
In Reverso entfaltet Ankalina Dahlem ein faszinierendes Gewebe aus einundsiebzig Episoden, eingebettet in eine poetische Rahmenhandlung. Zwischen Traum und Wirklichkeit, Zartheit und Schmerz, führt sie ihre LeserInnen an die Grenze des Sagbaren – und darüber hinaus. Ein literarisches Wagnis voller Fantasie, Sprachkraft und seelischer Tiefe, findet Marco Zanetti.
Ankalina Dahlem studierte Malerei und Bildhauerei am Pasadena Art Center, an der Städelschule Frankfurt und an der Staatlichen Kunstakademie Karlsruhe. Nach ihrem Studium erhielt sie zahlreiche Stipendien. Sie lebt in Frankfurt am Main und London. Zuletzt ist von Ankalina Dahlem die Traumnovelle „Universe far“ (2019) in der Edition Faust erschienen. Die „Traumsequenzen“ von „Reverso“, ihrem vorliegenden, jüngsten Werk, werden umrahmt von einer Erzählung, die aufs trefflichste ebenso sehr den
Zusammenhang der einundsiebzig „short stories“ vor Augen führt, wie sie reichlich Raum lässt für Fantasie und eigene Assoziationen. Ist der Romantitel ein Hinweis, dass hier „dahinter geschaut“, auch die Kehrseiten des Lebens beleuchtet werden sollen? Oder wird angetönt, dass durch die Rahmenhandlung eine Geschichte rückwärts erzählt wird? Gekonnt lassen diejenigen Miniaturen, die aus männlicher Sicht verfasst sind, vergessen, dass wir uns soeben ins Buch einer Autorin versenken. Ein geglücktes Wagnis Dahlems, das im deutschsprachigen Raum seinesgleichen sucht. Mir ist keine andere Autorin mit so viel Fantasie und Vorstellungskraft bekannt, die diese dann noch in solch treffliche Wortbilder gießen kann. Doch, eine vielleicht: Die Schweizerin Helen Meier.
„My ideas of love weren’t as foolish as they seemed (…) And a good heart these days, it’s hard to find“, stellt Ankalina Dahlem als lyrisches Intro an den Beginn des Buches. „Please be gentle with this heart of mine“, würde ich gerne mit Feargal Sharkeys Worten ergänzen. Hören wir achtsam hin, erfahren wir demnach sehr schnell, worum es der feinfühligen und wortgewandten Dahlem vermutlich nicht nur im jüngsten Werk, sondern auch im persönlichen Leben geht: Das Staunen über die Schönheit im Kleinsten, Unscheinbarsten, das Aufblitzen von unerwarteter Herzlichkeit in Grenzsituationen, das Beschützen unserer Verletzlichkeit, der Essenz unserer Persönlichkeit und das Bewahren von Herzensgüte und Träumen in der Kälte der heutigen Welt. Und wie, um unsere Vermutung zu bestätigen, verwendet sie Novalis „Das Herz ist der Schlüssel zur Welt“ als weiteres Epigraph.
Dahlem lauscht und ruft, leidet und staunt wenig später voller Lebenslust. Alltägliches führt sie in Zeitloses und Zeitloses wird zu Mittler und Gleichnis für Menschliches und Allzumenschliches. Nichts ist gleichgültig, alles hat gleiche Gültigkeit, so zeichnet Dahlem einen weiten Erlebnis- und Sprachhorizont, mal sanftmütig, mal sprachspielerisch, dann wieder frivol, nachdenklich oder gar zutiefst erschüttert. Kein Stein bleibt auf dem anderen, bekannte Autoritäten haben ausgespielt. Zeugen von Offenheit, ohne auszuufern, klagen, ohne anzuklagen, weinen, ohne weinerlich zu klingen, sind überraschend, ohne provozieren zu müssen. Durch seine suggestive, traumbild- oder albtraumhafte Sprachwelt ergreift „Reverso“ die Lesenden an ihrer verletzlichsten Stelle, dem Unterbewusstsein.
Dahlem begibt sich jedoch nicht auf den gefährlichen Pfad lyrischer Redseligkeit, sondern weckt mit ihren ureigenen Bildern neue Bilder, mit ungewohnten Klängen neue Klänge, lässt all überall Orientierungssinnlichkeit aufflackern, ähnlich der zunächst paradoxen Aufforderung eines Schweizer Lyrikers: „wer ohren hat, zu sehen, rieche/ wer augen hat, zu riechen, höre/ wer nase hat, zu hören, sehe“.
