Jules Barbey d’Aurevilly war Literaturkritiker und Romancier, exzentrischer Dandy, Monarchist und gläubiger Katholik. 1864 erschien sein Roman „Un prêtre marié“ – „Ein verheirateter Priester“, in dem ein Geistlicher seinen Glauben verliert, den ihm seine Tochter wieder verschaffen will. Das, berichtet Gudrun Braunsperger, führt zur Selbstverleugnung des Vaters und der Tochter und ins Unglück.
So wie im tragischen Mythos von Ödipus steht am Anfang der Geschichte einer schicksalhaften Verstrickung in „Ein verheirateter Priester” von Jules Barbey d’Aurevilly eine Prophezeiung: Ausgesprochen wird sie von der betagten Seherin Malgaigne, die die Entwicklung der Handlung dieser Geschichte wie eine Schicksalsfäden spinnende Norne zu begleiten scheint. Malgaigne ist die Ziehmutter des tragischen Helden dieses Romans, Sombreval, und zugleich sein Alter Ego: Beide verkörpern in Konkurrenz stehende Formen des Wissens. Während sich Sombreval als moderner Naturwissenschaftler dem suchenden Forschen verschrieben hat, das von einem Gestaltungswillen getrieben ist, und Gott als Instanz über sich nicht anerkennt, ist Malgaigne das empfangende Medium, das die Zukunft voraussieht, auch die von Sombreval, dem sie wegen seines Abfalls von Gott den Untergang und den Mord an den ihm liebsten Menschen prophezeit. Anders als Sombreval hat Malgaigne die Macht Gottes nie geleugnet, auch wenn sie sich in ihrer Jugend mit gegen Gott gerichteten okkulten Kräften verbunden, diesen aber auch, in Anerkennung der göttlichen Allmacht, wieder abgeschworen hat. Zuweilen seien die Abergläubischen die Wissenden, heißt es über die Malgaigne, und damit sind die Themenfelder dieses Romans bereits abgesteckt: Die Geschichte vom Verheirateten Priester erzählt vom Konflikt zwischen Religion und Atheismus, Wissenschaft und altem Aberglauben, Vernunft und Magie.
In der Figur Jean Sombrevals, der die Existenz Gottes leugnet, ja, Gott ermordet, sind Fragen der Moderne bereits vorweggenommen, die kurze Zeit später bei Dostojewskij auftauchen und im 20. Jahrhundert von Camus aufgegriffen werden. Dennoch verweist die literarische Gestaltung dieses 1864 erstmals erschienenen Werkes, dessen Handlung in der napoleonischen Zeit angesiedelt ist und wo Traumata der Französischen Revolution angesprochen werden, zurück in die Romantik: Den Schauplatz des Geschehens, ein Schloss in der Normandie, umhüllt die Aura eines Schauerromans. Es ist einsam und verlassen und wirkt durch die soziale Ächtung seiner Bewohner geradezu verwunschen. Die äußere Anmutung enthält alle Attribute der schwarzen Romantik: In unmittelbarer Nähe des Schlosses befindet sich ein sumpfiger Teich, der mit einer todbringenden Prophezeiung verbunden ist, umgeben ist der Ort von einer ebenso wilden wie unheimlichen Heidelandschaft, Regenfälle verwandeln die Gegend jahreszeitlich bedingt in eine Schlammwüste, und Sonnenuntergänge werden als beeindruckendes Naturschauspiel metaphorisch platziert. In der Wildheit der Natur spiegeln sich die nicht zu bändigenden Schicksalsmächte, sie steuern die Handlung. In diesem Roman ringt die christliche Dogmatik mit dem alten Aberglauben, kämpft die Naturwissenschaft mit den Naturgewalten, deren mächtigste die Liebe ist. In tragischer Weise richtet sich die Urgewalt der Liebe in dieser Geschichte gegen die Protagonisten, die von ihnen mit Selbstliebe verwechselt wird, woraus emotionaler Missbrauch erwächst. Man kann diesen Roman als Religionskritik lesen. Man kann dieses Werk aber zugleich auch so lesen: Wenn Liebe als gestaltende Kraft mit ihren eigenen Gesetzen unterschätzt und Gott durch sie manipuliert wird, dann wird sie zur Tod bringenden Gewalt, die sich gegen den Menschen richtet.
