„Fisch oder Vogel. Es ist immer / ein Ding der Unmöglichkeit“ heißt es im Sammelband „Frauen | Lyrik“, den Anna Bers herausgegeben hat. Das Erstaunliche an diesem Kompendium ist, dass es die Unmöglichkeit der Zuordnung ernst nimmt. Arno Widmann hat mit großer Freude in dem Buch gelesen, das den Widerspruch ins Bewusstsein hebt. Obwohl: Es gibt ja auch fliegende Fische.
Es ist eines der interessantesten Bücher des vergangenen Jahres. Und es scheint auch erfolgreich zu sein. Mein Exemplar (aus dem Februar) trägt den Vermerk „3. durchgesehene Auflage“. Der Band heißt „Frauen | Lyrik – Gedichte in deutscher Sprache“, hat 879 Seiten und bringt, so schreibt die Herausgeberin, mehr als 500 Gedichte aus eintausend Jahren. Also ein Buch wie geschaffen für Corona-Zeiten: Man setzt sich in seinen Lesesessel, beginnt zu blättern, bleibt zwischen Hildegard von Bingen und Özlem Özgül Dündar hängen bei Ingeborg Bachmann, Elisabeth Borchers, bei Helga M. Novak, Else Lasker-Schüler oder Meret Oppenheim.
Die Greis:innen unter den Leser;innen haben in der Schule noch Annette von Droste-Hülshoffs „Der Knabe im Moor“ auswendig gelernt. Stellt sich das kindliche Schaudern wieder ein? Oder kommt es gar erst heute? Teenager geben sich gerne abgebrüht, und die Droste schmeckt Silbe für Silbe nach 19. Jahrhundert. Da war die Leser:in vor fünfzig Jahren womöglich allergischer gegen, als sie es heute ist. Im Kontext dieser Anthologie liest man es auch wie die Beschreibung einer Initiation. Aus dem Knaben wird ein Mann.
Ich stieß aber auch sofort auf jede Menge Namen, die ich noch nie gehört, noch nie gelesen hatte. Ich wollte wissen, wer Sidonia Hedwig Zäunemann, Margarete Beutler und Charlotte Grasnick waren und mehr über Barbara Köhler erfahren. Von ihr stammt das letzte Gedicht des Bandes. Es nimmt seit 2018 den Platz an der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule ein, von dem das inkriminierte Gedicht Eugen Gomringers vertrieben wurde.
Im Sessel stellte ich dann fest, dass dem Buch „Eine Art Gebrauchsanweisung“ vorangestellt ist. Fünf Seiten kurz, aber doch so interessant, dass ich mich erst einmal dem fast 50-seitigen Nachwort zuwandte. Was gefällt mir so daran? Anna Bers, geboren 1985, wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Göttingen, nimmt die Debatten um Frauenlyrik, Frauensprache, um Genderfragen ernst. Das heißt, sie nutzt ihre Widersprüchlichkeit und schärft unseren Blick für Texte und ihre Präsentation. Sie erinnert daran, dass in eine Anthologie deutscher Lyrik natürlich auch lateinische und französische Gedichte gehören. Es gab Zeiten, in denen in Deutschland ganz selbstverständlich auch in diesen Sprachen gedichtet wurde. Ein jiddisches und vielleicht auch ein hebräisches Gedicht hätte dann vielleicht auch nicht fehlen dürfen, und Platt und Schweizerdeutsch? Aber immerhin, ein paar Texte erinnern uns daran, dass Deutschland nicht immer nur eine Sprache sprach wie nach Hitlers Vernichtungsfeldzug im eigenen Land.
Aber der entscheidende Punkt ist ein anderer: „Frauen | Lyrik“ ist die erste Anthologie „von Autor*innen aller Geschlechter, die textuell eine weibliche Perspektive einnehmen“. Ein sehr gewagtes Unterfangen – was ist eine „weibliche Perspektive“ –, aber doch notwendig, wenn Literaturgeschichte nicht den Chromosomen folgen soll und ernst macht mit der Frage nach der sozialen Geschlechtsidentität, dem Gender. „Frauen | Lyrik“ bringt also auch Gedichte von zum Beispiel Bertolt Brecht, Goethe, Rainer Kirsch, Wilhelm Lehmann und Eduard Mörike. Und natürlich auch Eugen Gomringer.
Wird man das, was das spezifisch Weibliche sein soll, am ehesten bei den Männern entdecken? Die wurden schließlich dessentwegen aufgenommen. Eine Illusion, der Anna Bers nicht erliegt. Sie schreibt:
„Berechtigterweise lässt sich fragen, ob nicht gerade durch eine solche Sammlung ein mächtiges Konstrukt wie Geschlecht (und das damit verbundene ,Begehren‘) bestätigt und stabilisiert wird. Sollte mit der Kraft von Gedichten nicht versucht werden, Machtordnungen wie Zweigeschlechtigkeit, Heteronormalität und stereotype Geschlechterrollen zu zerschlagen oder zu unterlaufen? Wieso sollte man sich mit den zu Recht fragwürdigen Konstrukten ‚Frau‘ und ‚Weiblichkeit‘ befassen, wenn nicht nur die Welt, sondern insbesondere auch die Lyrik vielfältiger und dynamischer ist, als es dieses Etikett suggeriert? Diese Fragen sind richtig und enthalten die Antwort schon: Frauen | Lyrik kann nur ein Beleg dieser Vielfalt und zugleich der Vorschlag sein, mit der Dokumentation vielfältiger weiblicher Autorschaft sowie diversen weiblichen Figuren den ersten Schritt zur Überwindung solcher Zuordnungen zu gehen.“
Es ist allerdings, meine ich, auch nötig, den Weg zu gehen. Die Vielfältigkeit ist kein Ergebnis, das man abgreifen und in die Tasche stecken, über das man also verfügen kann. Die Vielfalt muss erfahren werden. Im Erschrecken zum Beispiel über Agnes Miegels Gedicht auf Adolf Hitler und die Freude über Sidonie Hedwig Zäunemanns „Niemand schwatze mir vom Lieben und vom Hochzeit machen – vor.“ Die mir bis dahin unbekannte Göttinger Aufklärerin und poeta laureata Zäunemann schrieb diese Zeile hundert Jahre vor Jane Austen. Und der ostpreußischen Hitleranhängerin Miegel verdanke ich eine meiner frühen Lieblingsballaden „Die Mär vom Ritter Manuel“.
