Eine Art Spiegelschrift

Eine Art Spiegelschrift

Zu Bernd Leukerts »Erben des Verschiedenen«
Hieronymus Boschs »Garten der Lüste«, Ausschnitt

Sein spätes literarisches Debüt »erben des verschiedenen« veröffentlichte Faust-Kultur-Mitherausgeber Bernd Leukert im Jahr 2018. Es optiert für die hybride Form einer lyrische Prosa, die verschiedene technische Verfahren der literarischen Moderne erprobt und ein beachtliches Netz aus intertextuellen Bezügen aufspannt. Es handelt sich in Grundzügen um eine in den französischen Existenzialismus getauchte intellektuelle und generationelle Biographie und Apologie des Nichtidentischen, an der ein »Dechiffriersyndikat« zwangsläufig scheitern würde, wie Ulrich Breth zu berichten weiß.

Es gibt literarische Texte, die, einer Flaschenpost vergleichbar, einen längeren Zeitraum benötigen, um ihre Leser zu finden. Dies gilt auch für den schmalgeschnittenen Band »Erben des Verschiedenen« von Bernd Leukert, der 2018 im Frankfurter Gutleut Verlag erschienen ist. Denn er ist in einer Art Spiegelschrift geschrieben, die nicht jeder sofort zu entziffern weiß.

Dies wird bereits durch das dem Band vorangestellte Motto von Lewis Carroll und den ersten Satz der Präambel nahegelegt, in dem das Terrain der folgenden acht Kapitel skizziert wird: Das Spekulative heißt so, weil man einst mit neuen Verfahren Spiegel herstellen konnte, die eine exakte Vermessung unwegsamen Geländes ermöglichten. Bei seinen sprachlichen Vermessungen bedient sich der Autor verschiedener Verfahren der modernen Literatur, insbesondere der Lyrik. Durch die Verwendung von Assonanzen und Homonymen, das Spiel mit Ähnlichkeiten, sprachlichen Verschiebungen, Spiegelungen, Engführungen und Umkehrungen entstehen semantische und klangliche Effekte, die den Eindruck erwecken, es handle sich bei dem Text um lyrische Prosa. Dieser Eindruck ist insofern zu präzisieren, als der Text sich nicht so sehr dadurch auszeichnet, dass er Gefühle und Stimmungen aufruft, sondern dass in ihm immer wieder eine gedankliche Schärfe aufblitzt, und zwar vorzugsweise dann, wenn der Gang durch das zu vermessende unwegsame Gelände auf scheinbare Abwege gerät.

Eingeleitet wird der Band durch die Vorstellung, der Übergang vom Leben in den Tod ließe sich durch den Gang durch einen Spiegel vollziehen, wie dies etwa in einer Szene von Jean Cocteaus »Orphée« (1950) zu sehen ist. Und dass ein solcher Spiegel, wenn man seiner habhaft werden und ihn als Produktionsmittel einsetzen könnte, alle professionellen Auftragsmörder und die gesamte Bestattungsindustrie gegen sich aufbringen müsste. Als denkbare Alternative, sich vergleichsweise elegant aus der Affäre zu ziehen, wird dem Spiegelmotiv das romantische Motiv des Doppelgängers zur Seite gestellt.