Die Liebe, die im Zentrum dieser Erzählung steht, ist die zwischen Vater und Tochter. Sombreval kehrt in seine Heimat zurück, um dort mit seiner Tochter Calixte zu leben. Er erwirbt ein Schloss, das ein Jahrhunderte altes Geschlecht nach den Wirren der Französischen Revolution aufgeben musste. Der Bauernsohn Jean Gourgue, genannt Sombreval, ist ein Emporkömmling und wird zwischen den Widersprüchen der neuen Zeit aufgerieben. Er verkörpert ihre Werte, findet damit aber keine gesellschaftliche Akzeptanz, sondern wird gleich mehrfach geächtet: von den Vertretern des Ancien Régime, in denen die Sittenlosigkeit des 18. Jahrhunderts fortlebt, dem alten Landadel nämlich, der dem Käufer des Schlosses die soziale Anerkennung versagt, aber auch vom Volk, aus dem er kommt, das an den alten Werten ebenso festhält und den von Gott abgefallenen Priester mit Ausgrenzung bestraft. Sombreval ist ein Kind der Aufklärung: Im Priesterseminar ist er über Bildung sozial aufgestiegen, er entscheidet sich aber schließlich für die Naturwissenschaft und gegen Gott. Der Priester wird zum Atheisten und geht eine Ehe ein. Mit der Mitgift seiner Frau, die im Kindbett am Schock darüber verstirbt, einen ehemaligen Priester geheiratet zu haben, erwirbt er das Schloss und richtet sich in völliger Zurückgezogenheit im Turmgeschoss ein Laboratorium ein. Dort findet er als Arzt und Chemiker eine neue Lebensaufgabe: Er forscht an einem Heilmittel für seine Tochter, die von einem geheimnisvollen Nervenleiden gequält wird. Die tiefere Ursache für dieses Leiden ist seelischer Natur: Die christliche Mystikerin Calixte empfindet tiefe Schuld für den Abfall des Vaters vom Glauben und erträgt die soziale Ächtung gleichsam als Sühneopfer für die Verfehlung des Vaters. Der wiederum wird vom Gottesleugner zum Tartuffe wider Willen: Er findet sich aus Liebe zu seiner Tochter zu einer Lebenslüge bereit und opfert seine innerste Überzeugung, dass Gott nicht existiert, einer Komödie, die er der geliebten Tochter vorspielt, indem er vorgibt, zum Glauben zurückgefunden zu haben und das Priesteramt wieder aufnehmen zu wollen.
Hier wird vorgeführt, wie Liebe mit Selbstvergottung verwechselt wird: Sombreval, der seinen Glauben an Gott verloren hat, macht sein Fleisch und Blut, nämlich sein Kind zu seinem Gott, während für Calixte die Liebe zum Vater und die Rettung von dessen Seele zum „ihr ganzes Leben beherrschenden Gedanken“ wird. Beide sind durch diese falsche Geisteshaltung dem Untergang geweiht und das Unglück nimmt seinen Lauf.
In diesem Roman sind die Mütter gestorben, es herrscht die Macht und Kontrolle der Väter. Eine Frauenfigur sticht heraus: die Malgaigne. Sie ist gottesfürchtig, aber keineswegs bigott, eher ein Freigeist. Anders als Calixte verkörpert sie das weibliche Prinzip der Hingabe ohne sich aufzuopfern. Ihre Aufforderung an Sombreval, er solle seinen Abfall von Gott bereuen und umkehren, lässt sich so deuten: Die Liebe zu Gott durch die Liebe zum eigenen Kind zu ersetzen, bringt die nächste Generation in eine Schuld, die zur Wiedergutmachung auffordert, jene zugleich aber den fehlgeleiteten Prozess fortsetzen lässt. Calixtes Anspruch, den Vater zu retten, zwingt diesen zur Lebenslüge, ihre grenzenlose Liebe zum Vater, für die sie zur Sühne heimlich das Gelübde als Karmeliterin ablegt, lässt aber umgekehrt in ihrem Herzen für nichts anderes Raum, sodass sie weitergibt, was sie selbst erfahren hat: emotionalen Missbrauch. Indem sie den jungen Neel gefühlsmäßig an sich bindet, ohne seine Hoffnung, von ihr geliebt zu werden, erfüllen zu können, wird in einer Kettenreaktion auch sein Glück beeinträchtigt sowie das seiner Verlobten, die ihn nicht aufgeben kann.
In diesem packenden Leseerlebnis wird ein Feuerwerk an Erzählkunst geboten: Weibliche wie männliche Protagonisten sind leuchtende Charaktere zwischen Verrücktheit und Entrücktheit, zuweilen gewinnt man den Eindruck, dass der Autor Figuren und Szenen mit heimlichem Vergnügen bewusst überzeichnet. Zwischen den Zeilen funkelt romantische Ironie.
Mit der Selbstvergottung des Menschen ist ein Thema an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter angerissen. Nicht nur in den Brüdern Karamasow hat Sigmund Freud Anregung für seine Vatermord-These als Ursünde der Menschheit gefunden, er war auch ein Leser von d’Aurevilly. Ein verheirateter Priester ist ein zu Unrecht vergessenes Werk, in dem die Widersprüche der Zeit zum Fundament von großer Literatur geworden sind, dorthin lassen sich die Fragen der Moderne zurückverfolgen, mit deren Antworten wir heute leben.
Letzte Änderung: 26.10.2021 | Erstellt am: 26.10.2021
Jules Barbey d’Aurevilly Ein verheirateter Priester
Aus dem Französischen übersetzt von Hermann Hofer
Matthes & Seitz, Reihe: Französische Bibliothek Bd. 8
Berlin, 2020
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