eng beieinander liegen. Seine Literatur jedenfalls beweist das eindrücklich.
metamorphosen, Zeitschrift für Literatur, Nr. 64 (Lusophonie)
Hg. Ingo Držečnik u. Roman Pliske
Elfenbein Verlag, Berlin 2025, 160 Seiten, 10,- €
ISBN 978-3-96160-902-4 / ISSN 0941-3138
Letzte Änderung: 12.12.2025 | Erstellt am: 12.12.2025
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