„Die Blechtrommel“ war schon vor der Verfilmung bekannt. Günter Grass galt als pornographischer Schriftsteller, weshalb man ihn gelesen haben musste. Er, Nobelpreisträger 1999, der auch als bildender Künstler hervortrat, war Parteigänger und Kritiker der SPD und Patriarch seiner großen Familie. Seine Bücher, gelobt und verrissen, lieferten stets Gesprächsstoff. Sein vertrauter Helfer Dieter Stolz legt nun eine Werkbiografie des prominenten Autors vor, die Uwe Schütte wärmstens empfiehlt.
Eine aussterbende, ausgestorbene Gattung: Autorenbücher und Einführungen, die Literaturinteressierte mit Leben und Werk, Kontext und Bedeutung eines Schriftstellers kompetent bekannt machen. Zumal in Zeiten vor dem Internet waren sie zentrale Wegweisungen nicht nur für Schüler und Germanistik-Studenten, sondern vor allem für durchschnittliche Leser, die eine verlässliche Handreichung brauchten. Für mich, als junger Leser in der bayerischen Provinz während der 1980er Jahre, waren diese Bände unverzichtbar, seien es die billigen Reclam Einführungen für den Schulgebrauch, die anspruchsvollere „Sammlung Metzler“ oder – bis heute der Klassiker – die reich illustrierten Bände der Rororo-Monographien mit ihrem engen Satzbild.
Was früher mithin ein unverzichtbarer Teil jedes Leserlebens war, spielt heute kaum eine Rolle mehr. Mit der Literatur haben sich die Lesegewohnheiten verändert, junge Lesende informieren sich, den nachweisbaren Zugriffszahlen zufolge, eher auf TikTok. Ein weiterer Grund für das Verschwinden der Autorenbücher, fürchte ich, ist das Verschwinden der Autoren. Gemeint ist der Typus des Großschriftstellers, den früher Gestalten wie Martin Walser oder Heinrich Böll einnahmen.
Marcel Beyer etwa ist ein unzweifelhaft herausragender Gegenwartsschriftsteller mit einem soliden Werkkatalog, aber wer wollte schon ein Autorenportrait zumal eines lebenden Schriftstellers schreiben? Oder nehmen wir einen bereits mit einer Werkausgabe geadelten literarischen Giganten wie Wolfgang Hilbig: eine umfassende Biografie existiert längst, dank Autorenpflege durch den Verlag – aber ein Autorenbuch fehlt.
Erscheint heutzutage eine klassische Einführung zu einem der großen alten Männer der deutschen Literatur, so merkt man automatisch auf. Günter Grass also, der Blechtrommler und Skandalautor, der zumal außerhalb Deutschlands der Inbegriff der deutschen Literatur war. Zumindest bis W.G. Sebald ihm diesen Status abjagte. In deutschen Gefilden und innerhalb einer nicht-akademischen Leserschaft, auf die ein solches Autorenbuch primär abzielt, ist der Danziger aber, allem Unbill der Literaturgeschichte und allen modischen Trends des Literaturbetriebs trotzend, so etwas wie die oberste Instanz deutscher Literatur. Durchaus zu Recht, denn immense literarische Leistungen und peinliche Entgleisungen, Verdienste als linker Intellektueller und Verdrängung der jugendlichen Waffen-SS-Mitgliedschaft machen ihn in mancher Weise zu einem paradigmatischen Repräsentanten deutscher Kultur.
Was bei Grass noch hinzukam, war seine sich weit über das literarische Feld erstreckende künstlerische Tätigkeit von Bildhauerei bis zur Grafik, ergänzt durch seine vielfach kolportierten wie renommierend ausgestellten Qualitäten als Koch oder Schwerenöter. Das Kritikerklischee vom lebenden Gesamtkunstwerk – auf Grass traf es zu. Umso schwerer die Aufgabe eines Bandes, neben dem literarischen Werk zudem die gesamte Persönlichkeit wie Problematik der öffentlichen Gestalt des Portraitierten konzise zu erfassen. Doch just dies gelingt Dieter Stolz vollumfänglich in seinem jüngst im Deutschen Taschenbuchverlag erschienenen Günter Grass. Der Schriftsteller.
