Dass die Siegermacht Frankreich Probleme mit der Aufarbeitung der eigenen Kollaboration während der deutschen Besetzung hat, ist keine Neuigkeit. Die Auswirkungen dieser freiwilligen Zusammenarbeit, wie sie Marschall Pétain nannte, auf die Flüchtlingsströme, die in den „freien“ Süden des Landes und schließlich in die Hafenstadt auswichen, um dort eine Schiffpassage nach Amerika zu bekommen, wird in Uwe Wittstocks „Marseille 1940“ beschrieben. Johannes Winter bespricht das Buch und hat darüberhinaus einige Bemerkungen zur Zerstörung der Stadt beizutragen.
Das Buch, spannend zu lesen, auf den Spuren berühmter Exilanten, folgt dem Prinzip des Kalenders, und es folgt dem der Episode. Einstieg ist eine Szene in Berlin, Mitte der 30er Jahre, unter den Augen des New-York-Times-Korrespondenten Varian Fry. Aus und in einem Café nahe dem Kurfürstendamm beobachtet Fry eine antijüdische Gewaltattacke, die ihn nicht nur erschüttert, sondern auch seinen Eindruck verstärkt, daß der Alltag und das Regime NS-Deutschlands von lebensgefährlichem Rassismus geprägt sind. Das Land, das die Heimat ebenso berühmter wie bedrohter Autoren wie Hannah Arendt oder Bert Brecht, Alfred Döblin, Lisa Fittko oder Ernst Toller, Anna Seghers oder Mahler-Werfel, Lion Feuchtwanger oder Heinrich und Nelly Mann war. Die ihr Heil in der Flucht nach Westen suchten, vor allem in Paris, wenn sie nicht schon dabei waren, sich dort einzurichten, verzweifelt, ihrer Staatsangehörigkeit beraubt. Als die Wehrmacht im Sommer 1940 in Paris einmarschierte und den Norden Frankreichs besetzte, während der Süden sich als „frei“ im Sinne des Regimes von Marschall Pétain etablierte, sahen sie sich – wie Hunderttausende Franzosen – gezwungen, (erneut) auf die Flucht zu gehen. Nach Süden. Ihr Ziel war Marseille. Sie brauchten Papiere, sie brauchten Schiffspassagen, sie brauchten Geld. Ihre Hilferufe richteten sie an Thomas und Katja Mann, die in New York lebten. In den nach Monaten ausgerichteten Kapiteln zeigt Wittstock die mühsam-panischen Versuche der Flüchtlinge, sich in Frankreich zu verbergen, um zu überleben. Je unwahrscheinlicher ihre Aussichten, desto unentrinnbarer wird Marseille – der Hafen als Fluchtort. Die wachsende Spannung, ob und wie sie an Visa kommen, macht die Lektüre zum Krimi.
Ihre Hoffnung ist auf das Hotel Splendide gerichtet. Dort begegnen wir Varian Fry wieder. Im Auftrag des New Yorker Komitees (Emergency Rescue Commitee), das auf Initiative von Thomas und Erika Mann gegründet wurde, unterstützt von Präsidentengattin Eleanor Roosevelt, soll er Exilanten mit Ausreise-Visa versorgen, die für ihn „meine kostbarsten Schützlinge“ sind. Zur Tarnung gründet er das „Centre Américaine de Secours aux Intellectuels“. Um Exilanten zu retten, die Frankreich als sogenannte feindliche Ausländer phasenweise in Lagern wie Les Milles bei Aix-en-Provence oder Gurs in den Pyrenäen interniert. Von Lion Feuchtwanger („Der Teufel in Frankreich“) wissen wir, wie es in der Ziegelei von Les Milles zuging. Anna Seghers hat ihm in „Transit“ ein Portrait („Professor Whitaker“) gewidmet. Der Andrang von Flüchtlingen wächst, Varian Fry will und muss sich räumlich vergrößern, er zieht um, das Hilfszentrum trägt nun die Adresse „Villa Air-Bel“ – ein prächtiges Gebäude inmitten eines Parks am Rande von Marseille, Wartesaal europäischer Künstler, der nicht nur das Flüchtlings-Komitee beherbergt. Auch André Breton und Victor Serge mit ihrer Surrealisten-Szene lassen es sich zwischen Kamin und Bibliothek inmitten der Parkett-Eleganz großbürgerlicher Welt in prunkvollen Sälen wohl sein. Kein Wunder, daß in solchem Ambiente die Phantasie gedeiht, zumal sie von Langeweile gefüttert wird. Die Runde der Künstler erfindet ein Kartenspiel, das „Jeu de Marseille“, von erz-surrealistischer Logik. – Während auf den Boulevard-Terrassen der Prachtstraße Canebière der Schwarzhandel mit falschen Papieren blüht. Nach Monaten wird Varian Fry den US-amerikanischen Behörden zum Ärgernis. Ihnen fällt auf, daß sich das Geschäft mit Visa, Affidavits und Schiffspassagen – das Objekt der Begierde aller Flüchtlinge – an der Grenze zu Legalität bewegt. Daß ein Fälscher für das Komitee arbeitet, wird den New Yorkern durch Denunziation bekannt. Folge: Frys Visum wird nicht verlängert. Der Status des Fluchthelfers ist von dem der Flüchtlinge nicht mehr zu unterscheiden. Seine Zeit, die ihm Bezeichnungen wie „Engel von Marseille“ eingetragen hat, ist abgelaufen. Seine Erinnerungen daran hat er autobiographisch in „Auslieferung auf Verlangen“ (Frankfurt/M 1995) veröffentlicht.