So heißt es an einer Stelle der bereits erwähnten Präambel, dass Sol Roth in einem obskuren Streifen aus den Siebzigern den Schauspieler Edward G. Robinson spielte. Bei dem obskuren Streifen handelt es sich um »Soylent Green« von Richard Fleischer aus dem Jahr 1973, der unter dem Titel »… Jahr 2022 … die überleben wollen« in den deutschen Kinos lief. Nur, dass es sich eben umgekehrt verhält. Die Rolle des Sol Roth, des lebensmüden Mitbewohners des Polizisten Robert Thorn, der sich in einer öffentlichen Tötungsanstalt zu Klängen von Edvard Griegs »Peer Gynt Suite« einschläfern lässt, war die letzte Rolle des Filmschauspielers Edward G. Robinson, der vierzehn Tage nach dem Ende der Dreharbeiten seinem Krebsleiden erlag. Während Edward G. Robinson schon längst nicht mehr unter den Lebenden weilt, wird Sol Roth vermutlich in verblichenen oder restaurierten Kopien von »Soylent Green« in den kommenden Jahrzehnten immer wieder einmal zu sehen sein. Und ihm werden im Dialog mit dem Erzähler die Worte in den Mund gelegt, mit denen sich das Doppelgängermotiv im Text anmeldet: Seine Identität wechseln (…) das ist eine romantische Idee. Im Grunde ist es ein Theatercoup, eine effektvolle Verwandlung: Der Frosch wird zum Prinzen. Mit dem Doppelgängermotiv hatte wiederum Edward G. Robinson Erfahrungen gemacht, als er in der Krimiködie »Stadtgespräch« (1935) von John Ford einen kleinen Angestellten einer Werbeagentur und Hobbyschriftsteller namens Arthur Ferguson Jones spielte, der einem entflohenen Mordverdächtigen namens Manion verblüffend ähnlich sieht. Beide Protagonisten versuchen aus der Existenz ihres look-alikes ihren Profit zu ziehen. Schließlich sorgt Jones in einem Täuschungsmanöver dafür, dass Manion von seinen eigenen Komplizen erschossen wird. Als er zu guter Letzt seine ehemalige Arbeitskollegin Wilhelmina Clark heiratet, hat sich der Frosch endgültig in den Prinzen verwandelt.

Am ehesten lässt sich der Assoziationsstrom, der den Text in Gang hält – im Text selbst ist an einer Stelle vom verborgenen Erzählfluß die Rede – als Travestie der klassischen Heldenreise vergleichen, die mitunter die Züge eines surrealistischen Traums oder eines psychedelischen Trips annimmt. Der Autor tritt diese Reise nicht allein an, sondern in der grammatischen Form des Kohortativs, als könne aus ihr der Beginn einer wunderbaren Freundschaft entstehen mit allen, die ihn auf seinem Weg begleiten. I’ve got nothin’ but affection for all those who’ve sailed with me heißt es in einem Song von Bob Dylan über eine Gesellschaft, die in ähnlicher Weise unterwegs ist. Doch man sollte sich von der Leichtigkeit, mit der der Text daherkommt, und den Stellen, an denen er den Konversationston des literarischen Salons persifliert, nicht täuschen lassen. Die Traumlandschaft ist unstet und zerklüftet und hält mit jeder Wendung neue Zumutungen für den Leser bereit.

Verwandlungen wie die vom Frosch zum Prinzen ereignen sich auf den acht Stationen des Textes, in denen die Felder des Schachbretts wiederkehren, die Alice auf ihrem Weg hinter dem Spiegel vom Bauer zur Dame zurückzulegen hat, in Permanenz. So erweisen sich die Clochards von Paris als verwunschene Dichter und die Harpyien als verwunschene Sirenen, die sprechende Pferde aus Jonathan Swifts »Gullivers Reisen« möglicherweise als Vorfahren des malträtierten Droschkengauls, dem Friedrich Nietzsche im Januar 1889 in Turin um den Hals gefallen ist, das Wahre im Falschen als das Falsche im Wahren, nur der Autor, dessen Sentenz, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, hier anklingt, wird konsequent bei seinem Aliasnamen Hektor Rottweiler genannt, unter dem er im zweiten Heft des fünften Jahrgangs der »Zeitschrift für Sozialforschung« im Jahre 1936 seinen obskuren Jazz-Aufsatz veröffentlicht hat.

Wobei dieser Rottweiler wiederum als Rezitator der Wendung vom Menschen als denkendes Schilfrohr auftritt. Wenn es dann im unmittelbaren Anschluß heißt Und man fragt sich, wo er das her hat, bezieht sich das weniger auf Rottweiler und den an dieser Stelle gefragten Blaise Pascal, sondern auf den Autor selbst, der in seinen »Erben des Verschiedenen« zahllose Fährten gelegt hat.
Auf diesen Fährten sind nicht nur Personen der Zeitgeschichte und aus historisch entfernten Zeiten zu besichtigen, Geistesgrößen, Künstlerpersönlichkeiten, Figuren der Weltliteratur, Leinwandhelden und deren Darsteller; sie müssen sich auch mit den Konjekturen, Projektionen und gelehrten Zitaten herumschlagen, die sie in die Welt gesetzt haben und die als Erbe des Verschiedenen uns, ihren Nachkommen, zugefallen und nicht leichtfertig abzuweisen sind.