„Reverso“ beschreibt und ver-dichtet die unerträglichen Grenzenlosigkeiten des Seins. Erzählt von Schmerz, Leidenschaft, Schönheit, Zeitlosigkeit, Schicksal, und dem Geheimnis des Du und des Ich in der all-täglichen Begegnung. Ankalina Dahlems jüngstes Werk bewegt sich in der oszillierenden Zwischenwelt der Hingabe an die Bewegung, auf einer Reise in die Ort- Zeit- und provisorische Heimatlosigkeit, einerseits vielleicht mit dem stillen Wunsch der Verewiglichung oder andrerseits dem rätselhaften Drang nach spurloser Auflösung. Atemlosigkeit, Erschöpfung, Panik, finden wir gleichermaßen, wie Versöhnung, Narben innerer Schlachten und die innige Umarmung zweier Liebender. „Reverso“ erfüllt im Entleeren, heilt im Verletzen, enthüllt im Verschlüsseln, besänftigt im Entsetzen. Dahlem wird zur Spurenleserin in den Wäldern der Zeit, zur Sternschnuppererin in den Prärien des Raums. Sie pflückt vom Geschichtenbaum des Kosmos. Frage den Wind, woher er kommt, wohin er geht. Er würde antworten: „Ich bin Wind.“ Dasselbe gefragt, würde Dahlem entgegnen: „Ich bin Mensch. Oder mit den Worten Hesses: „Ich bin zuweilen wie ein zarter Kuss, der Abschied weint und leise Liebe singt und bin dann wieder wie ein tiefer Fluss, der Tod bringt und wie Morgenröte klingt.“ Der Mensch ist sich eben die Glut in seinen Augen und gleichzeitig die Asche im Becher.
Die Autorin schreibt im Bewusstsein, dass nur Unlogisches überraschend ist, nur Überraschendes die Kraft birgt, zu verändern. Dahlems Bilderwelt ist nicht gefliest, auf Fliesen ginge keine Saat auf. Credo in vitam, quia absurdum est. Dahlem wagt sich zwischen Tag und Nacht hinaus aufs wogende Feld der Traumdeutung und hinterlässt uns im Grase ihre Spur. Wir sind eingeladen, ihr zu folgen. Der Lesende sei gewarnt, die Begegnung kann folgenschwer verlaufen. Möglicherweise ist dieses eigenwillige Buch gerade aus seiner arglosen Vision heraus stets augenzwinkernd ernsthaft, konkret relativierend, geheimnisvoll alltäglich. Zwischen den Zeilen geschieht fortwährend Sichtbarwerdung des Unsagbaren, Veranschaulichung des Unsäglichen. Hoffnung machen ist unverzeihlich, Hoffnung bewahren trotz alledem unverzichtbar. Zum Beispiel die Hoffnung, dass auf der Erde mehr Schafe im Wolfspelz als Wölfe im Schafspelz zu finden sind. Leise erzittert in Seelensärgen Ungeahntes.
Von Episode zu Episode schwingt sich mein Gefühlstango und gipfelt taumelnd im Erwachen der Erzählerin, die sich urplötzlich im Buch wiederfindet. (Was befindet sich zwischen dem Anfang vom Ende und dem Ende vom Anfang?) Der Lesende steht vor der Entscheidung, lodernd liegen zu bleiben, oder den Tanz von neuem entbrennen zu lassen. Versuche ich mich in einer Episode auch nur ein bisschen auszuruhen, wandelt unter den zuckenden Augenlidern bereits die Wortgewalt der darauffolgenden.
Die Hauptprotagonisten von „Am frühen Morgen“ erinnern mich an Romeo und Julia und ihr Schicksal. Nur in vertauschten Rollen und mit einem überraschenden Ausgang:
Am Vorabend hatte Paul, Fotograf und passionierter Taucher, erst Alva, eine wunderschöne, mysteriöse Malerin, kennen gelernt. Am nächsten Morgen findet er sie auf dem Meeresgrund. Paul beschliesst, tieftraurig, ebenfalls zu sterben. Doch hat sich Alva wirklich das Leben genommen?