Sprengstoff gegen das Panier – die Zerstörung des Hafenviertels von Marseille
Es soll hier die Gelegenheit genutzt werden, über ein Kapitel deutsch-französischer Zusammenarbeit zu berichten, das über Wittstocks sich auf das Jahr 1940 konzentrierendes Werk hinausgeht. Ein Kapitel, dem Kontinuität, bezogen auf das zwischenstaatliche Verhältnis der Nachbarn Deutschland und Frankreich, nicht abzusprechen ist. Das gleichwohl eine Widersprüchlichkeit prägt, die in den Debatten der Nachkriegszeit ihresgleichen sucht: Frankreich, geprägt von einer „prekären Ambivalenz zwischen Kollaboration und einer nur zögerlich sich regenden Résistance“ (Dan Diner).
Wir befinden uns am Beginn des Jahres 1943. Marseille ist, wie inzwischen auch der gesamte Süden Frankreichs, seit einem Jahr von den Deutschen besetzt. In dieser Situation vermischen sich, politisch offenbar gewollt, zwei Motiv-Lagen, betreffend das Panier, das Rotlichtviertel auf der Nordseite des Vieux Port, des Alten Hafens. Den Besatzern geht es um die Zerstörung des Quartiers als Inbegriff moralischer wie hygienischer Verkommenheit – so die Lesart des Hitler‘schen Berlin. Ihnen geht es um eine stadtzerstörerische Säuberungsaktion gegen eine kosmopolitische Überbevölkerung, gegen Unterwelt und Prostitution und, politisch nicht unerheblich, gegen die Résistance – dafür versichert sich die SS, einer Razzia wegen, der Dienste französischer Sicherheitskräfte. In der Stadt, die Heinrich Himmler, der Führer der SS, „Saustall Frankreichs“ nennt.
Auch die Stadtregierung hat, in Übereinstimmung mit dem Vichy-Regime Pétains, das Viertel als Städtebau-Projekt in den Blick genommen. Seit einem Jahr liegt ein Städtebau-Förderungs-Plan vor, der das Panier zum Abriss freigibt. Die Stadt gründet eine Grundstücksgesellschaft, worauf eine Welle von Immobilien-Spekulation losbricht. Bis heute wird kontrovers diskutiert, ob es nicht eigentlich die Verwaltung war, die ihre Zustimmung, wenn nicht gar den Auftrag zur Sprengung des Panier gab.
Daß über das Mittel der Zerstörung – Dynamit – Einigkeit herrschte, verbucht die Stadtregierung gegenüber der Öffentlichkeit jedenfalls als politisches Zugeständnis: man habe sich dem Zwang der deutschen Machthaber zu beugen gehabt. Zumal gewiss scheint, daß sie damit ein urbanistisches Projekt beschleunigt durchsetzen konnte. Unstrittig zwischen Besatzern und der Stadtverwaltung war offenbar auch die Evakuierung der Bewohner des Hafenviertels, 30.000 Menschen, darunter 800 jüdische Bürger, die in das Vernichtungslager Sobibor deportiert werden. Es war mithin die größte Razzia der gesamten Besatzungszeit Frankreichs, die Anfang 1943 in Marseille in Kollaboration zwischen Wehrmacht und Gendarmerie realisiert wurde, welch letztere den Tatort für die Zerstörung abriegelte.
Die eigentliche Vernichtung durch Verminung und Sprengung übernahmen Pioniere der Wehrmacht. Sie dauerte 17 Tage. Insgesamt wurden rund 1.500 Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Erhalten blieben das Rathaus, der Justizpalast und die historische „Maison Diamantée“. Die Stimmung in der Stadt ist in den Lobeshymnen der Lokalpresse nachzulesen: die Deutschen hätten „das Geschwür Europas beseitigt“.
Letzte Änderung: 06.03.2024 | Erstellt am: 06.03.2024
Uwe Wittstock Marseille 1940 – Die große Flucht de Literatur
351 S., geb.
ISBN-13: 9783406814907
C. H. Beck, München 2024
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