Das wird im Text dadurch angezeigt, dass die Bestandsstücke der Tradition nicht in einer Weise zugegen sind, die unserem Bedürfnis nach Überschaubarkeit und erleichterter Lesbarkeit entgegenkommt, sondern in fragmentarischer Form, in der sie eine Art Magnetismus entwickeln, der sie mit den scheinbar entlegensten Gegenständen in Verbindung bringt und den Eindruck entstehen lässt, dass sie über sehr große historsiche Distanzen untereinander zu kommunizieren vermögen.

Dabei reicht die Bandbreite des Personen- und Sachinventars von dem aus dem Edgar Wallace-Klassiker »Die toten Augen von London« bekannten österreichische Freistilringer und Schauspieler Ady Berber bis zu Sigmund Freud, dem österreichischen Physiker Erwin Schrödinger und dem im thematischen Zusammenhang als Verfasser des naturphilosophischen Romanfragments »Die Lehrlinge zu Sais« herbeigezogenen Novalis.

Und sie bleibt auch nicht auf Bildungsreminiszenzen an Phänomene der sogenannten Hochkultur beschränkt, wie die Textstelle zeigt, an der der Autor auf Grace O’Malley, Anne Bonny und Mary Read sowie die Witwe Ching zu sprechen kommt, vier Piratinnen, die zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert gelebt haben und die, wenn man seiner Assoziationslogik zu folgen bereit ist, sowohl mit der Seeräuber-Jenny aus Bertolt Brechts und Kurt Weills »Dreigroschenoper« in geheimer Verbindung stehen als auch als Vorbilder für ihre zahlreichen Schwestern in der politischen Szene der Gegenwart gelten können.

Die Reihenfolge, die unterschiedlichen Kontexte und die Modi der Latenz und Präsenz, in der die Figuren und Gegenstände im Text auftauchen, sind dem Zufall und der Willkür entzogen; ihr Erscheinen ordnet sich zu einer unverwechselbaren Physiognomie, die die Züge einer intellektuellen Biographie des Autors und seiner Generation annimmt, für die das Klima des Existenzialismus in den Künstlercafés in Saint-Germain-des-Prés wie die Nähe zur französischen Metropole als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts überhaupt charakteristisch ist.

Auch wenn der Gedanke naheliegen mag, ein Dechiffriersyndikat bilden zu wollen, das sich zur Aufgabe macht, sämtlichen Traditionsspuren im Text nachzugehen, um ihnen eine feste Bedeutung zuzuweisen, wie das im Falle Arno Schmidts geschehen ist, der als der goldene Schmidt, also wohl als Verfasser der Märchenposse »Abend mit Goldrand» Eingang ins Erbe des Verschiedenen gefunden hat, sollte man ihm keinen Raum geben. Denn die identifizierende Haltung, die hierbei zum Vorschein käme, würde völlig verkennen, dass derjenige, der sich und uns als Erben des Verschiedenen betrachtet, sich damit auch zum Verteidiger des Nichtidentischen macht. Dass sich hinter dieser Bezeichnung weit mehr verbirgt als die längst überschrittene Haltelinie einer in die Jahre gekommenen theoretischen Strömung, die auf besondere Weise mit dem Frankfurter Westend verbunden ist, dafür geben die sprachartistischen Miniaturen des Autors der »Erben des Verschiedenen« ein überzeugendes Beispiel ab.

 
 

Siehe auch:
Rezension in Signaturen-Magazin

Letzte Änderung: 24.02.2022  |  Erstellt am: 24.02.2022

Hieronymus Boschs »Garten der Lüste«, rechter Flügel
erben des verschiedenen

Bernd Leukert erben des verschiedenen

Softcover, 60 Seiten
ISBN 978-3-936826-96-8
Gutleut Verlag, Frankfurt am main, 2018

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