Das nun liegt nicht zuletzt daran, dass es der dritte Anlauf ist. Die erste Version hatte Stolz 1999 in der „Zur Einführung“-Reihe des Junius Verlags publiziert; 2005 folgte eine neue Fassung in Grassens Hausverlag Steidl. In seiner dritten Iteration nun blickt Stolz erstmals postum auf den 2015 verstorbenen Schriftsteller zurück. Über den Kernbestand der Einführung, also die rund 350 Seiten, in denen er nacheinander Lyrik, Theatertexte, Romane, Erzählungen und Novellen sowie die autofiktionalen Werke fachkundig diskutiert, müssen hier keine großen Worte verloren werden. Denn weder an seiner akademischen Expertise – Stolz promovierte mit einer 1994 erschienenen Dissertation über Grass –, noch seiner profunden Werkkenntnis – er ist Mitherausgeber der definitiven Werkausgabe –, kann kein Zweifel bestehen.
Warum das Werk- und Autorenportrait von Grass aber selbst für jene, die eine frühere Version besitzen, den Kauf verlohnt, ist neben der aktualisierenden Rundumerneuerung auf dem neuesten Stand, also inkl. SS-Debatte und den Antisemitismus-Vorwürfen et al., das neue Nachwort, in dem Stolz auf seine lebenslange Beschäftigung mit Grass zu sprechen kommt. Darin bricht er eine Lanze für ein differenzierteres Verständnis der Person von Grass, denn anders als andere Literaturkritiker und Germanisten, war er Freund und Vertrauter des Autors. Wie es dazu kam, ist eine bemerkenswerte Geschichte: Grass hatte die Dissertation des frischgebackenen Doktors der Germanistik gelesen, bei einem gemeinsam unternommenen Ausflug die Privatperson Stolz als integer kennengelernt, und ihn daher als Assistenten eingestellt.
Quasi als undercover agent des dafür viel zu prominenten Schriftstellers, besuchte er das Fontane-Archiv und die Treuhand-Behörde, um dort Material zu recherchieren, das dann in den skandalisierten Roman Ein weites Feld (1995) einging. Wie Grass das von Stolz besorgte Archivmaterial in Literatur verwandelte, dabei auch Kritik des Adlatus an ersten Textfassungen in den Überarbeitungsprozess miteinbezog, ermöglichte einen tiefen Einblick in die Textwerkstatt des Schriftstellers. Später avancierte Stolz gar noch zum Lektor und begleitete die Entstehung vieler Werke also aus nächster Nähe. Trotz aller freundschaftlichen wie professionellen Verbundenheit hielt Stolz jedoch zugleich eine gewisse Distanz, wie an vielen Stellen seiner Einordnung und Bewertung der Schriften von Grass zu bemerken ist.
Zu Grass gibt es selbstredend mehrere Einführungen aus anderer Feder, wobei insbesondere die Darstellung des Kölner Germanistikprofessors Volker Neuhaus hervorzuheben ist. Doch gerade im Kontrast zu diesem eher akademisch ausgerichteten Werk tritt hervor, was das Buch von Stolz so besonders, ja geradezu einmalig macht, und das ist ein ganz grundsätzlicher Punkt: Man spürt auf jeder Seite, dass die enge persönliche Vertrautheit mit einem Schriftsteller ein unschätzbarer Vorteil für ein differenzierteres Textverständnis ist.
Dies straft jene Arroganz der akademischen Berufsbeamten, die einen vorgeblich „wissenschaftlichen“ Zugriff als normativen Ansatz propagieren, aus dem der subjektive Faktor einer Vertrautheit mit der Privatperson eines Autors gefälligst rauszurechnen ist. Wir würden besser begreifen, was an bedeutender Literatur groß ist, wenn wir Leser mehr solche Werkdarstellungen hätten wie die von Dieter Stolz über Günter Grass.
Letzte Änderung: 18.05.2023 | Erstellt am: 15.05.2023
Dieter Stolz Günter Grass. Der Schriftsteller
464 S., brosch.
ISBN: 978-3-423-35206-2
dtv, München 2023
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