In „Anton Hahn“ lesen wir von einem verwitweten Taxifahrer, der die auf den Rücksitzen vergessenen Habseligkeiten seiner Fahrgäste gut und gerne mal einfach für sich behält. Bis auf dieses eine Mal: Die rührenden Kurznachrichten im Handy einer zweifachen Mutter an ihren Liebhaber bewegen ihn dazu, das Gerät seiner Besitzerin zurückzubringen. Auf der Heimfahrt winkt ihn eine Kundschaft an den Strassenrand, mit der er niemals gerechnet hätte.
„Das grüne Reh“ vertraut sein Junges der im Wald schlafenden Ich-Erzählerin an. Wir erfahren nicht weshalb. Das Kitz vertraut dem Menschen und presst sich im herannahenden Gewitter an ihn. Werden die beiden die Gefahr überstehen? Die Ich-Erzählerin ist eine Auserwählte: „Mutter Natur“ vertraut ihr ihr Kostbarstes an. Sie selbst erlebt durch dieses Geschenk das erste Mal lange ersehnte Muttergefühle. Kann sie den Schatz vor der drohenden Zerstörung beschützen?
„Perfekt verpassen“ sich die Hauptprotagonisten von „Als er auf die Welt kam“.
Die „Königskinder“ können nicht zueinander finden, „das Wasser war zu tief“. Mit der Geburt ihrer Kinder mit je anderen Partnern, schienen ihre Träume aufzuhören, das „Buch der Sehnsucht verbrannte“. Der Lesende wird auf die Folter gespannt, ob diese besondere Liebesgeschichte doch noch glücklich ausgeht.
„Nach meiner Lesung“ erzählt vom Karriereknick einer berühmten Künstlerin und dem Unverständnis der plötzlich aufwogenden Verächtlichkeit der sie bis dato verehrenden Fangemeinde. Woher wird sie in Zukunft ihre Inspiration beziehen? Bringt die völlige Abwendung vom alten Leben, die Besinnung auf ihre innere Stimme die Authentizität und den Erfolg zurück?
Wir suchen alle Geborgenheit in der Gruppe. Dennoch das Vereinzelte, das andere überschauen, ist Dahlems Kompass, ihre poetische Vision, es ist ihr alltägliches Atmen, eine „Schau“ der Nüchternheit aller Dinge, wie sie sie liebt. Es sind Begegnungen mit Menschen, Fragen nach dem Geheimnis, das unser aller Ursprung ist, die sie aufwerfen und Antworten, die Dahlem in sanftesten Gesten, der Schaumkrone heranrollender Wellen, einer kleinen, stachligen Muschel auf der Rückbank („Den Kopf in den Wolken. Das gläserne Herz eingepackt in goldenen Sand. Ich werde dich finden in diesem Land.“) findet.
Uns Menschen verbinden ein Durst nach Freiheit und der sehnlichste Wunsch, unsern ureigenen Platz im Universum zu finden. Freiheit liegt im Loslassen, oft jedoch in tiefster Hingabe. Diese Freiheit kann nur in der Freiheit des eignen Wesens liegen, in der bodenlosen Abgründigkeit des Ich, im Staunen der persönlichen Grenzen, die zugleich wieder Grenzenlosigkeiten der individuellen Tiefe sind, verwurzelt in den Räumen des Universums.
Ist dieser Roman nun ein zarter Kolibri, ist es ein Raubvogel, der seine Fänge immer aufs Neue in unser Fleisch schlägt? Wohl beides. Wird das Licht heller, wird der Schatten deutlicher. Ängstigen wir uns dann vor den Schatten? Nein, wir wenden uns desto klarer dem Licht zu! Zutiefst im Leben geborgen, zweifelt Ankalina Dahlem plötzlich nicht mehr an der Dinge Magie und Kraft, denn jenseits von Gut und Böse erahnt sie einen Schimmer pures Glück.
„Reverso“ ist ein Erlebnis der aufwühlendsten Art, vereint in sich Glück, Schmerz und Geheimnis einer Geburt. Wohlan, stellen wir uns dieser Herausforderung. Es geht um Genuss und Bereicherung. Es ist eine grosse Unerwartetheit.
Mischto! Es ist und es ist nicht, doch wäre es nicht, würde es nicht erzählt.
Letzte Änderung: 13.06.2025 | Erstellt am: 13.06.2025
Reverso
Ankalina Dahlem
Roman in 71 Episoden
Gebunden, 176 Seiten, mit Zeichnungen der Autorin
ISBN 978-3-949774-24-9
September 2023
Edition Faust
24,00 €
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