Vielfalt ist nicht einfach da. Vielfalt entsteht aus den Widersprüchen zwischen und in den Menschen. Einer der wichtigsten ist der, in dem wir unsere Geschlechtsrolle definieren und definiert bekommen.
Anna Bers zitiert aus Nora Gomringers „Baby“: „Das Baby erhält einen Namen,/ wenn es eindeutig blau oder rosa geworden ist./ (….)/ die vollen neun Monate Ungewissheit:/ Fisch oder Vogel. Es ist immer / ein Ding der Unmöglichkeit.“ Bers zitiert in ihrem Nachwort nur diese Zeilen. In ihre Anthologie aufgenommen hat sie „Baby“ nicht. Wer das Gedicht hören möchte, der kann in der ARD-Audiothek Nora Gomringer es rezitieren hören.
Zur Frage der Geschlechtsdefinition zitiert Bers auch Heinrich von Kleist. Der schrieb an seine Halbschwester Ulrike: „Amphibion Du, das in zwei Elementen stets lebet./ Schwanke nicht länger und wähle Dir endlich ein sichres Geschlecht./ Schwimmen und fliegen geht nicht zugleich, drum verlasse das Wasser,/ Versuch es einmal in der Luft, schüttle die Schwingen und fleuch!“ Ein Blick in Kleists „Penthesilea“, ein Stück, das er erst acht Jahre später schrieb, zeigt, dass die Rosa-Blau-Dichotomie denkbar fern lag, und ebenso die Aufforderung, für eine der beiden Farben, für eines der beiden Geschlechter sich entscheiden zu müssen. Dass ihm auf Erden nicht zu helfen gewesen sei, waren seine letzten Worte – ebenfalls gerichtet an Ulrike. Sie zielten sicher auch auf seinen Versuch, zu schwimmen und zu fliegen. Wenn schon nicht im Leben, so doch wenigstens in den Texten.
Anna Bers hat die Gedichte ihrer Anthologie nach vier Kriterien – sie spricht klüger von „Perspektiven“ – ausgesucht: Ein Viertel versammelt die berühmtesten Frauengedichte, ein weiteres Gedichte, die für eine bestimmte Epoche typisch sind, ein drittes emanzipatorisch-kämpferische, und „ein letztes Viertel umfasst Texte, die ein weibliches Ich oder eine grammatisch anders umgesetzte weibliche Perspektive zu Worte kommen lassen“.
Die „berühmtesten Frauengedichte“? Wie will man das feststellen? Bers ist einen sehr nachvollziehbaren Weg gegangen. Sie hat sich 13 große Anthologien deutscher Gedichte angesehen und nachgeschaut, welche am häufigsten vorkommen. Dankenswerterweise hat sie nicht nur die Gedichte, sondern auch die so entstandene Bestenliste abgedruckt. Auf Platz 1 steht „Erklär mir, Liebe“ von Ingeborg Bachmann. Unter den zehn meist gedruckten gibt es je ein Gedicht von Ricarda Huch und Karoline von Günderrode, zwei Gedichte von Bachmann und je drei von Annette von Droste-Hülshoff und Else Lasker-Schüler.
Bers zeigt bei jedem Gedicht, welcher Perspektive es seinen Auftritt in „Frauen | Lyrik“ verdankt. So viel Transparenz war noch nie. So werden der Leserin und dem Leser die unterschiedlichsten Wege durch das chronologisch geordnete Dickicht der 500 Gedichte geebnet.
Wer einfach nur im Sessel sitzen und blättern möchte, den ängstigen und beseligen zugleich vielleicht diese Zeilen der Elisabeth Borchers (1926-2013) so, wie sie es mit mir taten vor sechzig Jahren, als unser Deutschlehrer sie uns aus seiner Tageszeitung vorlas:
„Eia wasser regnet schlaf
ein abend schwimmt ins gras
wer zum wasser geht wird schlaf
wer zum abend kommt wird gras
weißes wasser grüner schlaf
großer abend kleines gras
es kommt es kommt/ ein fremder.“
Letzte Änderung: 19.07.2021
Anna Bers Frauen | Lyrik
Gedichte in deutscher Sprache
Mit einem Nachwort von Anna Bers
Gebunden mit Prägung, 879 Seiten
ISBN: 978-3-15-011305-9
Reclam Verlag, Ditzingen 2020
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